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Frieden durch Recht und Gerechtigkeit

Aktuelle Herausforderungen für Friedensethik und kirchliches Friedenshandeln. Positionspapier der Evangelischen Kirche von Westfalen

Das nachfolgende Papier wurde im Sommer 2002 als Diskussionspapier verabschiedet. Wir dokumentieren es ohne die Fußnoten.


Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 haben zu einer weltweiten Veränderung der friedens- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen am Beginn des 21. Jahrhunderts geführt. Kritiker wie Befürworter militärischen Eingreifens in eskalierenden Konflikten stehen heute vor der Frage, wie den neuen Formen nicht mehr nur staatlicher Gewalt in einer sich vernetzenden Welt wirksam begegnet werden kann.

In der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wird insbesondere seit der Kosovo-Intervention 1999 engagiert und kontrovers die Diskussion über das friedensethische Zeugnis der Kirche geführt1; sie findet im Blick auf die seit dem 11. September 2001 veränderte Welt vertieft statt. Auch die Evangelische Kirche von Westfalen darf in dieser Zeit in der Wahrnehmung ihres Friedensauftrages nicht nachlassen.
Die United Church of Christ (UCC), unsere Partnerkirche in den USA, hat nach dem 11. September 2001 öffentlich erklärt: "Wir bekennen als Christinnen und Christen, dass Gewalt mit neuer Gewalt beantwortet wurde, dass wir vom Weg des Kreuzes zum Weg des Schwertes abgewichen sind, ... dass die Vision eines gerechten Friedens unfassbar erscheint in einer Welt, die sich von militärischer Macht faszinieren lässt".



I. Neue friedenspolitische und friedensethische Herausforderungen

1. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist eine neue Form des internationalen Terrorismus in Erscheinung getreten, welche die Staaten und Zivilgesellschaften vor neue Fragen der Sicherheit und des vorbeugenden und nachhaltigen Schutzes von Menschenleben stellt. Dies bedeutet eine weitere Steigerung der weltweiten Bedrohung und des Elends durch unzählige gewaltsame Konflikte und deren Folgen, denen jährlich Hunderttausende von Menschen zum Opfer fallen. Die Bekämpfung dieser neuartigen Bedrohung allein mit militärischen Mitteln und Strategien führt nicht zum Ziel, wie die Militäreinsätze in Afghanistan gezeigt haben. Eine noch stärkere militärische Aufrüstung, die dem notwendigen Kampf gegen Hunger und Unterentwicklung weitere, essentielle Ressourcen entzieht, kann nicht die angemessene Antwort auf diese neue Bedrohung sein. Die Staatengemeinschaft steht deshalb vor der Aufgabe, einerseits sachgerechte, mehrdimensionale Konzepte zur Bekämpfung und Überwindung des Terrorismus zu entwickeln. Andererseits gilt es zu verhindern, dass die de facto gegebene Bedrohung missbraucht wird, um in der Sache unangemessene Interessen zu verfolgen.

2. Die neue Ausprägung des Terrorismus steht in engem Zusammenhang mit einem fortschreitenden Prozess der Privatisierung, Kommerzialisierung und Entstaatlichung von Gewalt, der das Gewaltmonopol von Staaten in vielen Teilen der Welt zunehmend auszuhöhlen droht. Diese neuen Formen organisierter und krimineller Gewalt überlagern bzw. durchdringen klassische, gewaltsame Konflikte zwischen Staaten, Bürgerkriegsparteien und unterschiedlichen ethnischen Gruppen bis hin zum Völkermord.
Diese Formen der Gewaltausübung lassen sich mit der klassischen Vorstellung des Krieges als zwischenstaatlicher gewaltförmiger Konfliktaustragung nicht mehr erfassen, womit auch eine klare Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit unmöglich wird. Sie stellen die Staaten vor die Herausforderung, eine neue Verbindung von Maßnahmen zur inneren und äußeren Sicherheit und neue Formen von Kooperation zwischen Polizei und Militär bei internationalen Einsätzen zu suchen.

3. Die Ursachen der neuen Formen von Gewalt und Terrorismus sind vielfältig. Zu ihnen gehören sowohl ungelöste nationale und regionale Konflikte als auch fehlgeschlagene Modernisierungsprozesse und repressive Regimes, vor allem aber eine ungezügelte Globalisierung und die damit einhergehenden ökonomischen Ungleichheiten, die viele Menschen nicht nur in den ärmeren und schwächeren Ländern der Welt verletzen und demütigen. Dieser Zusammenhang setzt die unlösliche Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit mit neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung und erfordert ein intensives Nachdenken über wirksame Maßnahmen zur Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. Nur Maßnahmen, die gerechte, partizipatorische und nachhaltige Lebensbedingungen schaffen, werden Gewalt und Terror den Nährboden entziehen.

4. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben in neuer Weise darauf aufmerksam gemacht, wie und in welchem Ausmaß Religion und Weltanschauungen als Begründung für Gewalt und kriegerische Akte benutzt werden. Dies gilt insbesondere für Fundamentalismen, die Religionen und ihre Glaubenssätze in eine politische Ideologie verwandeln. Sie entwerfen ein Zukunftsszenario des weltweiten "Kampfes der Kulturen" (Samuel Huntington), in dem zentrale Konflikte nicht mehr dem Gegensatz von Nationen und Ideologien zugeschrieben werden. Vielmehr werden die großen Kulturkreise als sich feindlich gegenüberstehend angesehen. Diese Entwicklungen und die damit zusammenhängenden Probleme stellen die Religionen bzw. Kirchen in neuer Weise vor die Herausforderung, die Friedenspotentiale ihres Glaubens herauszuarbeiten. Ziel dieses Prozesses ist es, dass es in Zukunft nicht zu einem "Kampf" sondern zu einem aufrichtigen und respektvollen Dialog der Religionen und der von ihnen geprägten Kulturen kommt.

5. Die NATO hat auf die neuen internationalen Herausforderungen mit einer Veränderung ihres strategischen Konzepts reagiert, mit der insbesondere das Verständnis von Sicherheit und der Bündnisauftrag neu definiert werden: Militärische Interventionen der Bündnispartner aus außenpolitischen und geostrategischen Interessen werden jetzt nicht mehr ausgeschlossen. Die Führungsmacht USA betont dabei zunehmend die militärische Komponente und erweitert im Kampf gegen den Terrorismus die Ziele und verschärft die Mittel bis hin zur Androhung des Einsatzes von Miniatombomben. Sie weckt zudem den Eindruck, ökonomische Interessen zu verfolgen und internationale Rechtsgrundlagen unberücksichtigt zu lassen. Auch Deutschland hat im Zuge dieser Entwicklung seine langjährige militärische Zurückhaltung aufgegeben und beteiligt sich jetzt verstärkt an militärischen Aktivitäten, was im Gegenüber zum sicherheitspolitischen Selbstverständnis der Bundesrepublik der Nachkriegszeit einen gravierenden Wandel in der Grundorientierung bedeutet. Problematisch ist im Einzelfall die Legitimation durch nationale Rechtsgrundlagen.

6. Obwohl die USA und Russland aufgrund neuer strategischer Ziele und neuer Allianzen gerade erst vertraglich vereinbart haben, ihre Hochrüstung mit großen atomaren Massenvernichtungsmitteln abzubauen, hat die Bedrohung in den letzten Jahren zugenommen. Angesichts der militärisch-konventionellen Überlegenheit der Großmächte wird der Besitz von Massenvernichtungsmitteln für schwächere, zum Teil politisch instabile Staaten und für Terroristen als Drohmittel immer attraktiver. Werden die weitere Entwicklung, die Herstellung und die Weiterverbreitung nicht konsequenter gestoppt, besteht die Gefahr, dass es bereits in naher Zukunft zu unkontrollierten Anwendungen von Massenvernichtungsmitteln kommen kann, deren Folgen unabsehbar wären. Deshalb muss umgehend neu über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln, eine wirksamere Kontrolle der Lagerstätten und über Mittel und Wege weltweiter atomarer Abrüstung nachgedacht und verhandelt werden.

7. Die Militär-Einsätze im Kosovo und in Afghanistan haben gezeigt, wie einflussreich auch die Medien - insbesondere das Fernsehen - für die Begründung, Legitimation und Bewertung militärischer Einsätze sind. Mit ihrer Hilfe wird nicht nur informiert, sondern zunehmend auch im Sinne bestimmter militärischer Interessen und Optionen manipuliert, indem Wirklichkeit nur sehr fragmentarisch oder verfälscht wiedergegeben wird bzw. aufgrund von Zensur wiedergegeben werden kann. Diese Entwicklung macht eine auch nur annähernd sachlich-objektive Beurteilung militärischer Einsätze und ihrer Voraussetzungen immer schwieriger. Sie fordert deshalb dazu heraus, intensiver darüber nachzudenken, wie in Zukunft der "Macht der Bilder" angemessen begegnet und eine umfassende und wahrheitsgemäße Information gesichert werden kann.

8. Die beschriebenen neuen friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen haben dazu geführt, dass pazifistische Positionen zunehmend umgedeutet und instrumentalisiert werden. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird dabei der Eindruck erweckt, als habe im 21. Jahrhundert nur noch ein "Pazifismus" Berechtigung, der die Anwendung militärischer Gewalt einschließt bzw. ausdrücklich rechtfertigt. Demgegenüber ist zu betonen, dass ein verantwortlicher Pazifismus sich konsequent um eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung mit dem Ziel der Aufrichtung einer Rechtsordnung bemüht, ohne deshalb mit einem sogenannten radikalen Gesinnungspazifismus identisch zu sein. Gerade die in Politik und Gesellschaft zunehmende Bereitschaft, militärische Konfliktlösungsstrategien zu akzeptieren, erfordert ein pazifistisches Korrektiv, das sich selbst als reale Alternative und politische Kraft versteht. Daraus folgt auch, dass pazifistische Positionen immer wieder neu beschrieben werden müssen, um in ihrer Normenorientierung auch als Ausdruck einer Politik gestaltenden Kraft zur Ächtung und Überwindung von Gewalt verstanden und wirksam werden zu können.
Obwohl in Europa und weltweit das Bewusstsein für die Notwendigkeit ziviler Konfliktbearbeitung gewachsen ist und der Ausbau nichtmilitärischer Instrumente zugenommen hat, ist parallel dazu eine ansteigende Gewaltbereitschaft bzw. Enthemmung von Gewalt zu beobachten. Damit einher geht die Enttabuisierung des Krieges als Mittel der Politik, was in der Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 einen gravierenden Einschnitt darstellt. Diese Entwicklungen erschüttern nicht zuletzt das Vertrauen darauf, dass gegenwärtige und zukünftige Konflikte tatsächlich und vor allem mit friedlichen, das heißt politischen und zivilen Mitteln bewältigt werden können. Um dieses Vertrauen neu zu stärken, ist es notwendig, die Verheißung gewaltfreier Mittel und den Grund der Hoffnung auf sie neu herauszuarbeiten und bewusst zu machen. Es gilt, die "gelungenen" Beispiele einzelner gewaltpräventiver Maßnahmen etwa auf Seiten der OSZE oder von Nichtregierungsorganisationen ins Bewusstsein zu bringen und ihren Stellenwert in bezug auf die friedens- und sicherheitspolitische Wirksamkeit zu verbessern.



II. Grundlagen und Zielperspektiven christlichen Friedenshandelns

Die Kirche ist dazu berufen, Zeugnis von der versöhnenden und friedenstiftenden Kraft Gottes zu geben. Gottes Schalom ist dabei zugleich Verheißung und Leitbild. Die Bibel stellt den untrennbaren Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt allen Friedenshandelns: "Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und die Frucht des Rechtes Sicherheit auf ewig." (Jes 32,17; vgl. Ps 85,11ff). Der unlösbare Zusammenhang von Frieden und Recht führt über den Horizont individueller Ethik hinaus und zielt ab auf die Veränderung von gesellschaftlichen und globalen Strukturen. Diesen Schalom, der auch die Unversehrtheit der ganzen Schöpfung mit einschließt, gilt es zu suchen und ihm nachzujagen (Ps 34,15).

Die ökumenische Versammlung in Basel 1989 "Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung" formulierte als Grundlage christlicher Friedensverantwortung: "Als Christen glauben wir, dass wahrer Friede gewährt wird, wenn wir den Weg mit Christus gehen. Seine Absage an Gewalt fließt aus der Liebe, die sogar den Feind sucht, um ihn zu verwandeln und sowohl Feindschaft wie Gewalt zu überwinden. Diese Liebe ist bereit, in aktiver Weise zu leiden. Sie entlarvt den ungerechten Charakter des Gewaltaktes, zieht jene zur Rechenschaft, die Gewalt anwenden, und zieht den Feind in eine Beziehung des Friedens hinein (Mt 5,38-48; Joh 18,23). Jesus stellt den Weg der Gewaltlosigkeit unter die Verheißung einer friedlichen Erde (Mt 5,5). Auch wenn wir das Problem der Selbstverteidigung und die Pflicht des Staates zum Schutz seiner Bürger anerkennen, sind wir immer noch konfrontiert mit Leben, Lehre und Vorbild Jesu Christi."

Unumstrittene Ziele allen Friedenshandelns der Kirchen sind deshalb die Überwindung von Gewalt und die Förderung eines gerechten Friedens: "Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg", formuliert die Friedensdenkschrift der EKD von 1981.

Die Kirche nimmt diese Friedensverantwortung unter anderem wahr durch Stellungnahmen und Worte, die jeweils auf einen aktuellen Kontext Bezug nehmen und deshalb je neu ausgerichtet und formuliert werden müssen. Sie wendet sich sowohl an die Entscheidungsträger in Politik und Militär als auch an einzelne Christinnen und Christen im Blick auf die ethische Beurteilung des staatlichen Friedenshandelns. Im Sinne der These V der "Barmer Theologischen Erklärung" (1934) hat der Staat "in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen". Unter Anerkennung dieser Zweckbestimmung des Staates "erinnert die Kirche an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten". Die Kirche hat demzufolge die Aufgabe und die Pflicht kritisch danach zu fragen, wie der Staat sein Monopol zur Androhung und - im Notfall - auch der Anwendung von Gewalt an die Verpflichtung gebunden sieht, für Recht und Frieden, Wohlergehen und Freiheit zu sorgen. Gerade die Diskussion um eine christliche Ethik des Politischen nach 1945 hat gezeigt, dass das Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit auch die öffentliche Kritik am Handeln des Staates und seiner Institutionen einschließen kann und sogar beinhalten muss. Dies wahrzunehmen, stellt ein wesentliches Element politischer Kultur in der rechtsstaatlichen Demokratie dar.

Während der Blockkonfrontation zwischen Ost und West haben die Kirchen immer wieder und eindringlich gegen Geist, Logik und Praxis der Abschreckung mit atomaren Massenvernichtungsmitteln Einspruch erhoben. Sie haben sich insbesondere für ein Moratorium feindseliger Rhetorik und für die Entwicklung und Umsetzung eines Konzeptes einer umfassenden Sicherheitspartnerschaft eingesetzt, dem wechselseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zur Versöhnung zugrunde gelegt wurde.

Die Evangelische Kirche von Westfalen hat in zahlreichen Synodenerklärungen das Engagement in diese Richtung entscheidend vorangetrieben, z.B. in dem Beschluss der Landessynode 1982: "Christen sagen nein zur Anwendung und zum Einsatz der Massenvernichtungsmittel ... Die Etablierung erkennbar defensiver Sicherheitssysteme gehört auf die internationale Tagesordnung ... Nicht die Glaubwürdigkeit der Abschreckung, sondern die der Friedensfähigkeit ist zu erweisen." Seit 1985 gehört die "Aufgabe einer Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion" (und ihren heutigen Nachfolgestaaten) für die EKvW zu den zentralen Schwerpunkten ihrer Arbeit; getragen sowohl von Synode und Kirchenleitung wie auch von den Gemeinden und Gruppen: "Versöhnung allein kann die Grundlage bieten für eine verstärkte Politik des Friedens und der Partnerschaft gegenüber der Sowjetunion ... Die Arbeit an dem Prozess der Versöhnung duldet deshalb keinen weiteren Aufschub." (Wort der Landessynode 1985).

Heute, mehr als 10 Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, müssen wir als Kirche neu darüber nachdenken, wie auf die gegenwärtigen Herausforderungen angemessen reagiert und das eigene friedensethische Bekenntnis profiliert werden kann. Die Glaubwürdigkeit christlichen Friedenshandelns hängt entscheidend davon ab, ob die selbst gesetzten Legitimationskriterien zur Anwendung militärischer Gewalt auch angewendet und eingeklagt werden. "Die nachhaltige, friedenschaffende Leistungsfähigkeit herkömmlicher militärischer Mittel in einer veränderten politischen Landschaft ist es, die in Frage steht ... Der Leitbegriff des gerechten Friedens dient dabei als Wegweiser für alle künftigen Schritte auf dem Weg des Friedens."



III. Aktuelle Leitlinien für das christliche Friedenshandeln

1. Verständnis von gemeinsamer Sicherheit entwickeln
Angesichts der neuen Formen des internationalen Terrorismus und des Prozesses der Entstaatlichung von Gewalt ist es dringend geboten, das Verständnis von Sicherheit neu zu überdenken. Für die internationalen Beziehungen ist ein "positiver" Sicherheitsbegriff zu formulieren, der in der Beschreibung gemeinsamer Interessen auf die Einbindung militärischer Optionen in rechtliche, politische, soziale und kulturelle Strategien abhebt. Ziel muss dabei sein, militärische Bedrohungen und Optionen der Anwendung militärischer Gewalt zu minimieren.
Als wesentlichen Beitrag haben die Kirchen in konkreten Konflikten die zivilen Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten für nationale und internationale Akteure aufzuzeigen und sie darin zu unterstützen, aber auch zu verpflichten, diese vorrangig einzusetzen. Hinsichtlich einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung ist es Aufgabe der Kirchen, die Bindung der Gewalt an das Recht, also die Einhaltung und den Ausbau internationaler Rechtsinstanzen zu stärken, um so Außenpolitik auf eine Weltinnenpolitik hin weiter zu entwickeln. Weiterhin besteht eine wichtige Aufgabe der Kirchen darin, ein christliches Verständnis von Sicherheit zu entwickeln und einzubringen, bei dem Sicherheit nur mit und nicht gegen die Partner verstanden werden darf. Grundvoraussetzung hierfür ist eine eingehende biblisch-theologische Reflexion.

2. Als Antwort auf Gewalt das Recht stärken
So wie innerstaatliche Konflikte durch das jeweilige nationale Recht geregelt werden, so ist in der internationalen Friedensordnung das Völkerrecht, insbesondere die Charta der Vereinten Nationen anzuwenden. Die Völkergemeinschaft hat eine Agenda für den Frieden entwickelt und unterhält einen Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, verfügt aber noch nicht über eine Exekutive, wie sie nach der UN-Charta vorgesehen ist. Der Ausbau internationaler Ordnungsstrukturen zur Krisenprävention und zur zivilen Konfliktbearbeitung ist dringend notwendig. In diesem Zusammenhang gewinnen Fragen der Rechtsordnung und des Mandates an Bedeutung. Es ist darauf zu drängen, dass das Monopol der UN zur Legitimation aller Formen der Friedenserzwingung mit Waffengewalt unbedingt respektiert wird. Zu den Aufgaben kirchlichen Friedenshandelns gehört, die Vereinten Nationen konstruktiv zu fördern und zu stärken sowie zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen. Ebenso gehört dazu die Beteiligung an den Bemühungen um die Fortentwicklung internationalen Rechts und seiner Institutionen, wie sie in der im Jahr 2002 vollzogenen Ratifizierung des Statutes für einen Internationalen Strafgerichtshof zum Ausdruck kommt. An die Stelle des Rechts des Stärkeren muss die Bindung an die Stärke des Rechts in der Völkergemeinschaft treten. Es liegt in der Perspektive einer internationalen Rechtsordnung, die Einsatzmöglichkeiten herkömmlicher militärischer Mittel zunehmend als begrenzt anzusehen und mit Nachdruck die Entwicklung einer international legitimierten und handlungsfähigen polizeilichen Gewalt zu befördern.

