Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Merkel und der 22. Juni

Überfall auf die Sowjetunion 1941

Von Arnold Schölzel *

Am 10. Mai hielt die Bundeskanzlerin im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin vor 750 Gästen eine Rede. Sie eröffnete eine Ausstellung mit Bildern der beiden westdeutschen Fotografen Thomas Hoepker und Daniel Biskup, die unter dem Titel »Über Leben« laut Angaben des DHM »das Zeitgeschehen zwischen Mauerbau und dem Ende des Kommunismus in Osteuropa« dokumentiert. Bild veröffentlichte die Ansprache Angela Merkels und dekretierte: »Diese Ausstellung muß jeder sehen, der die Freiheit liebt.«

Der Redetext befaßt sich mit dem »Gedenkjahr 2011, in dem sich der Mauerbau zum 50. Mal jährt« und der Zeit vor 20 Jahren, als die »Ära der Sowjetunion« endete. Die CDU-Vorsitzende erinnerte sich: »Ich weiß noch genau, daß, als ich Kind war, meine Eltern an einem Sonntag – mein Vater hatte einen Gottesdienst gehalten – in Tränen ausbrachen, insbesondere meine Mutter, weil an diesem Tag etwas aus der östlichen genauso wie aus der westlichen Perspektive Unfaßbares geschehen war.«

Der 22. Juni 1941, 20 Jahre vor dem 13. August 1961, kam in dieser Rede nicht vor. Das hat bundesdeutsche Tradition. Es läßt sich leichter, vor allem oberflächlicher und verlogener von 1961 und von 1991 reden, wird jenes Datum beschwiegen. Der ursächliche Zusammenhang zwischen den drei Jahren ist etwas Faßbares, wird er weggelassen, läßt sich schön über »Unfaßbares« historische Esoterik verbreiten. Die wiederum steht ganz in den Traditionen jenes Irrationalismus, der eine ideologische Hauptquelle des Vernichtungskrieges war, den Hitler und seine Generäle praktisch seit der Machtübergabe an die Faschisten vorbereiteten. Er war der zentrale Punkt des Bündnisses von imperialistischer Bourgeoisie und Nazibewegung, das lange, sehr lange noch nach dem 22. Juni 1941 hielt – Genozid an Slawen und Juden, Strategie der »Verbrannten Erde«, Kommissarbefehl und Freistellung aller deutschen Uniformträger bei Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern eingeschlossen. Moskau, Stalingrad, Kursk hießen die Städte und die dort geschlagenen Schlachten, die der Bestie das Genick brachen.

Von all dem schwieg die Kanzlern, sie erinnerte an die neuesten Angriffskriege, erfolgreiche in ihren Augen: »Auch auf dem Balkan haben wir noch nicht alles, aber vieles erreicht. Der Krieg auf dem Balkan gehört der Vergangenheit ein.« Dort existieren seit 1999 nämlich NATO-Protektorate. Und die Kanzlerin wandte sich auch »Weißrußland« zu, der Republik Belarus, und dachte »an das schwere Schicksal, das viele Oppositionelle zu erleiden haben. Unser Kanzleramtsminister hat sich gerade mit weißrussischen Oppositionellen getroffen.« So ist das im »Gedenkjahr 2011«: Wo Deutsche vor wenigen Jahrzehnten die mörderischste aller Besatzungen errichteten, tritt heute ein deutscher Minister wie zu Hause auf. Faßbar, weil erklärbar, ist das wie damals.

* Aus: junge Welt, 22. Juni 2011


Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zur Deutschland-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage