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Menschenrechte oder "Gesetz des Dschungels"

Der "Krieg gegen den Terror" zeigt: Die Menschheit steht an einem Scheideweg

Von Heiko Kauffmann*

Am heutigen Menschenrechtstag 2002 laufen die Vorbereitungen der USA für einen Militärschlag gegen Irak auf Hochtouren. Die US-Regierung wünscht diesen Krieg. Die Mehrzahl der Staaten, auch der europäischen Regierungen, leisten kopflos Gefolgschaft, statt durch friedenspolitische Initiativen und scharfen Protest – wie er von Bundeskanzler Schröder nur im Wahlkampf zu hören war – das Szenario des Krieges zu stoppen und ihn zu verhindern.

Dieser Krieg wird die herrschende Weltordnung von Grund auf erschüttern und unwiderruflich ein neues Zeitalter der »pax americana« das heißt der »präventiven« Aggressionskriege unter US-Kommando begründen. Gleichzeitig setzt der amerikanische Präsident – im Bewusstsein seiner »hegemonialen« Überlegenheit und Stärke – der Staatengemeinschaft und den Vereinten Nationen die Pistole auf die Brust, um dem »Rest der Welt« mitzuteilen, nach wessen Regeln zukünftig gespielt wird, nach welchen Bedingungen globale Sicherheits- und Machtpolitik betrieben wird und zu wessen Vorteil und Nutzen globale Geschäfte und Wirtschaftsinteressen durchgesetzt werden. Dabei sollte, wer von anderen Staaten verlangt, sich internationalem Recht zu fügen, selbst der erste sein, der sich Völkerrechtsnormen unterordnet und dem Reglement der Friedensbewahrung durch die Vereinten Nationen beugt.

Im selektiven Handeln und in der Anwendung doppelter Standards bei den Menschenrechten wird eine Einstellung sichtbar, die für andere Menschen aus anderen Ländern oder anderer Herkunft nicht mehr – oder nur »unter Vorbehalt« – gelten lassen will, was die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, was die amerikanische Verfassung oder unser Grundgesetzt unter »Menschenwürde« verstehen und schützen.

Flüchtlingsschutz ist Antwort auf Terror

Der 11.September 2001 und der »Krieg gegen den Terror« markieren eine tiefe Zäsur für die Entwicklung von Völkerrecht und Menschenrechten. Vorgeblich, um Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu schützen, instrumentalisierten viele Regierungen – auch demokratisch verfasster Staaten – den Kampf gegen den Terror zu Angriffen auf Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Vergeblich mahnte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen die Staaten, die Opfer von Terror, das heißt Flüchtlinge, nicht mit den Tätern zu verwechseln. Massive Menschenrechtsverletzungen und die Terrorisierung ganzer Volksgruppen seien oftmals die Ursachen von Fluchtbewegungen: »Flüchtlingsschutz ist... auch eine Antwort der Zivilisation auf den Terror« – ebenso wie die UN-Charta, die Deklaration der Menschenrechte, die Menschenrechtskonventionen und das auf den Vereinten Nationen beruhende System kollektiver Sicherheit. Diese Elemente bilden die wichtigsten Pfeiler eines für alle Staaten – nach dem durch den deutschen Faschismus verursachten Zivilisationsbruch des vergangenen Jahrhunderts – verbindlichen Reglements internationaler Ordnung und gleichzeitig den wichtigsten Fortschritt der Bemühungen um die Zivilisierung der Staaten im Umgang miteinander. Auch diese Entwicklung wird durch die Instrumentalisierung des 11. September und des »Kriegs gegen den Terror« jäh unterbrochen: immer mehr Regierungen sind bereit, sich von den internationalen Regeln und völkerrechtlichen Verpflichtungen zu lösen, die sich die Menschheit nach ihrem tiefsten Fall 1945 zur Verhinderung von Kriegen und zur Bewahrung des Friedens gegeben hat.

Die bittere Lehre, dieser tiefste Fall in ihrer Geschichte, führte die Menschheit nach 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen. Dieser Beginn einer Global-Governance-Architektur, die Deklaration der Menschenrechte und die vielen anderen im 20. Jahrhundert verabschiedeten Pakte und Konventionen haben (völker)rechtlich und verbindlich für die Nationen und Staaten die Grundlagen und Voraussetzungen für einen friedlichen Umgang untereinander und für demokratische und soziale Lebensbedingungen für die Menschen geschaffen.

Mit der Gründung der Vereinten Nationen wurde also ein Instrument geschaffen, das allen Staaten einen allseits verbindlichen und gültigen Rechtsrahmen und gegenseitig akzeptierte Regeln zur Lösung von Konflikten, zur Erhaltung des Friedens und zur Wahrung der Menschenrechte gibt.

