Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Weder Hitler noch das Kapital

Gastkolumne von Wolfgang Wippermann *

Wer hat die Sowjetunion überfallen? Hitler, heißt es im Westen. Und im Osten hört man immer noch, dass es »die Faschisten« im Auftrage von irgendwelchen »Elementen des Finanzkapitals« gewesen seien. Tatsächlich waren es die Deutschen. Nicht alle, aber die meisten deutschen Soldaten zogen in einen Krieg, der von Anfang an ein beispielloser Rassen- und Vernichtungskrieg war und sein sollte. Nicht, weil sie den Krieg liebten, sondern weil sie den Feind hassten.

Der Feind war »der Russe«. Und der war, wenn nicht schon immer, so doch spätestens seit den Zeiten Iwans »des Schrecklichen« gefürchtet und verhasst. Keineswegs nur bei den Rechten, sondern auch bei den Linken. Marx und Engels eingeschlossen, denn die waren besonders russophob. Zur Russophobie des 19. kamen im beginnenden 20. Jahrhundert die Ideologien des Antibolschewismus, Antisemitismus und Rassismus. Das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« im »asiatischen Russland« war entstanden. Geschaffen und verbreitet keineswegs nur von rechten Antidemokraten, sondern auch von vielen Demokraten und Sozialdemokraten.

Die Faschisten nutzten das aus. Der von ihnen vor 70 Jahren begonnene Rassen- und Vernichtungskrieg gegen das »jüdisch bolschewistische System« in Russland und nicht zuletzt auch gegen »den Russen« wurde von »den Deutschen« geführt. Sie, »die Deutschen« waren mehr als nur »willige Vollstrecker« des Willens Hitlers oder des Kapitals.

Man könnte von Schuld sprechen. Hat man das nach 1945 getan? Nein! In den so genannten Schuldbekenntnissen der Evangelischen Kirche (die Katholische Kirche war nicht einmal dazu bereit) findet man kein einziges Wort zum deutschen Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Schließlich war aus dem alten der neue Feind des »christlichen Abendlandes« und der »Demokratie« geworden. »Der Russe« war »der Russe« geblieben. Allerdings wurde er nicht mehr als jüdisch, nur noch als »asiatisch« konnotiert. So auf dem bekannten Propaganda-Poster der CDU »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«. Die Verbrechen der Deutschen während des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion wurden mit denen »der Russen« bei der noch dazu geleugneten Befreiung aufgerechnet. Die deutschen Täter wollten das sein, was sie immer gewesen sein wollen: Opfer.

Im Osten, bzw. in der SBZ und späteren DDR war alles anders – aber auch nicht viel besser. Sicher, die offiziell so genannten »Sowjets« waren keine Feinde mehr, sondern »Freunde«, wurden aber keineswegs überall und von allen so empfunden. Zumindest im privaten Kreis sprach man immer noch von »dem Russen«. Ebenso sicher ist, dass die Kenntnisse über den Krieg gegen die Sowjetunion im Osten besser und verbreiteter waren als im Westen. Doch nicht das Schuldgefühl. Es war auch in der DDR kaum vorhanden. Warum auch? Schließlich sollen es ja nicht »die Deutschen«, sondern »die Faschisten« und irgendwelche »Elemente des Finanzkapitals« gewesen sein.

Und wie ist es heute? Hat der, ich wiederhole mich, beispiellose Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im kollektiven Gedächtnis der wiedervereinten Deutschen die Bedeutung erlangt, die ihm zukommen muss – als Krieg der Deutschen und nicht nur Hitlers und des Kapitals?

* Der 1945 in Wesermünde geborene Historiker lehrt u.a. in Berlin, Innsbruck, Peking und Durham.

Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2011 (Gastkolumne)



Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zur Deutschland-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage