... Zig Millionen Menschen
Hunger als Massenmordstrategie der deutschen Kriegsführung
Von Wigbert Benz *
Ziel des NS-Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion war die Errichtung eines autarken,
blockadefesten »Großraums Kontinentaleuropa« unter deutscher Herrschaft, für den die eroberten
Ostgebiete das unerschöpfliche Reservoir an Rohstoffen und Lebensmitteln darstellen sollten.
Zu diesem Zweck erließ Görings Vierjahresplanbehörde vor dem Überfall Richtlinien, die den
Hungertod von 30 Millionen Menschen beabsichtigten. Die großen Städte der UdSSR, an erster
Stelle Moskau und Leningrad, sollten von den Lebensmittelzufuhren aus den sogenannten
Überschussgebieten, vor allem der Ukraine, abgeriegelt werden. Verzehrt werden sollten die so »frei
werdenden« Nahrungsmittel von Wehrmacht und deutscher Bevölkerung. So wurde in einer
Besprechung des Wehrwirtschaftsgenerals Georg Thomas, der die operative Federführung in der
Vierjahrsplanbehörde innehatte, mit den Staatssekretären der zuständigen Ressorts am 2. Mai 1941
festgehalten: »Der Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im dritten Kriegsjahr
aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von
uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.« Der US-amerikanische
Anklagevertreter Sidney Alderman erklärte bei den Nürnberger Prozessen am 26. November 1945
dazu: »Noch niemals ist wohl ein unheilvollerer Satz niedergeschrieben worden, als der Satz in
dieser Urkunde.«
Der Mord an der sowjetischen Zivilbevölkerung wurde durch verbrecherische Befehle wie dem
»Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa« vom 13. Mai 1941
flankiert, der verfügte, dass die Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht gegen die
Zivilbevölkerung »nicht unter Verfolgungszwang« (!) gestellt werden durften. Damit erklärte die
Wehrmachtsführung die sowjetischen Zivilisten faktisch für vogelfrei. Hitlers »Ostprogramm«, von
dem sich die Privatwirtschaft Riesengewinne versprach, so dass vor dem Scheitern des Blitzkriegs
vor Moskau im Dezember 1941 das Vorstandsmitglied der Dresdner Bank, Karl Rasche, den
Charakter des Krieges als »größten Amortisationsplan der bisherigen Wirtschaftsgeschichte«
definierte, war ein Amalgam von strategischen, ökonomischen und rassenideologischen Elementen.
Dessen rassenideologische Basis hatte auch eine praktische, für den beabsichtigten
Eroberungskrieg funktional günstige Seite.
Der Kampf um »Lebensraum im Osten« rechtfertigte den Krieg als Recht des Stärkeren zur
Durchsetzung machtpolitischer und wirtschaftlicher Interessen in einer nach der vermeintlichen
rassischen Wertigkeit ihrer Völker eingeteilten Welt. Für die geplante Unterwerfung der Sowjetunion
war es von Vorteil, die slawischen Völker als »Untermenschen« anzusehen. Deren entmenschlichter
Status ermöglichte den Abbau moralischer Barrieren für die notwendige Entgrenzung von Gewalt im
»totalen Krieg«, der zwecks Optimierung seiner Erfolgsaussichten mit inhumansten Mitteln geführt
werden sollte.
Auf dieser Legitimationsgrundlage gerieten dann im konkreten Kriegsgeschehen Menschen ins
Visier der Schützen und Flammenwerfer, die nach den Standards der herkömmlichen
abendländischen Moral von der Anwendung gesteigerter Gewalt auszunehmen waren:
Unbewaffnete, Kranke, alte Menschen, Frauen und Kinder, die in den verbrecherischen Befehlen zu
Plünderern, Kriminellen, Spionen oder Partisanen umdefiniert und zur Erschießung freigegeben
wurden. Von den 27 Millionen Toten der Sowjetunion waren die Hälfte Zivilisten. Dazu kamen drei
Millionen Kriegsgefangene, von denen die meisten elend verhungerten. Dass »nur« mehrere
Millionen Menschen statt der geplanten zig Millionen verhungerten, lag am gescheiterten Blitzkrieg
im Winter 1941/42 vor Moskau.
Die Strategie, sowjetische Großstädte nicht auf klassischem militärischen Wege zu erobern und zu
besetzen, sondern mit minimalen eigenen Verlusten und ohne die dortige Zivilbevölkerung ernähren
zu müssen, einzuschließen und auszuhungern, kostete alleine während der Blockade Leningrads
vom Herbst 1941 bis Anfang 1944 einer Million Menschen das Leben. Dass die politische Führung
die Menschen in russischen Großstädten »liquidieren« wollte, zeigt Hitlers schon im Juli 1941
gegenüber Generalstabschef Halder geäußerte Absicht, Moskau und Leningrad dem »Erdboden
gleich machen« zu wollen, »um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter
ernähren müssten«.
Moskau wurde nicht eingeschlossen, konnte nicht wie Leningrad ausgehungert werden, doch die
Hälfte der Menschen in der UdSSR während der deutschen Besatzung hungerte und mindestens
vier Millionen verhungerten. Allein in Charkow starben 30 000 Menschen den Hungertod.
Noch beim Rückzug aus den besetzten Gebieten im Frühjahr 1944 wollte die Wehrmacht zwar eine
Minderheit nützlicher einheimischer Arbeitskräfte für ihre Zwecke gebrauchen. Deren Angehörige
aber versuchte sie als nutzlose Esser physisch loszuwerden – mittels Hungermord. So ordnete der
Oberbefehlshaber der 9. Armee General Josef Harpe im März 1944 an, arbeitsfähige Zivilisten
zwangsweise zu rekrutieren und parallel dazu deren arbeitsunfähige Angehörige, die sich nicht mehr
selbst versorgen konnten, in Todeslagern bei der weißrussischen Ortschaft Osaritschi, südlich der
Stadt Bobruisk, zu konzentrieren. Da die Zivilisten in den kurzfristig als eingezäunte gebäudelose
Areale organisierten Lagern keine Nahrungsmittel erhielten, waren bis zum Eintreffen der Roten
Armee am 19. März bereits 9000 Menschen umgekommen.
Bis zuletzt nutzte die deutsche Kriegführung den Hunger als Massenmordstrategie.
* Wigbert Benz, geboren 1954, studierte Geschichte, Politologie und Pädagogik in Karlsruhe und ist als freier Historiker tätig. Jüngst erschien von ihm im Wissenschaftlichen Verlag Berlin »Der Hungerplan im ›Unternehmen Barbarossa‹ 1941«.
Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2011 (Beilage)
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