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Geschichte und Gefühl

Hollywoods Antinazi-Produktionen und die deutsch-jüdische Filmemigration. Auch ein Beitrag zum 100. Geburtstag des Mekkas der Cineasten

Von Gerhard Wagner *

Der schwedische Regisseur ­Mikael Håfström schuf unlängst ein spannendes Bilderlabyrinth voller historischer und filmischer Reminiszenzen. Sein Streifen »Shanghai« (USA/CHN 2010) spielt kurz vor dem japanischen Überfall auf den US-amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbour am 7. Dezember 1941. Die chinesische Metropole ist hier ein verwirrender Tummelplatz amerikanischer, deutscher und japanischer Geheimdienste sowie chinesischer Banden und Widerständler. Auf ihm gibt es ein verwirrendes Gestrüpp aus Verschwörungen und Lügen, diplomatischen Ränkespielen und Intrigen, Tarnungen und Aufdeckungen, offenen Überfällen und heimlichen Treffs, Morden und Bombenanschlägen. John Cusack (»Zimmer 1408«) und Li Gong (»Die Geisha«), in einer Nebenrolle auch Franka Potente (»Die Bourne Identität«), haben alle Hände voll zu tun, sich gegenüber der von Weltpolitik und Weltkrieg verlangten Schicksalsergebenheit zu behaupten. Und immer wieder tauchen stoffliche und stilistische Anleihen beim »film noir« beziehungsweise bei Hollywoods »Black Series« mit ihren Großstadtdschungeln, vielen schattenhaften Gestalten und grellen Kontrasten auf. So bei Roman Polaskis »Chinatown« (1974) und bei Norman Fosters »Mister Moto, der Schatten von Shanghai« (1975) … Und, natürlich, bei »Casablanca«, dem legendären Drama um Liebe und Freundschaft, Bedrohung und Widerstand. Auch hier in »Shanghai« geht es um rettende Ausreisevisa, um Entkommen aus einer gefährlichen Situation.

Gern wird im Hollywood-Jubeljahr der 1942 unter der Regie von Michael Curtiz gedrehte Film »Casablanca« feierlich in Anspruch genommen. Die Werbung für diesen verheißt aber schon seit nunmehr rund siebzig Jahren vor allem eine »Schicksalsbegegnung« zwischen Ilsa Lund, Rick (alias Richard Blaine) und Victor Laszlo. Sie verheißt »Kino der großen Gefühle«, also eindringliche Bilder der romantisch entgrenzten Liebe, der schmerzenden Ambivalenz, des würdevollen Unglücklichseins, des erregenden Aufbruchs. Aber in diesen Filmbildern und -tönen ist mehr aufgehoben als eine Romanze, eine Sammlung leidenschaftlicher und romantischer Augenblicke: Die Zeiten, die Lagen und ihre Deutungen sprechen in ihnen mit; sie assoziieren unaufhörlich europäische und US-amerikanische Geschichte, die oft dröhnend und deprimierend ist; sie erinnern an Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, folgen deren Blutspuren. Schon die halbdokumentarische Einleitung weist darauf hin: Sie enthält Weltkriegs- und Fluchtsequenzen, zeigt eine Afrika-Karte und eine Erdkugel, auf der auch die Exilorte Marseille und Lissabon zu sehen sind.

Kino und Weltpolitik

»Casablanca« und ihm vergleichbare Filme erfüllten einst nicht nur Unterhaltungs-, sondern auch Propagandafunktionen. Denn die meisten Amerikaner kannten die zunächst erfolgreichen Herrschaftsstrategien und -instrumente des Nazismus in Deutschland – die Umwandlung von Erwerbslosigkeit in Zwangsarbeit, die Ausrichtung auf den Krieg, die politische Fiktion der »Volksgemeinschaft«, die alltägliche rassistische Ausgrenzung – nur aus Zeitung, Hörfunk und Wochenschau. In jenem Jahr 1942, in dem »Casablanca« gedreht wurde, stand für die Regierung der Vereinigten Staaten bereits fest, daß die »Neutralität« und der Isolationismus aufgegeben werden mußten. Bis Pearl Harbour waren 70 bis 80 Prozent der Amerikaner noch dagegen gewesen. Ihre Stimmungen und Meinungen waren wesentlich von der Hearst-Presse und dem Komitee »America first« (Zuerst Amerika), von Henry Ford, Charles Lindbergh, katholischen Kirchenfürsten und auch von faschistischen Strömungen beeinflußt worden. Autoren wie Sinclair Lewis und seine Frau Dorothy Thompson bekämpften diese erbittert.

