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Staatliche Grundrechtsverweigerung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern

Grundrechte-Report 2012 in Karlsruhe vorgestellt. Pressemitteilung der herausgeber und mehrere Artikel


Grundrechte-Report 2012 in Karlsruhe vorgestellt

Gemeinsame Pressemitteilung zur Vorstellung des GRUNDRECHTE-REPORTs 2012 von Humanistische Union vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative * Komitee für Grundrechte und Demokratie * Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen * PRO ASYL * Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein * Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen * Internationale Liga für Menschenrechte * Neue Richtervereinigung

In Karlsruhe stellen heute acht Bürger- und Menschenrechtsgruppen den Grundrechte-Report 2012 vor. Der jährlich erscheinende Bericht zur Lage der Bürger- und Menschenrechte wird in diesem Jahr von der früheren Bundesjustizministerin, Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, präsentiert. Sie zeigte sich angesichts der zahlreich dokumentierten Grundrechtsverletzungen besorgt über die Verfassungs- und Menschenrechtswirklichkeit in Deutschland:

"Der Graben zwischen den Menschenrechtsversprechen und dem Alltag vieler Menschen kann auch in Deutschland durchaus breit sein, allen Verpflichtungen aus dem Grundgesetz und allen Bemühungen von Gesetzgeber, Behörden und Gerichten zum Trotz. Der Grundrechte-Report der deutschen Menschenrechtsorganisationen hilft nicht nur dabei, den Graben zu vermessen, sondern auch, ihn zu schließen. Das ist sein großes Verdienst."

Als Betroffene berichtete Julia Kümmel. Sie hatte vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich das Versammlungsverbot angefochten, das die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport qua Hausverbot für den Flughafen "verordnet" hatte. Im diesjährigen Report berichtet Rainer Deppe darüber. Der Grundrechte-Report 2012 zeigt einmal mehr: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird immer wieder infrage gestellt - sei es durch die Privatisierung öffentlicher Räume, sei es durch seine komplette Suspendierung, wie aktuell von der Stadt Frankfurt in der letzten Woche praktiziert. Im Flughafen sollte damals gegen Abschiebungen protestiert werden. Die skandalöse Abschiebpraxis, wie das Ausländer- und Asylrecht überhaupt, sind - neben vielen anderen - Themen des aktuellen Reports.

Mit Blick auf die überragende Bedeutung der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit bringen die Herausgeber ihre Empörung über die Demonstrationsverbote gegen die "Blockupy-Bewegung" zum Ausdruck. "Das unverhältnismäßige Agieren der Behörden - insbesondere das totale Versammlungsverbot bis vergangenen Samstag in Frankfurt - ist ein Keulenschlag gegen das Versammlungsrecht", erklärte Ulrich Engelfried als Vertreter der Neuen Richtervereinigung im Herausgebergremium. "Das zeigt die Tendenz staatlicher Stellen, Menschen- und Grundrechte zu ignorieren, ja auch aggressiv zu hintertreiben. Und dies gilt nicht nur für das Versammlungsrecht, sondern beispielsweise auch in vielen Bereichen der Leistungsverwaltung. Wir müssen heute eher eine Leistungsverweigerungsverwaltung des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern konstatieren." Auch dazu finden sich im Report eindrückliche Belege.

Der Grundrechte-Report wird einmal jährlich von der Humanistischen Union, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung herausgegeben.

Der Report erscheint in diesem Jahr bereits in der 16. Ausgabe.