An Projekt kollektiver Sicherheit anknüpfen

Die Charta der Vereinten Nationen erhebt die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit zu dem wichtigsten Ziel der neuen Weltorganisation. Unter dem Eindruck des Scheiterns des Völkerbundes nach dem 1.Weltkrieg und angesichts der Katastrophe des 2.Weltkriegs mit all seinen Ursachen und Folgeerscheinungen – Rassismus, Holocaust, Vertreibung, Angriffskriege, Verletzung der Menschenrechte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – waren die Gründerstaaten der Vereinten Nationen zu der Auffassung gelangt, dass in Zukunft die einzelnen Staaten nur begrenzt ihrer überlieferten Aufgabe, für Sicherheit, Frieden und Menschenrechte zu sorgen, würden nachkommen können. Ein auf den Vereinten Nationen beruhendes System kollektiver Sicherheit sollte die Anwendung der Gewalt im Bereich internationaler Beziehungen verhindern helfen.

Wäre es nicht die vorrangige und höchste Aufgabe der demokratischen Führer der Welt, nach dem 11.September 2001 an das wichtigste und zentrale zivilisatorische Projekt der Menschheit nach 1945 zur Bewahrung des Friedens und zur Durchsetzung der Menschenrechte anzuknüpfen?!

Diese Errungenschaften und – wenn auch immer noch zu zaghaften – Fortschritte auf dem Weg in eine zivilisierte Welt der Staaten und Völker gilt es gerade angesichts neuer Gefahren und Gefährdungen in diesem jungen Jahrhundert zu intensivieren – entsprechend der Dimensionen der Herausforderungen durch Terrorismus, international agierende Mafia-Banden und Warlords. Mit anderen Worten: Gerade jetzt sind die Stärkung, die Weiterentwicklung und Fortschreibung verbesserter Instrumentarien zur Friedensbewahrung, des Völkerrechts und des Menschenrechtsschutzes unter dem Dach der Vereinten Nationen wichtiger als je zuvor.

Mit dem 11.September 2001 steht die Welt, die Staatengemeinschaft, die menschliche Zivilisation an einem Scheideweg. Festigt und intensiviert sie ihren Konsens zur Anerkennung des UN-Friedens-Reglements, des Völkerrechts und zur Durchsetzung des Menschenrechte in einer globalen Struktur unter dem Dach der Vereinten Nationen und bringt diese universalen Werte und zivilisatorischen Errungenschaften weltweit zur Geltung? Oder setzt sich die zynische Doppelmoral der Macht und Willkür des Stärkeren durch, der sich zwar auch auf Menschenrechte, Demokratie und Freiheit beruft, sie aber im Zweifelsfall nur für sich gelten lässt oder sie im Umgang mit anderen jederzeit missachtet, sofern sie eigenen Interessen im Wege stehen. Diese zweite Alternative bedeutet auf lange Sicht die Gefahr archaischer Kriege, des Verrats an der Freiheit und an den Menschenrechten, der Zerstörung der Zivilisation und des Beginns der absoluten Barbarei. »Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren«. (Benjamin Franklin). Die westliche Freiheit stirbt bereits an ihrer Doppelmoral: Sie stirbt im australischen Wüstenlager WOOMERA, wo auf Hilfe angewiesene Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert sind; sie stirbt auf Guantanamo, wo die Taliban-Gefangenen unter Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht in absoluter Isolation gehalten werden; sie stirbt an den Küsten des Mittelmeers, wo die Hoffnung vieler Menschen auf Demokratie und Menschenrechte in Qualen ertrank; aber die Freiheit stirbt auch in den Abschiebehaftanstalten in Deutschland, wo Flüchtlinge, die nichts Strafbares begangen haben, wie Kriminelle inhaftiert werden. Der von der Regierung der USA nach dem mörderischen Terroranschlag des 11.September begonnene »Krieg gegen den Terror«, der zudem weit in die Zukunft reichen und sich gegen eine ganze »Achse des Bösen« richten soll, die jederzeit beliebig um neue »Schurkenstaaten« erweitert werden kann, wirft alle mühsam und beharrlich entwickelten zivilisatorischen Errungenschaften des UN-Reglements über Bord. Ebenso schlägt er die strengen Auflagen und Voraussetzungen der UN-Charta für die (legitime) Anwendung von Waffengewalt (im Verteidigungsfall) in den Wind. Wer mit dem »Krieg gegen den Terror« beginnt, hat den »Krieg gegen die Armut« bereits verloren.

Rückfall in das alte »ius ad bellum«

Der »Krieg gegen den Terror« ist, was seine Folgen und Wirkungen auf Völkerrecht und Menschenrechte betrifft, der perfideste Ausdruck der Missachtung aller Lehren, Erkenntnisse und Regeln und der Vision des Friedens in einer solidarischen und gerechten Gesellschaft, die zu erreichen die Menschheit und die Staatengemeinschaft nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, der Diktaturen und des Zivilisationsbruchs im Holocaust bestrebt und entschlossen waren.