Durch den Überfall schlug die Stimmung deutlich um. Man verlangte nach diesem »Tag der Schande« (Präsident Franklin D. Roosevelt), an dem sechs Kriegsschiffe versenkt wurden, und der Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die USA vom 11. Dezember 1941 immer energischer die militärische Lösung. Sie sollte nicht zuletzt die Gefahr der ökonomischen und geopolitischen Ausgrenzung der USA durch die Pläne eines »Großraums Europa« unter deutscher, einer »Wohlstandsregion Groß-Ostasien« unter japanischer Flagge bannen.

1942 spitzt sich die Situation durch weitere Ereignisse zu: Zum Beispiel bringen erfolgreiche US-amerikanische Angriffe auf japanische Fluzeugträger im Juni bei Midway die Wende im Pazifik-Krieg. Im selben Monat fallen die britische Hafenfestung im libyschen Tobruk, aber auch die deutschen Stellungen im ägyptischen El-Alamein. Deutsche und italienische Truppen marschieren im November in die noch unbesetzten Teile Vichy-Frankreichs ein, vor Toulon versenkt sich die französische Flotte; ebenfalls im November landen anglo-amerikanische Truppen in Marokko und Algerien. Casablanca wird im Dezember von ihnen besetzt … All diese Ereignisse haben nicht nur in den Wochenschauen Filmgeschichte gemacht.

Das Film-Exil

»Casablanca« erzählt in 104 Minuten rasch und konzentriert, extrem künstlich und gleichzeitig realitätsnah. Mit vielen deutschsprachigen Emigranten in großen und kleinen Rollen – wie Curt Bois als Taschendieb und Paul Henreid (eigtl. Paul Georg Julius von Henried) als Widerstandsführer Victor Laszlo. Peter Lorre ist der Visahändler Ugarte, Szöke Szakall der Kellner, Conrad Veidt der Major Strasser. Sie alle verleihen dieser Hollywood-Fiktion vom Exilort Casablanca eine ihrer wichtigen authentischen Dimensionen.

Die US-amerikanische Produktion von Spielfilmen belief sich zum Beispiel im Jahre 1940 auf 477, also auf rund zehn pro Woche. Erheblichen Anteil an ihr hatten Europäer, die seit der Jahrhundertwende in die USA einwanderten. Das waren Emigranten, denen berufliche Laufbahnen in vielen Bereichen verwehrt wurden, weil sie Juden waren und aus Osteuropa kamen. Religiöse Toleranz und Multikulturalität waren in den USA zwar juristisch verbrieft, sie waren jedoch nicht alltägliche Realität; im Gegenteil, es gab auch alltäglichen Antisemitismus. Vor allem Bürger jüdischer Herkunft suchten daher wirtschaftlichen Erfolg und soziale Anerkennung im Einzelhandel und in der Unterhaltungsindustrie. Einige betrieben kleine Kinos, in stetigem Kampf gegen das New Yorker Filmkartell der »Motion Picture Patents Co.«, das der Erfinder und Unternehmer Thomas Alva Edison 1909 errichtet hatte. Es beherrschte bis 1912 die Ostküste und das Innere der USA, versuchte immer wieder, unabhängige Produzenten und Kinobetreiber niederzukonkurrieren.

Einige von diesen kreativen Köpfen wichen um 1910 an die Westküste der USA aus. Carl Laemmle gründete 1909 die Verleihfirma »Independent Motion Picture Company«, die später Teil der »Universal Motion Picture Manu­facturing Company« wurde. Im Oktober 1911 eröffnete David Horsley am Sunset Boulevard mit seiner »Nestor Motion Picture Company« ein erstes Filmstudio, dem bald 15 weitere folgten. Unter günstigen ökonomischen, kulturellen und klimatischen Bedingungen schufen hier in der Folgezeit einige Filmpioniere den »amerikanischen Traum« im Kino; unter ihnen außer Carl Laemmle auch Louis B. Mayer, Jack L. und Harry M. Warner. Sie machten Hollywood zum Zentrum der amerikanischen Filmindustrie.

