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Es fehlt politischer Wille

ND-Gespräch mit Amnesty-Generalsekräterin Barbara Lochbihler

Barbara Lochbihler ist seit 1999 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International (AI). Die 59-jährige Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Menschenrechte hat Sozialpädagogik, Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Internationales Recht studiert und leitete von 1992 an sieben Jahre lang das Generalsekretariat der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf. Über die Menschenrechtssituation sprach mit ihr Mark Wolter für das "Neue Deutschland".



ND: Ist das Jubiläum der Menschenrechtserklärung Anlass zur Freude oder zur Kritik an den noch großen Missständen?

Lochbihler: Zum einen ist festzuhalten, dass in den letzten 60 Jahren Positives erreicht wurde. Wir haben eine Fülle von Menschenrechtskonventionen, Menschenrechtsschutznahmen, die sich aus den Grundgedanken der Allgemeinen Erklärung entwickelt haben. Das darf man nicht klein reden, das hat das Leben von Millionen von Menschen verbessert. Auf der anderen Seite ist das, was proklamiert ist, noch nicht um- oder durchgesetzt. Deshalb ist es für uns als Menschenrechtsorganisation Anlass, auf diese Vielzahl von uneingelösten Versprechen einzugehen.

Was sind die größten Fortschritte seit der Unterzeichnung?

Wenn man zum Beispiel die Todesstrafe nimmt, so war diese 1948 noch fast ganz normal. Mittlerweile ist es so, dass die Mehrheit der Staaten sie abgeschafft oder ausgesetzt hat. Ebenfalls positiv ist die Erkenntnis, dass auch die Täter, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, verfolgt werden müssen. Die Strafverfolgung bei Menschenrechtsverletzungen ist sehr wichtig und hat sich durchgesetzt, zum Beispiel mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, der seit 2002 arbeitet.

Wo gibt es noch Nachholbedarf?

Das fängt schon bei der Aussage an, frei von Furcht und frei von Not leben zu können. Wenn man bedenkt, dass täglich weltweit immer noch zehntausende Kinder an Unterernährung sterben, dann muss man sich fragen, warum es mit unserem Wissen und unserer Technik nicht gelungen ist, das zu beheben. Eklatant verletzt werden die Menschenrechte auch bei Kriegen, wie in Ostkongo, in Irak oder Kolumbien. Außerdem gibt es viele Menschen auf der Flucht, aus Armut oder durch Vertreibung, und viele autoritär regierte Staaten, die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und andere zivile und bürgerliche Menschenrechte nicht gewährleisten, wie in Nordkorea, China oder auch in unserer Nachbarschaft, in Weißrussland.

Welche Menschenrechte werden vor unserer Haustür missachtet?

Bei uns in Europa werden z. B. Roma und Sinti als Minderheit extrem benachteiligt und diskriminiert. An den EU-Außengrenzen werden Flüchtlinge, die Schutz suchen, abgeschoben. Europa setzt auf Abschottung und schließt Abkommen - wie etwa Spanien mit Marokko -, nach denen Flüchtlinge, die es geschafft haben, wieder zurück geschickt werden. Was dann aus ihnen wird, interessiert nicht mehr, über Menschenrechtsverletzungen wird hinweggesehen.

Was sind die größten Hürden der Menschenrechtspolitik?

Die größte ist, dass man einfach in Kauf nimmt, dass es zu wenig politischen Willen gibt, etwas zu ändern. Dass Regierungen konkrete Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz ergreifen, das ist die größte Herausforderung.

Ist der 2006 gegründete Menschenrechtsrat der UN dafür ein geeignetes Gremium?

Die UN sind ein Spiegelbild der Machtverhältnisse. Dort sitzen Regierungen, die zum einen menschenrechtspolitisches Interesse haben, gleichzeitig aber Kritik an den eigenen Verhältnissen zu Hause abwehren. Der Rat ist das einzige UN-Gremium, wo man Ross und Reiter nennen kann. Noch erfüllt er die Erwartungen nicht, aber er ist ein wichtiges Instrument. Deshalb muss man versuchen, es so gut wie möglich zu nutzen.

Hilft dabei das Überprüfungsverfahren, mit dem die Nationen Rechenschaft ablegen müssen?

Das muss sich noch herausstellen. Aber wenn die Regierungen es ernst nehmen, kann man sich ein gutes Bild machen, wo noch Defizite sind. Das wird auch für Deutschland spannend werden, wenn der eigene Bericht im Februar 2009 abgegeben werden muss. Leider gibt es auch Staaten, die das einfach abhaken und nicht bearbeiten. Positiv ist aber, dass Nichtregierungsorganisationen auch eigene Berichte einreichen können.

Andererseits wurden die Rechte der Sonderberater beschnitten ...

Ja, das ist ein Ärgernis, weil die Sonderberater natürlich ganz konkrete Beispiele zitieren, wenn sie ein Land besucht haben. Einige Staaten kämpfen dafür, Freiheit und Mandat der Berichterstatter einzustellen. Es ist eine große Aufgabe, dagegen zu halten.

Worauf konzentriert sich Amnesty International künftig?

Wir müssen unsere Arbeit so weitermachen wie bisher. Wir dokumentieren Menschenrechtsverletzungen in rund 150 Staaten. Wir werden uns als Organisation noch stärker auf den globalen Süden und Osteuropa fokussieren, mit mehr Mitgliedern und deutlich hörbarer in den Gesellschaften. Außerdem werden wir nächstes Jahr weltweit den Zusammenhang von Menschenwürde und extremer Armut herausstellen - und dass das immer auch Menschenrechtsverletzungen bedingt.

Chronik

  • Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen in Paris erstmals ein internationales Abkommen zum Schutz der Menschenrechte. 48 der damals 56 UN-Mitgliedstaaten stimmten für die 30 Artikel umfassende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), acht Länder enthielten sich. Die AEMR war rechtlich nicht verbindlich, aber Grundlage für weitere internationale Menschenrechtsabkommen.
  • Im Dezember 1966 vereinbarten die UN-Mitgliedstaaten den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und den Internationalen Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte. Sie sind völkerrechtlich verbindlich und traten zehn Jahre später in Kraft. Zusammen mit der AEMR bilden sie die sogenannte Menschenrechtscharta, aus der weitere Abkommen hervorgingen, darunter die Übereinkommen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung und der Diskriminierung von Frauen, gegen Folter und über die Rechte des Kindes.
  • Auf der Weltkonferenz der Menschenrechte in Wien 1993 und auf dem Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen erkannten die Länder der UN mit dem Recht auf Entwicklung, Frieden, Nahrung und intakte Umwelt die sogenannten Menschenrechte der dritten Generation an, die entwicklungspolitische Konzepte und gerechte Wirtschaftsbeziehungen einfordern. Außerdem wurde das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte geschaffen, das die Arbeit des UN-Menschenrechtsrates unterstützt, Nachfolger der UN-Menschenrechtskommission.
  • Zum 60. Jubiläum 2008 haben die Vereinten Nationen zu einem Jahr der Menschenrechte aufgerufen. Außerdem soll die Charta der Menschenrechte, laut UN mittlerweile mit 360 Sprachen der meistübersetzte Text der Welt, als symbolischer Akt auf zwei Tafeln verewigt und an Bord des US-Shuttles »Endeavour« ins All geschickt werden. maw

Offene Versprechen

60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind viele Ziele und Versprechen noch nicht erreicht.

Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. - In Ägypten werden durchschnittlich pro Stunde zwei Frauen vergewaltigt.

Artikel 5: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher Behandlung unterworfen werden. - 2007 wurden Fälle von Folter in mindestens 81 Ländern dokumentiert.

Artikel 10: Jeder Mensch hat Anspruch auf ein öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. - In mindestens 54 Ländern wurden in diesem Jahr unlautere Gerichtsverfahren durchgeführt.

Artikel 18: Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. - 2008 waren in 45 Ländern gewaltlose politische Gefangene in Gewahrsam.

Artikel 19: Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung. - In 77 Ländern werden noch immer die Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten.

Artikel 25: Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet. - 14 Prozent der Bevölkerung Malawis lebten 2007 mit HIV/AIDS, davon hatten nur drei Prozent Zugang zu kostenlosen antiretroviralen Medikamenten.

Quelle: Amnesty International

Hier geht es zum vollständigen Text der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" vom 10. Dezember 1948.



* Aus: Neues Deutschland, 10. Dezember 2008


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