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Geschichte der "Geschichtslosen"

Buchbesprechung: "Unsere Opfer zählen nicht" – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg

Es ist zweifelsohne ein lobenswertes Unterfangen, den Versuch zu unternehmen, die Geschichte der „Geschichtslosen“ zu schreiben, nämlich die jener Millionen von Menschen, die in den Kolonien die Kosten der imperialistischen Auseinandersetzungen in dem von der Nazi-Barbarei vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg mit Leid und Elend, Verstümmelung und –zigtausendfachem Tod bezahlten. Gerade um der eingeforderten Gerechtigkeit willen sollte erwartet werden, daß historisch verläßlich und quellenkritisch gearbeitet wird. Statt dessen geht es um alarmistische Schwarz-Weiß-Zeichnung, überzogene und verfälschte Behauptungen, die das – wichtige – politische Anliegen des Buches zumindest in Teilen diskreditiert. Die hier formulierte Kritik betrifft allerdings nur den Teil über Nordafrika und den Nahen Osten. Ozeanien, Afrika, Asien, Südamerika, lassen wir unberücksichtig weil wir hier nicht sachkompetent sind. Dennoch befremdet, wenn dem schwarzafrikanischen Kontinent genauso so viel Platz eingeräumt wird wie dem Palästina-Problem (im Text: Nahostkonflikt). Doch der Reihe nach:

Hochziel: Öl!". Warum gerade diese Überschrift gewählt wurde, wo das Thema Öl kaum tangiert wird, und auch zum Verständnis des israelisch-palästinensischen Konflikts wenig beiträgt, wird nicht klar. Unverständlich bleibt auch, weshalb Tunesien in diesem Kapitel abgehandelt wird, Algerien aber unter Nordafrika. Bewußt ausgeblendet wird das koloniale Projekt des Zionismus („Eroberung des Bodens“; „100% jüdische Arbeit“ und die Separation von der arabischen Bevölkerung, mit dem Ziel einen eigenen Staat aufzubauen). Die Verfasser verwechseln anscheinend die europäische Geschichte und die jüdischen Opfer der Nazi-Barbarei mit der Geschichte des Israel-Palästina Konfliktes, was unweigerlich zur Verbiegung von Geschichte führt. Dies geschieht auch dadurch, daß der Eindruck erweckt wird, zionistische Einwanderer und palästinensische Araber hätten gleichberechtigte Interessen: So werden (S. 179/180) Araber und Juden „beiden Bevölkerungsgruppen weitreichende politische Versprechungen“ gemacht – arabische Selbstbestimmung und das Versprechen eine „nationale Heimstätte“ zuzulassen –, die bei Kriegsende beide nicht erfüllt wurden. Dabei tat doch gerade Herbert Samuel, der 1. High Commissioner nach Errichtung des Mandats in Palästina 1920-25, alles um die Balfour-Deklaration umzusetzen. Da hätte wirklich ein Blick genügt in: Christopher Sykes, Israel on the Cross Roads. Oder in die wissenschaftliche Untersuchung ‚A broken Trust, Herbert Samuel, Zionism and the Palestinians“, London 2001, von Sahar Huneidi.

Und weiter S. 182: „Landarbeiter weigerten sich, die Güter und Felder zu verlassen“. Der Begriff „Landarbeiter“ vermittelt den Eindruck von Lohnarbeit in der Landwirtschaft. Wir haben es aber hier mit Pächtern zu tun, die meist seit Generationen das Land bestellten und für die das Land die einzige Einkommensquelle war. (Hier wäre ein Hinweis auf die osmanischen Landgesetze wichtig gewesen.) Wenn palästinensische Grundbesitzer Land an die Zionisten verkauften, waren die Pächter gezwungen mit ihren Familien wegzugehen, – Landkauf und Bevölkerungstransfer, „explosiver Zusatz“ (Simcha Flapan) des Konflikts. Dazu Arthur Ruppin, zuständig für den Bodenerwerb bei der Palestine Land Development Company: „Überall wo wir Land kaufen und Leute ansiedeln werden die gegenwärtigen Bebauer unweigerlich entfernt.…Diese Situation mag unerwünscht sein, aber so ist die Wirklichkeit.“ (zitiert in: John Bunzl, Israel und die Palästinenser, Wien 1982, S.39) In der Frage des Landverkaufs nur die Husainis anzuführen ohne auch nur die großen Landlords wie Sarsouk, Twayni, Mudawwar zu erwähnen, hat hier wohl nur den Grund, daß man schon mal vorsorglich den Mufti Hajj Amin al-Husaini als den Bösewicht einführt.

Daß jüdische Siedler arabische Landarbeiter einstellten und „Teile ihres Landes an ansässige arabische Bauern verpachteten“ (182), widerspricht sowohl der Praxis als auch dem Ziel der Zionisten, der „Eroberung des Bodens“ und des Kampfes „für 100% jüdische Arbeit“. Behauptet wird, daß zwischen 1919 und 1931 664 Araber Grund und Boden verlassen mußten (182). Es ist schon unverfroren, mit welcher „Genauigkeit“ hier vorgegangen wird: Allein 1925 mußten rund 4000 Menschen aus dem Jezreel-Tal aus 5 Dörfern verschwinden, weil der Beiruter Landlord Sarsouk Land an den JNF verkaufte. Und die Verdrehungen der Tatsachen gehen weiter (S. 183): Hajj Amin al-Husaini (der „Bösewicht“ und quasi-Alleinherrscher im britischen Mandat) rief zum Wirtschaftsboykott auf. Deshalb mußten die Palästinenser ihre Stellen bei „jüdischen Arbeitgebern (aufgeben) und jüdische Einwanderer übernahmen sie. Damit entstand bereits ansatzweise ein jüdischer Staat im Staate…“ Eigentor Huseinis? Oder ergab sich die Trennung beider ökonomischer Sektoren (und Volksgruppen) auch „aus der Absicht der Zionisten, eine völlig autonome und unabhängige jüdische Gesellschaft in Palästina zu schaffen“ (John Bunzl, S.36)? David HaCohen: „Ich akzeptierte keine Araber in meiner Gewerkschaft“, wir „hinderten die arabischen Arbeiter daran Arbeit zu finden; (schütteten) Benzin auf arabische Tomaten…“ (Haaretz, 15.11.68)

Nicht fehlen darf die Geschichte der von Hajj Amin al-Husaini und seine Teilnahme am Holocaust (203). Wie oft muß man eigentlich noch darauf hinweisen, daß es dafür keine Quellen gibt. Gerhard Höpp hat das 1999 klargestellt in seiner Untersuchung ‚Zum Bild Amin al-Husseinis in Wissenschaft und Publizistik seit 1941’. Und (204): „1951 ermordete ein Anhänger Husseinis den jordanischen König Abdullah, der für eine Verständigung mit Israel eingetreten war.“ Projektionen sind nun mal leichter als ein Quellenstudium. Was es mit dem „Anhänger Husseinis“ auf sich hat und Abdallahs „Verständigung mit Israel“ hat der israelische Historiker Avi Shlaim in Collusion across the Jordan, King Abdullah, the Zionist Movement and the Partition of Palestine untersucht. König Abdallah verfolgte seine großsyrischen Pläne und kam mit den Zionisten in Einklang bezüglich der Teilung des Landes. Seine verständnisvolle Haltung, ließ er sich von der Jewish Agency vergolden.

Und da es mehr um Palästina als um den Blutzoll der Kolonisierten während des Zweiten Weltkriegs geht, werden auch die Staatsgründung Israels und die damit verbundenen blutigen Ereignisse behandelt. Spätestens an dieser Stelle erwartet man ein Wort über die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser. Doch die Verdrehung und Verschweigung von Geschichte verlangt Konsequenz: Begreift man die Entstehung Israels – durchaus zutreffend – auch als Konsequenz der Horrortaten der Nazis, dann muß man, will man einen neuen Schuldigen finden, Deir Yasin und andere Massaker verschweigen.

Der zur Verfügung stehende Raum verbietet es uns, ausführlicher auf die weiteren falschen Darstellungen und Geschichtsklitterungen einzugehen. Aber sie folgen einem klaren Duktus: die verschiedenen politischen Bewegungen in den arabischen Ländern verfolgten kaum eigene Interessen, sondern paktierten mit den Nazis oder dem Vichy-Regime (deren Stellvertreter) in antijüdischer Besessenheit.