3. Durch Gerechtigkeit Frieden schaffen
Die Folgen der Globalisierung unter der Herrschaft der Finanzmärkte sowie die Auswirkungen der Schuldenkrise in vielen Ländern der Welt erzeugen ein Klima, in dem Gewalt- und Terrorbereitschaft wachsen. Nur ein umfassender Sicherheitsbegriff, der zu aller erst nichtmilitärisch verstanden wird, soziale, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Dimensionen umfasst und über das eigene Bündnissystem hinaus entfaltet wird, kann finanziell und materiell die Mittel freisetzen, die erforderlich sind, damit die großen Menschheitsaufgaben wie Hunger, Unterentwicklung und die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts angemessen gelöst werden können. Darum muss die Kirche immer wieder deutlich fragen: Wie müssen Rüstungs- und Militärausgaben dimensioniert sein, um nicht im Widerspruch zu einer an einem gerechten Frieden orientierten Politik zu stehen?.

4. Dem gewaltfreien Handeln als "prima ratio" den Vorrang geben
Militärische Mittel können gewaltsame Konflikte unterdrücken, im besten Fall begrenzen oder unterbrechen, Frieden schaffen können sie jedoch nicht. Sie sind allenfalls als ein Versuch anzusehen, einen Zustand herzustellen, der es den beteiligten Konfliktparteien erlaubt, selbst wieder zu handelnden Subjekten in einem Prozess zu werden, der eine Lösung mit zivilen Mitteln befördert. Die Friedens- und Konfliktforschung hat dies immer wieder in ihren Analysen deutlich gemacht. Die aktuelle Warnung vor den Risiken einer "Enttabuisierung des Militärischen" unterstreicht die Aufgabe der Kirchen, hier wachsam zu sein.
Friedensethische Orientierung muss die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung militärischer Gewalt benennen und einer immer wieder auftretenden Überbewertung militärischer Optionen widersprechen. Christliche Friedensethik muss auf die "prima ratio" des gewaltfreien Handelns hinweisen und selbst im Falle eines unausweichlich scheinenden militärischen Eingreifens immer wieder die Frage stellen, ob tatsächlich alle zivilen Lösungspotentiale ausgeschöpft wurden. Die zivilen Instrumentarien staatlichen Handelns und die kirchlicher wie anderer nichtstaatlicher Akteure müssen stärker ausgebaut und konsequenter angewendet werden. Die Kirchen haben um ihres Auftrages und der Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses willen hier eine vorrangige Aufgabe, dieses im staatlichen Bereich anzumahnen und in ihrer eigenen Sozialgestalt umzusetzen. Die Kirchen müssen eindeutig öffentlich vertreten, dass das Ziel christlicher Friedensethik die Überwindung von Gewalt ist - und dass dieses einhergeht mit der Schaffung von "Kulturen des Friedens".

