Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Soldat ist kein Beruf wie jeder andere"

Verstoß gegen UN-Kinderrechte. In Deutschland melden sich jedes Jahr mehrere hundert Minderjährige freiwillig. Ein Gespräch mit Ralf Willinger

Verstoß gegen UN-Kinderrechte. In Deutschland melden sich jedes Jahr mehrere hundert Minderjährige freiwillig. Ein Gespräch mit Ralf Willinger (Terre des hommes) Ralf Willinger ist Kinderrechtsexperte von terre des hommes



jW: Die Bundeswehr benötigt zur Bedarfsdeckung nach eigenen Angaben jährlich 20 000 neue Rekruten. Um diese zu bekommen kooperiert die Armee mit Schulen, wirbt in Medien und führt ungezählte Werbeveranstaltungen durch. Was kritisieren Sie an der Werbepraxis der Bundeswehr?

Willinger: Wir sehen es kritisch, daß die Bundeswehr schon bei Veranstaltungen mit zwölfjährigen Kindern an Schulen oder bei Freizeitveranstaltungen Werbung für sich macht. In der UN-Kinderrechtskonvention ist zwar keine Altersgrenze für solche Werbeaktivitäten festgelegt. Sie widersprechen aber klar dem Geist der Konvention, nach dem sich Kinder frei entwickeln sollen, im Geist der Verständigung und des Friedens. Besonders kritisch sehen wir, daß die Werbung bei der Bundeswehr beispielsweise die Begeisterung von Kindern für Technik, ihre Abenteuerlust oder den sportlichen Wettbewerb ausnutzt. So etwas funktioniert bei Kindern durchaus. Die lebensgefährliche Realität des Soldaten wird dadurch verharmlost. Natürlich nimmt die Bundeswehr in unserer Gesellschaft eine wichtige Aufgabe wahr, und Soldat sein ist ein ehrenwerter Beruf, aber dennoch kein Beruf wie jeder andere, denn man wird zum Töten von Menschen ausgebildet. Erst Erwachsene sind in der Lage zu entscheiden, ob sie einen solchen Beruf ausüben können.

Nimmt die Bundeswehr Minderjährige in ihre Reihen auf?

Ja, jährlich werden mehrere hundert 17jährige Jungen und Mädchen in die Bundeswehr aufgenommen, die sich freiwillig dafür gemeldet haben. Dies widerspricht dem Prinzip der UN-Kinderrechtskonvention, nach dem alle Menschen unter 18 Jahren Kinder sind und besonderen Schutz und besondere Rechte genießen - die Kinderrechte also. Damit ist der Dienst im Militär unvereinbar. Doch westliche Regierungen, darunter Deutschland, haben eine Ausnahmeregelung im betreffenden Zusatzprotokoll der Konvention von 2002 erwirkt, nach der staatlichen Armeen die Rekrutierung von über 16jährigen Freiwilligen unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist. Die allermeisten Staaten halten sich dennoch freiwillig an die Grenze von 18 Jahren. Daß Deutschland dazu nicht bereit ist, ist aus unserer Sicht und auch aus der Sicht des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes bedauerlich, denn es weicht den 18-Jahres-Standard für Kinderrechte auf.

Warum benötigt die Bundeswehr eigentlich so junge Menschen?

Die Bundeswehr fürchtet schlicht den Rückgang der Bewerberzahlen. Uns gegenüber haben Regierungsvertreter und hohe Offiziere argumentiert, daß viele junge Menschen nach dem Schulabschluß direkt einem Beruf nachgehen wollen. Das schon 17jährige in der Bundeswehr - wenn auch eingeschränkt - Dienst tun dürfen, ist für die Militärs sehr wichtig, weil sie befürchten, daß die jungen Menschen sonst andere Berufe ergreifen.

Wie kann dem Anwerben und Rekrutieren Minderjähriger durch die Bundeswehr entgegengewirkt werden?