Noch heute bekannte Firmen wie Warner Bro­thers, Paramount, Metro Goldwyn Mayer (MGM), Columbia und 20th Century Fox boten mit ihrer umfassenden Produktion in den dreißiger Jahren Zuflucht für zunächst etwa 800 Emigranten, darunter allein rund 40 Filmkomponisten. Diese waren beteiligt an der von der Tonfilmproduktion getragenen, bis heute wirkungsmächtigen Synthese aus schwarz-afrikanischer Volks-, jüdischer Unterhaltungs- und europäischer Salonmusik. Filmleute wie Drehbuchautoren, Produzenten, Regisseure, Komponisten, Schauspieler, Tontechniker, Schnittmeister, Architekten beiderlei Geschlechts stellten die größte Emigranten-Berufsgruppe in den USA. (Wie der Filmhistoriker Helmut G. Asper schätzt, umfaßte sie zeitweilig bis zu rund 2000 Personen.) Zu diesen Einwanderern zählten zum Beispiel so bekannte aus dem deutschsprachigen Raum wie die Regisseure Fritz Lang, Max Ophüls und Georg Wilhelm Pabst; Produzenten wie Alexander Korda; die Schauspielerinnen Elisabeth Bergner und Carola Neher, die Schauspieler Albert Bassermann, Ernst Deutsch, Alexander Granach und Fritz Kortner; Filmkomponisten wie Friedrich Hol­laender und Hanns Eisler; auch Filmwissenschaftler wie Rudolf Arnheim und Siegfried Kracauer.

Zu den Exilgründen gehörten nicht nur die Judenverfolgung, sondern auch die aus der Diskrepanz zwischen bürgerlich-humanistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Gesinnung einerseits und Nazismus andererseits sich ergebende kritische politische Haltung. Auslöser wurden nicht selten ebenso Versuche der Vereinnahmung. Zum Beispiel im Fall Fritz Langs, des Regisseurs von »Die Nibelungen« (1924) und »Metropolis« (1926). Ihm wollte Joseph Goebbels Funktionen wie die des Leiters der Abteilung Film im Reichs­propagandaministerium und des Reichsfilmintendanten antragen. Nach dem Gespräch mit dem Minister reiste Lang nach Paris ab. Sein letzter in Deutschland gedrehter Film, »Das Testament des Dr. Mabuse« (1932), wurde 1933 verboten. 1941 schuf er eine der ersten Hollywood-Produktionen mit Antinazithematik: »Menschenjagd« um den Versuch eines Attentats auf Adolf Hitler.

Cineastische Bekenntnisse

Von »Exilfilm« ist vor allem dann zu sprechen, wenn mindestens zwei der Schlüsselpositionen – Drehbuch, Produktion, Regie – von Emigranten besetzt wurden. In diesem Sinne entstanden im US-Exil zwischen 1933 und 1945 insgesamt 60 Filme. Häufig finden sich in ihnen Bezugnahmen, mindestens aber Anspielungen auf die Situation in Deutschland und Europa. Zum Beispiel ergriff Wilhelm Dieterle 1938 in seinem Film »Blockade« Partei für die spanischen Republikaner. Teilweise konnten die deutschen Einwanderer starken Einfluß auf die Produktion ausüben, so bei der Paramount Ernst Lubitsch und Billy Wilder; bei Warner Brothers Wilhelm Dieterle. Langfristig erfolgreich waren unter anderen Conrad Veidt, Peter Lorre, Curt Bois und Albert Bassermann; nicht zuletzt die schon vor 1933 in die USA übergesiedelte Marlene Dietrich.

Man kann sagen, daß ganze Genres des amerikanischen Kinos in hohem Maße von Emigranten mitgeprägt wurden. Zum Beispiel, das ist naheliegend, der Antinazifilm, aber auch die Filmkomödie und der künstlerbiographische Film. Anatole Michael Litvak, der bis 1925 in der Sowjetunion Dramaturg bei Wsewolod Meyerhold und Jewgeni Wachtangow war, drehte 1939 »Bekenntnisse eines Nazispions«, den ersten amerikanischen Antinazifilm, mit Edward G. Robinson und acht exilierten Schauspielern. Milton Krims und John Wexley – später, 1943, neben Bertolt Brecht Mitautor von Fritz Langs »Auch Henker müssen sterben« – schrieben den Film nach Zeitungs- und Wochenschauberichten über einen deutschen Spionagering, unter zeitweiliger Mitarbeit von Brecht.

Zwischen Kunst und Konvention

In solchen Filmen kamen aber nicht nur die Bemühungen der Filmautoren um künstlerische Authentizität – ungeachtet der räumlichen Ferne von den politisch-militärischen Ereignissen – und die offiziellen propagandistischen Interessen nach der Beendigung des US-amerikanischen Isolationismus zum Tragen. Denn in Hollywood hatten sich eine auch vom nichtjüdischen Amerika begeistert aufgenommene filmerzählerische Technik und eine massenkulturelle Utopie entwickelt, die unter anderem an Pionierleistungen wie die von David Wark Griffith anknüpften. Er war Schöpfer der Monumentalfilme »Geburt einer Nation« (1915) und »Intoleranz« (1916). Die Kinoleinwand wurde schon hier zum großen, extremen und erregenden Spiegel massenkulturellen Utopismus, vermittelt über erzählerische Kontinuität, Illusion und Identifikation. Zu den wesentlichen Wertvorstellungen dieser Utopie gehörten: individuelle Freiheit, wirtschaftlicher Erfolg, soziales Prestige, private Sicherheit, Familienglück, juristische Gerechtigkeit. All das manifestierte sich in einer transkulturell kommunizierbaren, universal gültigen Bilder-, Zeichen- und Montagesprache.

An deren Entwicklung waren viele jüdische Filmschaffende beteiligt. Sie schloß zum Beispiel Darstellungen der rassistischen Verfolgung und der körperlichen Gewalt ein. Die immer wieder erscheinenden filmischen Bilder von der Farm, die in Brand gesetzt wird, von Familien, die auseinandergerissen werden, können auch als visuelle Reflexe eigener, in Osteuropa gemachter Verfolgungserfahrungen gedeutet werden. Man denke an Spielfilme wie »Vom Winde verweht« (Victor Fleming, 1939) und »Der Fiedler auf dem Dach« (Norman Jewison, 1971; nach dem Musical »Anatevka«). In den Familien der Hollywood-Filmleute blieb die Atmosphäre der Angst lebendig. Zum Beispiel auch in Filmen, die häufig bürgerliche Intellektuelle als Opfer des Nazismus darstellten, wie bei George Froeschel, der für MGM das Drehbuch zu Frank Borzages »Tödlicher Sturm« (1940) über den Zerfall einer »arisch«-jüdischen Familie schrieb. Derselbe Autor verfaßte zusammen mit Arthur Wimperis und James Hilton das Buch zu William Wylers »Mrs. Miniver« (1942), einer Liebesgeschichte zwischen Angehörigen von Aristokratie und Bürgertum vor dem Hintergrund des Weltkriegsalltags.

Aber Hollywood-Produktionen wie diese sind bei allem Bemühen um Zeitbezogenheit zugleich extrem künstliche Inszenierungen. Sie bestehen aus vielen Verknappungen, Zuspitzungen, Symbolisierungen, Hierarchisierungen und Emotionalisierungen. Es entsprach der vorherrschenden Hollywood-Stilistik, auch die erlebbare Wirklichkeit in Klischeebildern wiederzugeben – in Formen des Melodrams, des Abenteuer- und Kriminalfilms. Die Arbeit der deutschsprachig-jüdischen Emigranten ging deshalb zwangsläufig auf sowohl im kollektiven, in den aktuellen Zeichen seiner Entstehungszeit sich ausdrückenden Werk als auch in der Kinowelt des Empfangslandes. Die Hollywood-Produktion war – und ist – eine ökonomisch streng kalkulierte, hochgradig arbeitsteilige, standardisierte Großproduktion mit etablierten Mustern, klassischen Prototypen, erfolgversprechenden Situationen und Ausdrucksweisen.

Charakter oder Typ?

Der Anpassungsdruck war riesig, wie man zum Beispiel den Erinnerungen von Hanns Eisler entnehmen kann (»Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht«, 1975). Natürlich auch für die Schauspieler unter den Emigranten, deren Berufsethos zuvor vom klassischen, bürgerlich-humanistischen deutschsprachigen Theater und vom realistischen Stummfilm geprägt wurde. So stießen ihr psychologisches Einfühlungsvermögen, ihr ausdrucksstarkes Spiel, ihre gehobene Bühnensprache auf das »understatement« der US-Kollegen. Und das vorherrschende »type-casting« waren sie nicht gewohnt, also daß Besetzungen gar nicht primär nach schauspielerischen Fähigkeiten, sondern nach der vermuteten Wirkung des jeweiligen »Typs« von »character-actor« erfolgten.