Ägypten. Das Kapitel über die Rolle Ägyptens im zweiten Weltkrieg wirft nicht mehr als oberflächliche Schlaglichter auf die politischen Orientierungen eines Landes, dessen Agieren im Zweiten Weltkrieg ohne den Rekurs auf die Rahmenbedingungen einer kolonial fragmentierten Gesellschaft und den Zustand eines De Facto-Protektorats Großbritanniens unverständlich bleiben muß. Unbestritten bildeten sich in diesem Klima gesellschaftliche Gruppierungen heraus, welche wie etwa das ‚Junge Ägypten’, zeitweilig durchaus gewisse Sympathien sowohl für Nazi-Deutschland als auch für Italiens Mussolini aufbrachten, dies aber lediglich als Mittel zum Zweck nach dem fatalen Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Derartige Haltungen können aber nicht auf religiös-orientierte Bewegungen an sich wie etwa die Muslimbrüder bezogen werden, noch können sie als Klischee des dem Nationalsozialismus zuneigenden Arabers festgeklopft werden. Hier ist die pauschalisierende Darstellung (ein „großer Teil der ägyptischen Elite stand Nazideutschland, das sie als Feind Großbritanniens wahrnahmen, wohlwollend gegenüber“ (188) – Frage: Wer war die ägyptische Elite, die doch als geschlossene Fraktion überhaupt nicht mehr existent war? oder die Gegenüberstellung von anti-deutschen Kundgebungen und Muslimbrüdern: „Auf der Gegenseite machten die Muslimbrüder mobil“ (189) zumindest höchst irritierend, wenn nicht irreführend: Der Widerstand gegen die britische Palästina-Politik auch in Ägypten kann nicht einfach bruchlos in eine Übernahme nationalsozialistischen Gedankenguts überführt werden. Daß gerade die Muslimbrüder die Nazis mit größter Zurückhaltung betrachtet haben, daß schließlich zweckrationale Sympathien mit einer nicht zu unterschätzenden, offenen Ablehnung Deutschlands einhergingen, zeigen die Beiträge in ‚Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus’ (Hrsg.: G. Höpp, R. Wildangel und P. Wien).

Algerien. Die Ausführungen zum 8. Mai 1945 in Algerien und den vom französischen Kolonialismus verübten Massakern glänzen durch weit übertriebene Horrorzahlen. Verzichtet wird jedoch auf die Erwähnung von 25 000 algerischen Gefallenen im 1. Weltkrieg und 12 000 im 2. Weltkrieg, wie es das Thema des Buches erfordert hätte. Der völlig unseriöse Umgang mit den genannten Zahlen (siehe INAMO Nr. 41, S.55) macht es der Kritik ewig gestriger an einem verdienstvollen Vorhaben zu leicht.

Nichts erfährt man in diesem Kapitel über den französischen Siedlungskolonialismus der 1830 begann, und das Elend der algerischen Bevölkerung, eine unerläßliche Voraussetzung zum Verständnis sowohl des 8. Mai 1945 wie des blutigen Befreiungskrieges. Nur der Anti-Semitismus des Vichy-Regimes findet Beachtung, wobei ausführlich auf die erschwerten Lebensbedingungen der Juden in den drei Jahren der Vichy-Herrschaft verwiesen wird. Die Ursachen des Judenhasses in Algerien werden für den uninformierten Leser elegant überspielt: „Seit 1870 hatten sie (die Juden) anders als die muslimische Bevölkerungsmehrheit die französische Staatsbürgerschaft inne“ (100). Richtig wäre: Seit Beginn der Kolonisation unterstanden Muslime wie Juden einem besonderen Rechtsstatuts der Eingeborenen („statut indigène“), demzufolge sie Teile ihres religiös fundierten Privatrechts behielten, der politischen Rechte aber verloren gingen. Nur für die Juden wurde dies 1870 geändert: Sie behielten zwar ihr religiös fundiertes Privatrecht, wurden aber französische Vollbürger – nicht so die Muslime. Dies führte zu Gegensätzen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, vor allem aber zu einem virulenten Judenhaß der französischen Siedler, die ihre Privilegien bedroht sahen. Für den Antisemitismus in Algerien bedurfte es also nicht, wie suggeriert wird, der Verbündung von Generälen des Vichy-Regimes mit den Nazis, um Antisemitismus auszulösen. Daß algerische Nationalisten wie Ferhat Abbas mit dem „faschistischen Vichy-Regime … kollaborierten“ (101), ist eine Entdeckung der Verfasser, die nicht aus der Tatsache abgeleitet werden kann, daß diese „Gemäßigten“ stets Kompromisse mit der Kolonialadministration gesucht hatten – nicht nur in der Vichy-Zeit.

