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Arroganz, Schönfärberei

Die Bundesregierung berichtete der UNO über die Menschenrechtssituation auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet

Von Arnold Schölzel *

Am 14. Februar übermittelte die Bundesregierung zum fünften Mal einen Bericht an den UN-Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nach Genf. Das Gremium überwacht die Erfüllung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte jedes Menschen (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights – ICESCR) aus dem Jahr 1966. Der Tenor des deutschen Berichtes, mit dem auf die Empfehlungen des Ausschusses aus dem Jahr 2001 zum damaligen Bericht geantwortet wurde, war bestimmt von Arroganz und Schönfärberei: In der Bundesrepublik herrschen paradiesische Zustände, Änderungsbedarf besteht nicht. Der Ausschuß war z.B. besorgt über die geringe deutsche Entwicklungshilfe? Die steigt in Zukunft unaufhörlich. Asylbewerbungen dauern in der Bundesrepublik »erheblich zu lang«? Stimmt nicht, aus der Dauer erwachsen Asylbewerbern keine Nachteile, sie erhalten staatliche Leistungen.

Zu diesen in Diplomatensprache verpackten Schnoddrigkeiten läßt sich allerhand sagen, erst recht zu heutigen Mißständen. Einige deutsche Organisationen – darunter die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V (GBM) –, die in Genf Parallelberichte einreichten, taten das (siehe die Erklärung der GBM, junge Welt vom 27. März). So setzte sich die GBM z.B. kritisch mit der Zumutbarkeitsregelung der Hartz-IV-Gesetzgebung auseinander, d.h. mit der These, daß alle Leistungsbezieher grundsätzlich die Pflicht haben, jede zumutbare, auch unqualifizierte Arbeit anzunehmen. Nach Ansicht der GBM ist das mit dem ICESC nicht vereinbar. Das sah der Ausschuß genauso, wie er in seinen Concluding Observations – Abschließenden Betrachtungen – zum deutschen Bericht am 20. Mai feststellte. Gleiches gilt für die Kritik der GBM an der Höhe der Hartz-IV-Regelsätze. Der Ausschuß forderte, daß die Höhe der Leistungen den Betroffenen einen angemessenen Lebensstandard sichern müsse.

Besonders peinlich dürfte sein, daß der Ausschuß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 zur Rentenkürzung für Personen mit bestimmten Funktionen in der DDR als mit den Verpflichtungen der Bundesrepublik, die sich aus dem ICESC ergeben, unvereinbar bewertete. Ohrfeigen dieser Art beeindrucken nach bisherigen Erfahrungen die Bundesregierung und andere Institutionen allerdings nicht im geringsten. Dabei dürfte es bleiben. Wer Menschenrechte in Afghanistan vorzugsweise per Bomben verbreitet, legt auch ansonsten internationale Verträge nach Gutdünken aus. Rechtsnihilismus, der als Entwicklung des Völkerrechts verkauft wird, ist das Markenzeichen der seit dem Untergang der Sowjetunion entfesselten westlichen Wertegemeinschaft. So stellte der Genfer Ausschuß jetzt erneut fest, daß seine Kritiken und Empfehlungen zu den deutschen Staatenberichten von 1998 und 2001 bislang keinerlei Reaktion bei deutschen Regierungsstellen hervorriefen.

Immerhin: Die Fraktion Die Linke im Bundestag brachte am 6. April den Antrag »Vom Anspruch zur Wirklichkeit: Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren und gewährleisten« ein. Die Concluding Observations des UN-Ausschusses bestätigen die dort aufgestellten Forderungen, insbesondere die nach Ratifizierung des Zusatzprotokolls von 2008, das individuelle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen ermöglicht. Nach 35 Jahren Massenarbeitslosigkeit, permanenter Hetze und Schikanen gegen Migranten, nach 20 Jahren Diskriminierung von Ostdeutschen wäre das ein kleiner, aber wichtiger Schritt. Aber die Aussichten sind trübe: Am Donnerstag (26. Mai) lehnte der Bundestag den Antrag der Linksfraktion »für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland« mit 503 gegen 63 Stimmen ab. Soziale Menschenrechte werden in der Bundesrepublik notorisch verletzt.

* Aus: junge Welt, 28. Mai 2011

"Weiterhin besorgt"

Soziale Menschenrechte in Deutschland: Langzeitarbeitslosigkeit, Kinderarmut, Diskriminierung

Auszug aus den Concluding Observations (Abschließende Bemerkungen) des Ausschusses des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC) für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 20. Mai 2011 zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland über die Erfüllung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte:

Punkt 7: Der Ausschuß ist weiterhin besorgt darüber, daß die Bestimmungen des Paktes von den nationalen Gerichten nicht genügend beachtet werden (...)

Punkt 14: Der Ausschuß bleibt betroffen darüber, daß die Arbeitslosenrate in den östlichen Ländern noch doppelt so hoch ist wie die Rate in den westlichen Ländern, trotz der in dieser Sache ergriffenen Maßnahmen (Artikel 6, 2 (2)). Der Ausschuß ruft den Staat dazu auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die regionalen Ungleichheiten zwischen westlichen und östlichen Ländern ins Visier zu nehmen, eingeschlossen die Anwendung von Beschäftigungsstrategien und Aktionsprogrammen für Regionen, wo die Arbeitslosigkeit besonders ernst ist. (...)