5. Für den Einsatz militärischer Mittel als "ultima ratio" eng gefasste, anwendbare Kriterien in der Zielperspektive eines Gerechten Friedens entwickeln
Die Notwendigkeit der Anwendung militärischer Gewalt zur Beendigung illegitimer Gewalt als klar definierte "ultima ratio" bzw. äußerste Möglichkeit kann nicht in jedem Fall kategorisch abgelehnt werden. Als "äußerste Möglichkeit" kann dies zur Beendigung oder Begrenzung von Gewalt notwendig sein, wenn alle anderen Mittel, das Leben und das Recht bedrohter Menschen zu schützen, ausgeschöpft oder erkennbar ohne Erfolgsaussichten sind. Der Gebrauch militärischer Gewalt ist dabei jedoch nur als eine im Gesamtzusammenhang mit anderen Maßnahmen stehende Option mit begrenzter Wirkung zu rechtfertigen.
Voraussetzung für einen verantwortlichen Umgang mit der "ultima ratio" ist eine genauere Eingrenzung des "ultima-ratio-Falles" und seiner Bedingungen. Wird "ultima ratio" vor allem als letztes Mittel im Rahmen eines Stufenmodells der zeitlichen Abfolge verschiedener Maßnahmen verstanden, wobei die letzte Stufe in dem schließlich scheinbar unabwendbaren Einsatz militärischer Gewalt besteht, verfehlt sie ihren Zweck. Ebenso wird das Ziel dieser Denkfigur nicht erreicht, zur ethischen Gewaltkritik und Gewaltbegrenzung plausibel beizutragen.
Es kommt deshalb darauf an, genauere und umfassendere Kriterien dafür festzulegen, unter welchen Bedingungen der "ultima-ratio-Fall" tatsächlich gegeben ist - und diese dann auch konsequent anzuwenden. Dazu gehören unter anderem: Ein gerechter Grund, die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten, eine legitime Autorität, eine berechtigte Intention (Zielklarheit), der Ausschluss verbotener Waffen, die Verhältnismäßigkeit der Mittel (Ziel-Mittel-Relation), die Folgenabschätzung, die Beachtung des Eskalationsrisikos, der Primat der Politik, die Ausstiegsoption und weitere Fragen, die an die Androhung und Anwendung von Gewalt als "ultima ratio" gestellt werden müssen. Christliche Friedensethik hat die Aufgabe, diese Kriterien vollständig und konkret zu benennen und in ihrer Urteilsbildung konsequent zu entfalten und anzuwenden. Die von der EKD in ihrer 2001 veröffentlichten Schrift "Friedensethik in der Bewährung" entwickelten "Prüfkriterien" stellen einen Schritt in diese Richtung dar. Sie müssen jedoch noch weiter ausdifferenziert, präzisiert und ergänzt werden, um im Grenzfall militärischer Gewaltanwendung zu einer klaren und verbindlichen Urteilsbildung gelangen zu können.
Auch hierbei ist das Leitbild des gerechten Friedens von zentraler Bedeutung und unabdingbare Zielorientierung allen Nachdenkens über eine "ultima ratio". Die Denkfigur der "ultima ratio" muss verdeutlichen können, dass sie nicht an eine Rahmentheorie vom "gerechten Krieg" gebunden ist, der als systematisch und geschichtlich überholt im Rahmen der christlichen Kirchen in Deutschland keinen Bestand mehr hat.

6. Auch im Konflikt die Pflicht zur Wahrhaftigkeit achten
Angesichts von Manipulationen in der Kriegs- und Krisenberichterstattung ist es für die ethische Orientierung von entscheidender Bedeutung, den Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt von Informationen, die zur Bildung öffentlicher Meinung benutzt werden, offen zu legen. Dabei muss gefragt werden, wer mit welcher Intention und welchen Mitteln welche Ziele verfolgt. Angesichts der interessegeleiteten Informationspolitik der politisch Verantwortlichen ist dies eine schwierige, aber unverzichtbare Aufgabe. Die Kirchen sind daher aufgefordert, immer wieder auf die Offenlegung und Plausibilisierung der verfolgten Ziele zu drängen. Dazu gehört auch das "fact-finding" der Kirche selbst, etwa im Gespräch mit den Kirchen in der ökumenischen Gemeinschaft sowie den Nichtregierungsorganisationen. Die Instrumentarien müssen in der kirchlichen Zusammenarbeit weiter ausgebaut und gestärkt werden. Notwendig ist ferner eine kritische Überprüfung von Schlüsselbegriffen (Terrorismus, Krieg, etc.), an der sich die Kirchen auf biblischer Grundlage und im Austausch mit ihren ökumenischen Partnern beteiligen sollten.