Überdies war das amerikanische Publikum zu einem Großteil gar nicht vorbereitet auf realistische Erzählung, geschweige auf politische Argumentation. Häufig gab es daher auch in den Antinazifilmen soziale Unstimmigkeiten, simples Überstülpen gängiger dramaturgischer Konstruktionen, gab es lärmenden Heroismus, reißerische Spannung und sentimentale Verkitschung. Zum Beispiel machten die Drehbuchautoren Gina Kaus und Jay Dratler im »Casablanca«-Jahr 1942 in »Eine Frau trifft einen Flieger« von Richard Wallace den Überlebenskampf eines abgeschossenen englischen Piloten zur sentimentalen Romanze.

Zu beachten ist heute: Die Vorstellungen des europäischen, also auch des deutschen, Filmpublikums in Sachen Wahrscheinlichkeit des sinnlichen Abbilds sind weitgehend geprägt zum Beispiel vom realistischen Roman und Spielfilm, darunter vom italienischen sogenannten Neorealismus. Diese zielen zumeist auf soziale Profilierung innerhalb geschichtsbedingter Prozesse. In Hollywood wurde dagegen weniger Wert auf logische Szenenführung und Herausarbeitung des sozialen Gestus gelegt; vielmehr dominierten freizügig erfundene, auf Überraschung ausgerichtete Bildsituationen; dominierten Situationen und Vorgänge, die häufig jeder Erfahrung widersprechen, trotzdem aber zumindest teilweise überzeugen. Ein Beispiel ist jene »Casablanca«-Szene voller politisch aufgeladener Emotionalität, in der Victor Laszlo die »Marseillaise« gegen die von deutschen Offizieren gesungene »Wacht am Rhein« anstimmen läßt.

Film und Propaganda

Die Kriegsereignisse führten in den USA also zu einer engeren Verzahnung von Filmkunst, Kulturindustrie, Politik und Patriotismus. Bereits im Dezember 1941 wurde ein regierungsamtlicher Themenkatalog für die Filmproduktion erstellt, der neben der Aufdeckung der »Natur des Feindes« die Propagierung der »amerikanischen Lebensweise« vorsah. Nach den schon genannten Vorläufern von Anatole Litvak und Fritz Lang, nach Charlie Chaplins »Der große Diktator« (1940) entstanden besonders in den Jahren 1942/43/44 in Hollywood – stets unter der Mitwirkung von Emigranten – weitere wichtige Antinazifilme. Zu ihnen zählen: »Sein oder Nichtsein« von Ernst Lubitsch, »Das siebte Kreuz« von Fred Zinnemann (nach Anna Seghers), »Auch Henker müssen sterben« von Fritz Lang (nach John Wexley und Bertolt Brecht); »Fünf Gräber bis Kairo« von Billy Wilder, »Die Geheimwaffe« von Alfred Louis Werker, »Hitler der Wahnsinnige« von Douglas Sirk (Detlef Sierck) und »Sabotage« von Alfred Hitchcock. Zwischen dem Sieg der Roten Armee bei Stalingrad und der Konferenz von Teheran schickten Warner Bros. und Michael Curtiz sogar einen »Botschafter nach Moskau« und ließen »Uncle Joe«, wie Stalin von den Amerikanern genannt wurde, in prallen Szenen vom Volk bejubeln.

Wenige Jahre danach begannen in Hollywood Senator McCarthy und die Inlandsgeheimdienste, plumper Antikommunismus und Kalter Krieg zu wüten – um von späteren, auch jüngsten kooperativen Entwicklungen zwischen Weißem Haus, Pentagon und Beverly Hills zu schweigen. Um so mehr sollten die historisch-politischen, emigrations- und mediengeschichtlichen Koordinaten von Filmen wie »Casa­blanca« im Rummel um »100 Jahre Hollywood« nicht untergehen. Um so mehr sollten heute insgesamt für jenes cineastische Engagement des »Casablanca«-Pianisten Sam (Dooley Wilson) Worte gelten: »You must remember this …« – Ihr müßt euch daran erinnern …

* Dr. habil. Gerhard Wagner lebt als Wissenschaftspublizist und -lektor in Berlin.

Aus: junge Welt, 27. Oktober 2011



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