Grundrechte-Report 2012 - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Herausgeber: T. Müller-Heidelberg, E. Steven, M. Pelzer, M. Heiming, H. Fechner, R. Gössner, U. Engelfried und M. Küster. Preis € 10,99; 234 Seiten; ISBN 978-3-596-19422-3; Fischer Taschenbuch Verlag; Juni 2012



Empörung über Demonstrationsverbote

Ehemalige Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin stellt Grundrechtereport in Karlsruhe vor *

Acht Bürger- und Menschenrechtsgruppen haben am Montag in Karlsruhe den Grundrechtereport 2012 vorgestellt. Der jährlich erscheinende Bericht wurde in diesem Jahr von Herta Däubler-Gmelin, präsentiert. Die frühere Bundesjustizministerin und SPD-Politikerin forderte einen besseren Schutz der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Grundrechte in Deutschland. Ohne Einhaltung der im UN-Sozialpakt festgelegten Regeln könnten sich die Freiheitsrechte »nicht entfalten«, sagte Däubler-Gmelin vor Journalisten.

Däubler-Gmelin verwies darauf, daß die Bundesrepublik von den Vereinten Nationen 2011 zur Einhaltung des UN-Sozialpakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ermahnt wurde. So könne etwa die Pflicht von Hartz-IV-Empfängern, jegliche Arbeit anzunehmen, als menschenrechtswidrige »Zwangsarbeit« gewertet werden, sagte Däubler-Gmelin. Sie verwies zudem auf Verstöße gegen das Recht auf Gesundheit und Bildung: Illegale Einwanderer würden bei Krankheit nicht behandelt und ihre Kinder bekämen keinen freien Zugang zur Schulbildung.

Als von der Einschränkung von Grundrechten Betroffene berichtete Julia Kümmel. Sie hatte vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich das Versammlungsverbot angefochten, das die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport qua Hausverbot für den Flughafen »verordnet« hatte. Dort sollte damals gegen Abschiebungen protestiert werden.

Der 1997 erstmals erschienene Grundrechtereport wird von den Initiatoren als »alternativer Verfassungsschutzbericht« verstanden. Weitere Schwerpunkte des diesjährigen Berichts sind die Freiheit im Internet etwa mit Blick auf das Netzwerk Facebook und das Sammeln von Daten in der Wirtschaft. Der Medienrechtler Phillip Hofmann bezeichnet Facebook als »Datenkrake«, die nahezu vollständige Sozialprofile von seinen Nutzern erstellt. Klicke ein nicht bei Facebook registrierter Nutzer auf irgendeiner Internetseite auf einen Facebook- »Gefällt mir«-Button, würden seine Wege danach im Internet 90 Tage verfolgt und die Daten für ein späteres Profil gesammelt.

Der frühere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer warnt mit Blick darauf vor der zunehmenden »Datensammelwut« privater Unternehmen. Hassemer fordert deshalb, das Konzept der informationellen Selbstbestimmung weiter zu entwickeln und den Verbraucherschutz zu stärken. Bürger müßten wirksamer vor »fremder Überwachung, Ausspähung und Ausbeutung geschützt werden, weil sie immer weniger verstehen könnten, was mit ihnen geschieht«.

Die Herausgeber des Reports zeigten sich zudem empört über die Demonstrationsverbote gegen die bankenkritische Blockupy-Bewegung am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main. Das Verbot belege »die Tendenz staatlicher Stellen, Menschen- und Grundrechte zu ignorieren«, erklärte Ulrich Engelfried von der Neuen Richtervereinigung. Dies gelte »nicht nur für das Versammlungsrecht, sondern beispielsweise auch in vielen Bereichen der Leistungsverwaltung«, fügte Engelfried hinzu. Man müsse heute »eher eine Leistungsverweigerungsverwaltung des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern konstatieren«. Auch dazu finden sich in dem Dokument eindrückliche Belege.

Der Grundrechtereport wird einmal jährlich von der Humanistischen Union, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung herausgegeben. Er erscheint in diesem Jahr bereits in der 16. Ausgabe. (jW/AFP)

* Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012


Hausverbot wegen Abschiebeprotest

Grundrechtereport konstatiert Beschränkungen der Versammlungsfreiheit

Von Ulrike Gramann, Karlsruhe **


Der diesjährige Grundrechtereport zeichnet kein gutes Bild der Menschenrechtslage in Deutschland. Während soziale Sicherheit abgebaut wird, nehmen staatliche Überwachungsmaßnahmen zu.