Wir werden weiter versuchen, die Bundesregierung zu überzeugen, das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre zu erhöhen, wie es fast alle Regierungen weltweit getan haben. Denn das Wohl des Kindes muß laut Kinderrechtskonvention, die Deutschland unterschrieben hat, Priorität haben vor staatlichen Überlegungen. Dafür setzt sich terre des hommes als Kinderrechtsorganisation in vielen Entwicklungsländern, aber auch in Deutschland ein - beispielsweise zur Verbesserung der Situation von Flüchtlingskindern, deren Rechte in unserem Land oft fundamental verletzt werden. Es ist wichtig, mit der Regierung über solche Probleme zu verhandeln und öffentlichen Druck gegen Bundeswehrwerbung an Schulen aufzubauen - damit läßt sich viel erreichen. Eltern, die das nicht wollen, sollten beispielsweise Briefe an Schulleitung und Bundesregierung schreiben oder das Thema in die lokalen Medien bringen.

Interview: Michael Schulze von Glaßer

* Aus: junge Welt, 5. August 2009

"Bundeswehr wirbt und rekrutiert Minderjährige - und missachtet damit die Kinderrechte"

Auf 20.000 junge Frauen und Männer beziffert die deutsche Bundeswehr ihren jährlichen Personalbedarf. »Um diesen Bedarf sicherzustellen, schreckt die Bundeswehr auch nicht davor zurück Minderjährige anzuwerben«, schreibt der Informationsdienst TELEPOLIS unter der Überschrift »Armee umwirbt Kinder«. Die Bundeswehr werbe intensiv mit aufwendigen Sportturnieren, beim Mädchen-Ausbildungstag Girls' Day oder bei launigen Spaß- und Abenteuer-Events wie »BW-Beachen« um den deutschen Nachwuchs und sei in Jugendmedien wie der Bravo präsent. »2009 sollen 6526 Schulen angeschrieben und zu Bundeswehr-Werbeveranstaltungen eingeladen werden«, meldet TELEPOLIS. Kinderrechtsexperte Ralf Willinger macht heute im Tagebuch [externer Link] deutlich, warum die deutsche Armee im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention endlich auf das gezielte Anwerben und Einstellen von Minderjährigen verzichten müsse.

Wir dokumentieren im Folgenden den "Tagebuch"-Eintrag vom 24. Mai 2009.


Um ihren Nachwuchs zu gewinnen, scheuen deutsche Militärs keine Kosten und Mühen: Zehnjährige turnen an öffentlichen Soldatentagen auf Panzern, zielen durchs Visier des Panzer-Maschinengewehrs. Am so genannten Girls' Day, einem Infotag zur weiblichen Berufsorientierung in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen, werden bundesweit Mädchen ab elf Jahren in Bundeswehr-Veranstaltungen umworben. Auch Schulen besuchen Soldaten und Bundeswehr-Werber systematisch. Sie machen Reklame auf Jugendevents wie »BW-Beachen - Spaß und Action garantiert« oder den »BW Adventure-Games«. Die Bundeswehr wirbt über Medien Kinder und Jugendliche gezielt an, schaltet dafür kontinuierlich Anzeigen im Internet und in Jugendzeitschriften wie »Spiesser« und »Bravo« oder wirbt im Jugend-Webportal treff.bundeswehr.

So überrascht es auch nicht, dass Deutschland auf Drängen der Bundeswehr eines jener Länder war, das vor einigen Jahren bei der Verabschiedung des so genannten Kindersoldaten-Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention dafür sorgte, dass die 18-Jahres-Grenze zur Rekrutierung in Armeen und bewaffnete Gruppen aufgeweicht wurde. Das Zusatzprotokoll, das wie Deutschland inzwischen über 120 Staaten weltweit unterschrieben haben, verbietet zwar jede Rekrutierung von Kindern unter 18 Jahren als Soldaten. Es macht aber eine Ausnahme: Staatlichen Armeen ist die Rekrutierung von Freiwilligen über 16 Jahren erlaubt. Entsprechend rekrutiert die Bundeswehr jedes Jahr mehrere Hundert 17-jährige Jungen und Mädchen, also Minderjährige.

