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"Wer stoppt den sicherheitsextremistischen Wahnsinn?"

Die Zukunft der Bürgerrechte. Eine ungehaltene Wahlkampfrede

Von Rolf Gössner*

Im Wahlkampf scheinen Bürgerrechte kaum der Rede wert – stattdessen gibt es einen wahren Wettbewerb um Vorschläge für deren Aushöhlung. Insbesondere Günter Beckstein, der Möchte-gern-Bundesinnenminister der CDU/CSU, und der noch Amtierende Sozialdemokrat Otto Schily schaukeln sich immer wieder gegenseitig hoch mit ihren extremistischen Forderungen. Einsatz der Bundeswehr im Innern – das heißt: auf Krieg gedrillte Soldaten als Hilfspolizisten; Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten – also eine Machtkonzentration, die kaum noch kontrollierbar sein wird; präventive Sicherungshaft für „gefährliche“ Personen – letztlich eine Maßnahme aus dem Arsenal von Diktaturen; verstärkte Videoüberwachung im öffentlichen Raum, obwohl damit allenfalls Sicherheit vorgetäuscht würde ...

Angesichts der Terrorgefahr scheinen allzu viele diesen unhaltbaren Sicherheitsversprechen Glauben zu schenken. „Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei“ – ein Motto, das drohend über dem Niedergang der Bürgerrechte schwebt. Die Deutschen gelten als ängstliches Volk mit einem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis. Schon seit längerem erleben wir einen Niedergang ihres „Sicherheitsgefühls“. Doch Angstgefühle und reale Sicherheitslage fallen weit auseinander – denn Deutschland zählt bekanntlich zu den sichersten Ländern der Welt. Trotzdem gilt das „Sicherheitsgefühl“ als Gradmesser der herrschenden Sicherheitspolitik, an dem kein Politiker und keine Partei glaubt vorbeizukommen, wenn sie denn gewählt werden wollen. Allzu oft tritt massenmediale Emotion an die Stelle von Vernunft – insbesondere nach spektakulären Kriminalfällen oder Gewaltakten. So wird der in weiten Teilen der Bevölkerung ohnehin vorhandene Hang zu einfachen und autoritären „Lösungen“ verstärkt; ständig werden wir mit Gesetzesverschärfungen und Aufrüstungsmaßnahmen konfrontiert – eine staatsgewaltige Spirale ohne Ende, doch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung lässt sich auch damit allenfalls kurzzeitig besänftigen. Gleichwohl ist eine erkleckliche Mehrheit der Bevölkerung allzu leicht bereit, für vermeintlich mehr Sicherheit treuherzig eigene Freiheitsrechte zu opfern – nach dem schlichten Motto: “Ich hab’ ja nichts zu verbergen.”

Vor dem massenmedial inszenierten Schreckensbild vom „Tatort Deutschland“ haben politische Hardliner aller Couleur schon in den 90er Jahren eine populistische „Sicherheitspolitik“ betrieben – eine Politik, die nicht nur den aufgeputschten bürgerlichen Angsthaushalt bediente, sondern gleich auch die passenden Feindbilder und Sündenböcke präsentierte. Waren es früher „Kommunisten“, später „Linksextremisten“, Terroristen und ihre Sympathisanten, so gelten seit den 90er Jahren als Bedrohungspotentiale vor allem „Organisierte Kriminelle“ und „kriminelle Ausländer“; aber auch „Asylanten“, Punks, Drogenabhängige, aggressive Bettler und Obdachlose – einfach Fremde, Ausgegrenzte und unliebsame Minderheiten, denen auch weite Teile der Bevölkerung mit Argwohn begegnen. Inzwischen, nach dem 11.9.2001, sind „islamistische Extremisten“ und der „internationale Terrorismus“ hinzugekommen. Solche Bedrohungsszenarien dienen als publikumswirksame Legitimationen für weitere staatliche Nachrüstungsmaßnahmen – obwohl an ihrer Effizienz zu zweifeln ist. Demgegenüber ist von einer Bekämpfung der Ursachen und Bedingungen von Kriminalität, Gewalt und Konflikten kaum noch die Rede.

Menschenrechte in Zeiten des Terrors – ein wahrlich finsteres Kapitel: Der „Antiterror-Krieg“ nach dem 11. September 2001 hat nicht nur außenpolitisch eine Periode des permanenten „Ausnahmezustands“ eingeläutet, sondern auch im Inneren der westlichen Demokratien. Wir sind Zeugen einer Demontage hergebrachter Standards des Völkerrechts, der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien – vieler zivilisatorischer Errungenschaften also, die über Jahrhunderte mühsam, unter schweren Opfern erkämpft worden sind. Als Reaktion auf den Terror sind hierzulande die umfangreichsten „Sicherheitsgesetze“ in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte in Kraft gesetzt worden – mit zahlreichen Befugniserweiterungen für Polizei und Geheimdienste.

Nur ein Beispiel: Künftig werden biometrische Daten wie digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke in die Ausweispapiere aller Einwohner aufgenommen und auf Chips gespeichert. Alle, die künftig einen Ausweis beantragen, werden also biometrisch vermessen – müssen sich behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle für eine Erkennungsdienstliche Behandlung. Eine grandiose Misstrauenserklärung an die Bevölkerung, die den Menschen zum bloßen Objekt staatlicher Sicherheitspolitik degradiert.