Punkt 19: Der Ausschuß stellt mit Sorge fest, daß Anordnungen des Staates im Rahmen der Arbeitslosenunterstützung und der Sozialhilfe, einschließlich der Pflicht der Empfänger von Arbeitslosenunterstützung, »jeden akzeptablen Job« anzunehmen, was in der Praxis als fast jeder Job interpretiert werden kann, sowie die Verpflichtung Langzeitarbeitsloser zu unbezahlter Gemeinschaftsarbeit, zu Verletzungen der Artikel 6 und 7 des Sozialpaktes führen können (Art. 6, 7 und 9). Der Ausschuß bittet den Staat dringend, sicherzustellen, daß seine Regelungen zur Unterstützung der Arbeitslosen die Rechte der Individuen, eine Beschäftigung frei nach seiner oder ihrer Wahl zu akzeptieren, respektiert und ebenso das Recht auf faire Bezahlung.

Punkt 21: Der Ausschuß ist betroffen darüber, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Berechnung der Kosten für einen Mindeststandard Methoden angewandt hat die keine angemessene Lebenshaltung gewährleisten. Außerdem stellt das Komitee fest, daß die Höhe der für die soziale Sicherheit der Kinder veranschlagten Mittel so niedrig ist, dass etwa zweieinhalb Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze leben. Zusätzlich ist das Komitee betroffen darüber, daß 2005 die zu versteuernde Rente auf 80 Prozent gestiegen ist (Art. 9 und 10 des Paktes).

Das Komitee fordert den Vertragsstaat dringend dazu auf, die Methoden und Kriterien, die für die Bestimmung der Höhe der Einkommen bestimmend sind und die angemessene Kriterien für den Lebensunterhalt normalerweise darstellen, so festzulegen, daß die sozialen Sicherheitsstandards eingehalten werden. Das Komitee fordert den Vertragsstaat darüber hinaus auf, die Auswirkungen der sozialen Sicherheitsbestimmungen, einschließlich des Paktes für die Kinderarmut von 2011, zu überprüfen. (...)

Punkt 22: Der Ausschuß ist besorgt über die Diskriminierung hinsichtlich der Rechte über soziale Sicherheit zwischen den östlichen und den westlichen (Bundes-)Ländern, wie sie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2010 über die Renten der (DDR-)Minister und stellvertretenden Minister zum Ausdruck kommen.

Das Komitee fordert den Vertragsstaat auf, unverzüglich effektive Maßnahmen zu ergreifen, um die weitere Diskriminierung hinsichtlich der sozialen Sicherheit zwischen Ost und West zu beseitigen und bestehende Fälle einer solchen Diskriminierung zu beseitigen.

Punkt 24: Mit Betroffenheit stellt der Ausschuß fest, daß entsprechend der Angaben der Vertragspartei 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben und zugleich 1,3 Millionen Bürger, welche wirtschaftlich tätig sind, Einkommensunterstützung erhalten müssen, um anständig leben zu können. Das Komitee ist betroffen darüber, daß trotz der Sozialversicherung solch ein hohes Niveau der Armut besteht. Dies ist Ausdruck großer Einkommensunterschiede oder zumindest einer geringen Möglichkeit des Ausgleichs.

Das Komitee ruft den Vertragsstaat dazu auf, ein umfassendes Antiarmutsprogramm einzuführen welches die vielen qualifizierten Analysen, die der Vertragsstaat bereits unternommen hat, in Rechnung stellt. Das Komitee empfiehlt, die unterschiedlichen Einkommensstufen einzubeziehen. Der Vertragsstaat wird aufgefordert, die Menschenrechte in das Antiarmutsprogramm einzubeziehen und besondere Aufmerksamkeit den Benachteiligten und Minoritäten zuzuwenden. In diesem Zusammenhang beruft sich das Komitee gegenüber dem Vertragsstaat auf die Erklärung über Armut und das Internationale Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2001).

Punkt 30: Der Ausschuß ist darüber besorgt, daß der Staat in bezug auf seine frühere Empfehlung von 2001, die Studiengebühren zu reduzieren mit dem Ziel, sie abzuschaffen, nicht aktiv geworden ist, (...). Der Ausschuß wiederholt seine Empfehlung und fordert den Staat auf, eine Reduzierung der Studiengebühren in der nationalen Hochschulgesetzgebung einzuführen, und empfiehlt dem Staat dringend, der Bundesregierung mehr Verantwortlichkeiten in der Hochschulpolitik zu übertragen, die bisher den Ländern zugefallen waren. (...)

Vollständiger Text (englisch):
Concluding Observations of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights: Germany [pdf-Datei]

Und hier ist das Statement von Andreas Storm, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, bei der Anhörung des Ausschusses am 6. Mai 2011: pdf-Datei. [In dem Dokument befinden sich nur die ungeraden Seiten des 17-seitigen Manuskripts! Ein Fehler der UN-Behörde.]





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