7. In den Religionen die Kraft zum Frieden stärken
Den Religionen wohnt eine gemeinsame Kraft zum Frieden und zur Versöhnung inne. Gleichwohl gehört zu ihrer Geschichte auch das Erbe der Gewalt, das Trennungen verursacht und Hass schürt. Den Religionen kommt deshalb eine besondere Rolle im multilateralen Bemühen zur Verminderung von Gewalt zu. Hier ist über die bisherigen Dialogversuche hinaus in Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit voreinander danach zu fragen, welche Schritte, Initiativen und Methoden geeignet sind, um die friedensstiftenden Kräfte in allen Religionen zu stärken. Dabei haben gegenwärtig die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam - gerade auch auf dem Hintergrund ihrer Gewalterfahrungen miteinander -, eine besondere Aufgabe zur Verständigung. Wechselseitige Wahrnehmung, Überwindung von Pauschalismen und Feindbildern sowie die klare Unterscheidung von politischer Macht und religiöser Autorität sind heute ein unaufgebbarer Friedensbeitrag. Der christliche Auftrag zur Versöhnung bezieht sich auch auf das Verhältnis zu den anderen Religionen. In der Gemeinschaft des Gebetes für den Frieden beginnt die versöhnende Kraft Gottes Wirklichkeit zu werden.

8. Die gegenwärtige NATO-Strategie und ihre Konsequenzen für die Bundeswehr überprüfen
Der dem neuen strategischen Konzept der NATO zugrunde liegende Begriff der Sicherheit und der Auftrag militärischer Streitkräfte jenseits der Landesverteidigung muss untersucht und neu bewertet werden. Dies muss einhergehen mit der Prüfung der Frage, ob in diesem Zusammenhang nicht Situationen absehbar sind, die gegen internationale Rechtsgrundsätze verstoßen. Es besteht die Gefahr, dass nationale politische und wirtschaftliche Interessen dominierend werden oder sich mit anderen Zielen unzulässig vermischen. Hier ist seitens der Kirchen der unbedingte Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Frieden zu betonen und einzuklagen, dass eine Beteiligung an Interventionen oder anderen militärischen Zwangsmaßnahmen nur legitim ist, wenn diese nicht gegen internationales Recht verstoßen bzw. einen solchen Verstoß befördern helfen. Zu fragen ist auch nach den ethischen Konsequenzen für den Soldatenberuf in einer nach Auftrag und Wehrstruktur veränderten Bundeswehr. Dabei ist herauszuarbeiten, in welchen Fällen ein Recht oder auch die Pflicht zur "situativen Kriegsdienstverweigerung" gegeben ist.

9. Die Ächtung von Massenvernichtungsmitteln verstärken
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) hat schon 1996 in einem wegweisenden Rechtsgutachten die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen als generell völkerrechtswidrig bezeichnet13. Die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen, auch des Erstschlages mit Atomwaffen, ist aber nach wie vor gültige NATO-Doktrin. Christliche Friedensethik muss die rechtliche Beurteilung der Massenvernichtungsmittel durch den IGH berücksichtigen und den Fortbestand nuklearer Abschreckung als Element der Kriegsverhütung mit Nachdruck verurteilen. Die Überwindung von Geist, Logik und Praxis der Abschreckung steht heute nach wie vor auf der politischen Tagesordnung.

10. Instrumente und Methoden zur zivilen Konfliktbearbeitung weiterentwickeln und ausbauen
Es ist vorrangiger friedensethischer Auftrag der Kirche, Instrumente und Methoden zur Gewaltvorbeugung und zivilen Konfliktbearbeitung verstärkt auszubauen sowie ihre politische Verankerung voranzutreiben. Solches Handeln im Sinne der Option für Gewaltfreiheit erfordert den Ausbau von Kompetenzen im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung. Unverzichtbare Grundlage dafür sind abgestufte, vielfältige und vernetzte Qualifizierungsangebote sowie eine angemessene Berücksichtigung begleitender Forschung und kontinuierlicher Evaluation.
Dabei ist die Beteiligung der Kirchen, ihrer ökumenischen Partner und von Nichtregierungsorganisationen an der Schaffung von "Friedensallianzen" zur Stärkung der einzelnen Kräfte wichtig. Die bislang nur in Ansätzen vorhandenen Programme der zivilen Konfliktbearbeitung und der zivilen Friedensdienste gilt es in den Kirchen quantitativ und qualitativ zu fördern.

"Die ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt verpflichtet uns als Evangelische Kirche von Westfalen, Strategien und Instrumente nichtmilitärischer Konfliktbearbeitung zu verstärken." (Beschluss der Landessynode 2001).


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