Da wird uns das Lachen noch vergehen, denn ein solches wird auf den Digitalfotos verboten sein – offene Münder oder blitzende Zähne könnten nämlich die Scanner irritieren. Lediglich ein leichtes Grinsen mit geschlossenen Lippen und bei ansonsten neutralem Gesichtsausdruck wird noch statthaft sein.

Die meisten Gesetzesverschärfungen taugen nur wenig zur Bekämpfung eines religiös-aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors; sie schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte um so mehr. Mit den sogenannten Otto-Katalogen des Herrn Schily hat sich ein Trend fortgesetzt, der schon längere Zeit zu beobachten ist: nämlich die Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft. Die meisten Antiterrormaßnahmen folgen einer Präventionsstrategie, die allmählich jedes Maß übersteigt: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert in dieser Sicherheitskonzeption ihre machtbegrenzende Funktion. Der Mensch wird zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss – ein paar Brocken arabisch und ein Rucksack, wie kürzlich in Hamburg, können Menschen schon in eine solche Situation bringen. Und die „Sicherheit“ wird zum Supergrundrecht, das die tatsächlichen Grundrechte der Bürger in den Schatten stellt.

Doch in schwieriger Zeit scheint alles erlaubt, was angeblich nützt. Seit den Terroranschlägen vom 11.09. scheint es keine Tabus mehr zu geben. So können seit kurzem auf Befehl des Verteidigungsministers gekaperte Passagierflugzeuge durch das Militär präventiv abgeschossen werden, um mögliche Anschläge aus der Luft zu verhindern – eine staatliche Lizenz zum gezielten Töten. Längst sind auch hierzulande rechtsstaatliche Dämme geborsten, bürgerrechtliche Tabus gebrochen. Wo soll das alles enden? Wer stoppt den sicherheitsextremistischen Wahnsinn?

Die Antwort: Weder eine schwarz-gelbe noch eine rot-grüne Koalition – und genau hier liegt das Problem der anstehenden Wahl. Aus Bürgerrechtssicht müssen wir vor Schily und seinem „3. Otto-Katalog“ ebenso warnen wie vor Becksteins „Folterinstrumenten“. Oder glaubt jemand tatsächlich, das seien alles nur wahltaktische Extremforderungen, die mit den Grünen oder der FDP als Juniorpartner nicht durchzusetzen wären? Nein, mit der FDP war unter Kohl & Kanther so ziemlich alles möglich. Sie hat ihren Ruf als Bürgerrechtspartei schon damals ramponiert. Und auch nach sieben Jahren grüner Regierungsbeteiligung müssen wir erkennen, dass sich der kleine Grüne dem Zuchtmeister Otto Schily und der großen SPDDomina besonders tief beugen musste und oft genug gebeugt hat. Letztlich hat Rot-grün bereits Becksteinsche Politik betrieben – worunter viele Grüne enorm gelitten haben. Sie hatten in der Regierung einen Ruf zu verlieren: den, eine Bürgerrechtspartei zu sein. Jetzt sind sie ihn erst mal los, ohne es selbst wahrhaben zu wollen.

Eines dürfte feststehen: Weder in einer hochtechnisierten Risikogesellschaften, in der wir leben, noch in einer liberalen und offenen Demokratie kann es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben. Unhaltbare Sicherheitsversprechen und das Streben nach totaler Sicherheit bergen vielmehr totalitäre Züge. Sie können zerstören, was sie zu schützen vorgeben: nämlich die Freiheit. Die Frage stellt sich wirklich: Könnte es nicht sein, dass die sicherheitspolitischen Reaktionen auf die Terroranschläge weit größeren, nachhaltigeren Schaden an Demokratie und Freiheit anrichten, als es die Anschläge selbst vermochten?

Eine liberale und demokratische Gesellschaft und ein ebensolcher Rechtsstaat dürfen sich deshalb nicht allein auf Symptome des Terrors und auf polizeiliche, geheimdienstliche oder gar militärische Antiterror-Reaktionen konzentrieren. Wir brauchen stattdessen einen umfassenderen Sicherheitsbegriff, der auch an den Ursachen und Bedingungen von Terror und Gewalt ansetzt. Es geht um politische Lösungsansätze, um Aufklärung, kluge Entwicklungshilfe- und Außenpolitik. Wir müssen aber unseren Blick auch über Parlament, Partei- und Regierungspolitik hinausrichten auf eine sich formierende außerparlamentarische Opposition. Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verteidigung und Inanspruchnahme elementarer Freiheits- und Bürgerrechte – und damit eben auch um die Aktionsbedingungen von nationalen und internationalen Protest- und Widerstandsbewegungen, die für eine andere, für eine gerechtere Welt kämpfen. Und nur eine solche Welt kann sowohl dem internationalen Terror als auch dem staatlichen Gegenterror den Nährboden entziehen.

* Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte

Bei dem Text handelt es sich um ein Manuskript, das vom Westdeutschen Rundfunk (WDR 3 Kultur) im Rahmen der Sendereihe "Ungehaltene Wahlkampfreden" am 15. September 2005 ausgestrahlt wurde.
Dem Autor danken wir für die freundliche Überlassung des Textes.



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