»Der Graben zwischen den Menschenrechtsversprechen und dem Alltag vieler Menschen kann auch in Deutschland durchaus breit sein«, stellte die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) fest, die gestern in Karlsruhe den Grundrechtereport präsentierte. Dieser sogenannte alternative Verfassungsschutzbericht wird jährlich von Bürgerrechtsorganisationen wie dem Komitee für Grundrechte und Demokratie und der Humanistischen Union herausgegeben. Er schildert den Zustand der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland.

Däubler-Gmelin legte den Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, ohne die sich auch die Freiheitsrechte nicht entfalten können. Sie wahrzunehmen verlange ein gewisses Maß sozialer Sicherheit. So kollidiere das Gebot der Hartz-IV-Gesetze, jede Arbeit anzunehmen, mit dem Verbot der Zwangsarbeit im Grundgesetz.

Aus dem Report zitierte Däubler-Gmelin, dass eine 87 Jahre alte Frau als Notfall ins Krankenhaus kam und dort trotz ärztlicher Bemühungen starb. Die Krankenkasse verweigerte die Kostenerstattung mit dem Argument, man habe medizinisch nichts mehr für sie tun können. Das Sozialgericht Hannover, vom Krankenhausträger eingeschaltet, bezeichnete diese Haltung als »kalte Euthanasie«. Allein in Bayern lägen 1400 Fälle vor, in denen Krankenhausträger vor einem ähnlichen Hintergrund gegen Kassen klagen mussten. Däubler-Gmelin warnte vor der »schleichenden Ökonomisierung« des Gesundheitssystems.

Mitherausgeber Ulrich Engelfried, Richter am Amtsgericht Hamburg, erklärte, im Asyl- und Sozialrecht mutierten die Leistungsträger vielfach zu »Leistungsverweigerungsverwaltern«.

Breiten Raum nehmen im Report die Themen Freiheit im Netz, informationelle Selbstbestimmung und Versammlungsrecht ein. Für 2011 wird von schwerwiegenden Beschränkungen der Versammlungsfreiheit berichtet, etwa durch Videoüberwachung mit Polizeidrohnen oder durch die Erfassung von Handydaten durch Funkzellenabfrage. So wurden in Dresden im Umfeld des Protestes gegen die Neonazi-Demonstration am 19. Februar 2011 über eine Million Handydaten erfasst, darunter auch Daten Unbeteiligter. Wer im Umfeld einer Versammlung nicht in eine Rasterung der Mobilfunkteilnehmer geraten wolle, müsse fernbleiben oder das Handy ausschalten und damit auf das Recht auf Telekommunikationsfreiheit verzichten, monierten die Bürgerrechtler. Versammlungsfreiheit heiße aber auch, sich angstfrei dazu entschließen zu können. Als Betroffene berichtete Julia Kümmel vom Aktionsbündnis gegen Abschiebung Rhein-Main. Weil sie Piloten und Fluggäste über bevorstehende Abschiebungen informierte, erteilte ihr die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport Hausverbot, das von mehreren Gerichten bestätigt wurde. Vor dem Bundesverfassungsgericht hatte sie schließlich Erfolg.

Das Thema Versammlungsfreiheit bleibt laut Ulrich Engelfried auch im Folgebericht 2013 präsent. Die Versammlungsverbote gegen die Blockupy-Demonstration in Frankfurt am Main zeigten die Tendenz staatlicher Stellen, Menschen und Grundrechte zu ignorieren und aggressiv zu hintertreiben.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Mai 2012


"Ein Keulenschlag gegen das Versammlungsrecht"

Das Demonstrationsverbot der Stadt Frankfurt ist nur ein Beispiel dafür, wie Grundrechte mit Füßen getreten werden. Gespräch mit Ulrich Engelfried ***

Ulrich Engelfried ist Richter am Amtsgericht Hamburg-Barmbek und hat am Montag als Vertreter der Neuen Richtervereinigung in Karlsruhe den neuen Grundrechtereport vorgestellt.

Acht Bürger- und Menschenrechtsgruppen, darunter die Neue Richtervereinigung, haben am Montag den Grundrechtereport 2012 vorgestellt. Vergangene Woche haben wir erlebt, wie in Frankfurt am Main anläßlich der »Blockupy«-Proteste die Grundrechte von Demonstranten massiv eingeschränkt wurden. Ist der Eindruck richtig, daß die angerufenen Gerichte nichts dagegen einzuwenden haben?

Nein, in dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Bisher gibt es nur eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es hat aus formalen Gründen abgelehnt, die Versammlungsverbote aufzuheben. Die Richter begründeten das so, sie könnten die von der Stadt Frankfurt vorgebrachten Bedenken zur Sicherheitslage in der Eile nicht mehr umfassend prüfen. In einer Hauptsacheverhandlung wird man sich damit noch auseinandersetzen.

Das Gericht wird also möglicherweise das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit erst dann bestätigen, wenn es niemandem mehr nützt?

Da haben Sie recht. Die Verantwortung hierfür sehe ich allerdings hauptsächlich bei den Ordnungsbehörden und der Polizei, die das Gefahrenszenario aufgebauscht haben.

Viele Demonstranten der »Blockupy«-Bewegung beurteilten das Verbot der Aktionstage als obrigkeitsstaatliche Bevormundung. Wie sehen Sie das?

Daß die Behörden bis Samstag in Frankfurt eine demonstrationsfreie Zone einrichten wollten, ist ein Keulenschlag gegen das Versammlungsrecht. Das zeigt die Tendenz staatlicher Stellen, Menschen- und Grundrechte zu ignorieren, ja sogar aggressiv zu hintertreiben.

Es gehe zu weit, daß die Banken und die Finanzindustrie bestimmen können, inwieweit die Meinungsfreiheit noch gilt, hieß es bei der Demo. Können Sie das nachvollziehen?

Ich nehme es nicht so wahr, daß der heiße Draht der Banken unmittelbar in die Bereiche der Exekutive geht. Ich meine aber schon, es spielt bei der Entscheidung der Gerichte eine Rolle, daß hier möglicherweise die Banken hätten letztlich betroffen sein können.

Also Klassenjustiz ...?

Nein, das Problem ist, wie schwerwiegend die Behörden die Gefahrenlage darstellen. Dem Gericht bleiben kaum noch Chancen, das in einem Eilverfahren zu prüfen.

Enthält Ihr Report weitere Beispiele dafür, wie Behörden versuchen, Grundrechte zu ignorieren?

Die meisten geschilderten Fälle betreffen die Mißachtung der geltenden Versammlungsfreiheit. Beispielsweise hat ein Gericht in Hamburg eine Einkesselung von Demonstranten im nachhinein für rechtswidrig erachtet – in der Situation selber hilft es nicht. Weiterhin gibt es Urteile, die das Filmen durch sogenannte Polizeireporter während einer Versammlung untersagen. Aber auch hier gilt: In der aktuellen Situation selbst kann man das leider nicht verhindern. Im nachhinein wird zwar festgestellt, daß es rechtswidrig war, aber es bleibt letztlich folgenlos. Persönliche Daten müssen dann zwar wieder gelöscht werden, aber eine Garantie dafür gibt es nicht. Die Polizei verstößt so immer wieder gegen geltende Rechtsvorgaben.

Und was tut man dagegen, wenn die Polizei sich einen Dreck um Gesetze kümmert?

Zunächst müssen all diese Rechtsverstöße immer wieder öffentlich gemacht werden. Und trotz der geschilderten Probleme ist es wichtig, den Rechtsweg zu beschreiten. Es gilt, an die Innenministerien der Bundesländer zu appellieren, generell zu entscheiden, daß die Einkesselung unterbleibt und daß Demonstranten von Polizisten nicht mehr gefilmt werden dürfen. Deshalb müssen Initiativen und Organisationen den Druck verstärken.

Interview: Gitta Düperthal

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012


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