Es handelt sich um den Rückfall in das arrogante und selbstgefällige »ius ad bellum« vergangener Epochen, auf die anarchische Vorkriegsära des 20.Jahrhunderts – allerdings auf ungleich höherem Risiko- und Gefahrenniveau, entsprechend dem heutigen Standard der Zerstörungskräfte. Jeder Krieg, wie immer er gerechtfertigt wird gleich, ob im Namen von »Freiheit« oder »Humanität« als »humanitäre Intervention« oder »zur Verteidigung unserer Werte« geführt, erscheint heute als mehr denn eine völlige Bankrotterklärung der Politik, sondern wegen seines Potenzials des »Overkill« und der Massenvernichtung als gänzlich irrational und überholt.

Krieg selbst ist heute die »exzessivste Form von Terrorismus« (Daniela Dahn), der den selbstmandatierten »Warlords« ohne eine wirksame Hemmschwelle und Sanktionsinstanz wie den Vereinten Nationen jederzeit entgleiten und sich zu einem weltweiten unlöschbaren Flächenbrand ausweiten kann.

Wenn es der Politik heute wirklich um die universelle Durchsetzung individueller Menschenrechte, um den Vorrang der Menschenrechte vor staatlicher Macht geht, dann müssen alle Bemühungen darauf gerichtet sein, die international bereits fixierten Völkerrechtsabkommen und Konventionen zur vollen Entfaltung zu bringen und durch weitere Instrumente ein verbindliches Reglement im Rahmen einer internationalen Menschenrechts- und Völkerrechtsordnung zu schaffen: die Individual-Beschwerde, internationale Berichterstattung, Überprüfung der Umsetzung.

Wenn nicht bald Weichenstellungen erfolgen, welche die Menschheit und die Staatengemeinschaft aus der globalen Apartheid herausführen, die Auslieferung der Ressourcen der Welt an die ungebremsten »Gesetze« des Marktes beenden und die Einteilung der Menschen nach zweierlei Maß überwinden, droht ein neues Jahrhundert der Flüchtlinge und der Barbarei, das die Kriege und den Terror des 20.Jahrhunderts noch in den Schatten stellen könnte. Das Vermächtnis der Opfer der Kriege und Verbrechen des 20.Jahrhunderts, aber auch das Andenken der Menschen, die am 11.September 2001 verbrecherischem Terror zum Opfer fielen, verlangt nichts Größeres und Schwereres von uns, als dafür zu kämpfen, dass ihre Kinder und die Kinder dieser Erde in einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens leben können.

Parteiendemokratie beugt sich »Sachzwängen«

Die Ereignisse nach dem 11.September bestätigen erneut die Notwendigkeit eines zivilgesellschaftlichen Gegengewichts. Die Parteiendemokratie ist nur noch sehr begrenzt in der Lage die (Überlebens)Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Eine Politik der Nachhaltigkeit, die auch zukünftige Generationen im Blick hat, ist nicht in Sicht. Stattdessen hat sich die Politik den »Sachzwängen« der neoliberalen Globalisierung, der Militarisierung der Außenpolitik und den Hegemonialbestrebungen der USA weitestgehend gebeugt. Deshalb ist eine deutliche Artikulation und Beteiligung zivilgesellschaftlicher Kräfte in einem solchen Diskurs dringend erforderlich.

Gerade weil sich die politische Klasse hinsichtlich friedenspolitischer Alternativen für Europa und der Alternativen bei allen wesentlichen Zukunftsanliegen in Schweigen hüllt oder so gut wie nicht in Erscheinung tritt, sind hier die Kräfte der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen stärker denn je gefragt, ein Gegengewicht zur Parteiendemokratie zu bilden und als partizipierende politische Kraft sichtbar zu machen. Wir benötigen kein neues Zeitalter von Hegemonialmächten, auch kein Jahrhundert der US-Hegemonie, sondern Weichenstellungen für ein Jahrhundert der Menschenrechte. Wir benötigen keine Kriegs- sondern Friedensstrategien; nicht Ausgrenzung, sondern Integration; nicht Ausschluss, sondern Beteiligung und Teilhabe. Alles andere wäre ein Verrat an der Freiheit und an den Menschenrechten! Deshalb: die Zivilgesellschaft ist gefordert, stärker denn je, nicht mehr nur Bittsteller bei den Sachwaltern einer kleinmütigen »Realpolitik« zu sein, sondern Wegweiser und Markierer, kraftvoll, glaubwürdig und hartnäckig in Richtung Menschenrechte: Menschenwärts!

* Heiko Kauffmann war jahrelang Sprecher der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und ist jetzt Mitglied des Vorstandes. Gemeinsam mit dem Physiker Hans-Peter Dürr, dem Friedensforscher Mohssen Massarrat und dem Geschäftsführer der Ärzte gegen Atomkrieg IPPNW, Frank Uhe initiierte er die »Koalition für Leben und Frieden« und führte den öffentlichen Streit mit 60 Wissenschaftlern des Instituts for American Values, die in einem Manifest die Bush-Doktrin des »Krieges gegen den Terror« unterstützt hatten.

Aus: Neues Deutschland, 10. Dezember 2002



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