Tunesien. Auch im Falle Tunesiens wird das Klischee der Allianz zwischen Nazis und Arabern durchgehalten und Verdrehungen der Wahrheit sind angesagt: „Auch nationalistische Politiker aus Tunesien wie der spätere Staatspräsident Habib Bourguiba hofften mit Hilfe der Achsenmächte ihre Unabhängigkeit von Frankreich durchsetzen zu können und ließen sich deshalb dafür einspannen, in faschistischen Propagandasendungen … aufzutreten (201).“ Das genaue Gegenteil ist richtig: Bourguiba beschwor mehrfach und nachhaltig seine Partei, auf keinen Fall mit der Nazi-Wehrmacht zu kooperieren, da er überzeugt war, Hitlers Armeen würden diesen Krieg verlieren, an dessen Ende es wichtig sei, auf den Seiten der Sieger zu stehen! In seinem (einzigen!) Interview mit Radio Rom, auf das die Verfasser wohl anspielen, vermied er jede Andeutung auf eine mögliche Solidarisierung der tunesischen Nationalisten mit den Achsenmächten. Wohl deshalb verfrachtete ihn die italienische Regierung umgehend zurück nach Tunis.

Tunesien war das einzige Land, das für kurze Zeit unter direkter deutscher Besatzung stand. Die Deutschen fanden auch hier ihre Kollaborateure. Vom britischen FO gibt es Berichte von 1943 über das „Barbaric Treatment of Jews and Aliens in Marocco“, in denen über Foltermethoden in den dortigen Arbeitslagern berichtet wird. Allerdings entging den Autoren – wieder einmal – eine Tatsache, die ihre holzschnittartige Geschichtsdarstellung relativiert hätte: Viele Menschen halfen ihren jüdischen Landsleuten, und zwar nicht nur die Nachbarn: Der Bey von Tunis, der Sultan von Marokko gaben moralische Unterstützung und praktische Hilfe, indem sie jüdischen Familien oder jüdischen Persönlichkeiten halfen. Auch der damalige tunesische Ministerpräsident Muhammad Chenik half im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten der Protektoratsregierung

Es stellt sich die Frage, für welchen Zweck dieses Buch geschrieben wurde und warum, wo immer möglich „jüdischer Widerstand“ – bis hin zur Haganah - gefeiert wird, während undifferenziert arabische Nationalisten in ein antijüdisches Klischee gepresst werden, das den Tatsachen einfach nicht entspricht. Die Schablone des deutschen Antisemitismus wird benutzt, um tatsächliche oder erfundene, Formen der Zusammenarbeit mit dem deutschen Reich zu Beweisstücken einer historischen Konstante des „arabischen Antisemitismus“ zusammenzufügen. Letztlich erhebt sich die Frage, ob es wirklich um die ungeschriebene Geschichte der Unterdrückten geht: Wo bleiben z. B. – jenseits der algerischen – die großen Kontingente der marokkanischen und tunesischen Hilfstruppen des „Freien Frankreich“ de Gaulles? Warum finden die barbarischen Massaker der italienischen Faschisten in Libyen keine Erwähnung? Der ultra-radikale Anti-Imperialismus, der vordergründig diesen Band kennzeichnet , entpuppt sich bei genauem Hinsehen zumindest auf jene Teile, die der arabischen Welt gewidmet sind, als ein die Tatsachen verbiegendes Konstrukt, das seinen aufklärerischen Anspruch nicht einlöst. Sicherlich unbeabsichtigt von den Autoren, deshalb aber nicht minder gefährlich wird hier eine Argumentation entwickelt, die „den“ omnipräsenten Antisemitismus zu bekämpfen vorgibt. Angesichts der historischen Wirklichkeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kann eine solche Darstellung zu einer gefährlichen Relativierung der Einzigartigkeit des Holocaust und der Einmaligkeit der Schuld seiner Verursacher geraten!

Ingrid El Masry, Norbert Mattes, Werner Ruf

Rheinisches JournalistInnenbüro, Recherche International e.V. (Hg.), "Unsere Opfer zählen nicht" – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Hamburg 2005, ISBN 3-935936-26-5.


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 43, Herbst 2005

Die Zeitschrift inamo erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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