Dies wird seit langem von Kinder- und Menschenrechtsorganisationen kritisiert, denn der Militärdienst verletzt zahlreiche Kinderrechte. Beispielsweise das Recht auf Schutz vor einer Arbeit die Gefahren mit sich bringt, auf freie Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit. Kinder sind nach der Definition der UN-Kinderrechtskonvention alle Menschen unter 18 Jahren. Die Konvention und die darin verbrieften Kinderrechte sind weltweit geltendes Völkerrecht, nur Somalia und die USA haben sie nicht unterschrieben.

In Gesprächen mit terre des hommes und anderen Nichtregierungsorganisationen zeigte sich die Bundesregierung wiederholt nicht bereit, das Rekrutierungsalter für die Bundeswehr auf 18 Jahre anzuheben. Die einzige genannte Begründung dafür ist die Befürchtung der Militärs, dass interessierte Jugendliche nach Schulende nicht rechtzeitig geworben werden können und stattdessen möglicherweise zum Zoll oder zur Polizei gehen. Diese Bedenken werden von der Bundesregierung leider höher gewertet als die Achtung der Kinderrechte.

Damit ist Deutschland nach Angaben des Child Soldiers Global Reports 2008 eines von 26 Ländern weltweit, die weiter unter 18-Jährige in ihre staatlichen Armeen rekrutieren. Das tun sonst Länder wie der Tschad, die Demokratische Republik Kongo, Burma, Somalia, aber auch Großbritannien oder die USA. Es ist ein schlechtes Vorbild für viele Staaten und Rebellengruppen, die ebenfalls weiter Minderjährige als Kindersoldaten einsetzen.

Auch wenn Deutschland wegen oben genannter Ausnahmeregelung im Kindersoldaten-Zusatzprotokoll das Völkerrecht formal nicht verletzt, so missachtet es damit klar den Grundgedanken der UN-Kinderrechts- konvention, die allen unter 18 Jahren die Kinderrechte zusichert. Dieser Meinung sind auch die Vereinten Nationen. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der Kinderrechtskonvention und der Zusatzprotokolle kontrolliert, empfahl der Bundesregierung 2008, »das Mindestalter für die Rekrutierung auf 18 Jahre zu erhöhen, um den Schutz des Kindes durch insgesamt höhere gesetzliche Standards zu fördern«. Auch die Militärwerbung an Schulen wurde vom Ausschuss schon kritisiert.

Die Bundeswehr und die Bundesregierung sollten endlich die breite internationale Kritik ernst nehmen, das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre hoch setzen und auf Werbemaßnahmen jeder Art bei Minderjährigen verzichten.

Denn auf die Frage »In welcher Gesellschaft wollen wir leben?« werden die allermeisten Eltern und vermutlich eine große Mehrheit der Bundesbürger antworten: In keiner, in der die staatliche Armee Kinder für das Kriegshandwerk begeistert. Schon gar nicht getarnt als Sport, Zukunfts- oder Abenteuerspiele oder unter Ausnutzung der Technikbe-geisterung von Kindern. Und umso weniger, je jünger die Kinder sind.

** Über Ralf Willinger


Ralf Willinger, geboren 1970, ist Referent für Kinderrechte beim Kinderhilfswerk terre des hommes in Osnabrück. Seine Themenschwerpunkte sind Kinder in bewaffneten Konflikten, Kindersoldaten, Binnenvertreibung, Flüchtlinge und friedliche Alternativen zu Krieg und Gewalt. Willinger studierte Biologie, Journalismus und Internationale Zusammenarbeit in Berlin. Drei Jahre arbeitete er als Pressesprecher bei der umwelt- und entwicklungs- politischen Organisation Germanwatch, mehrere Jahre war er freier Journalist für Zeitungen, Magazine und Hörfunk. Er bereiste zahlreiche Entwicklungsländer und führte dort und in Deutschland viele Interviews mit Kindersoldaten, Vertriebenen und Flüchtlingen. Willinger ist Co-Autor des Buches »Between Yaks and Yurts: Perspectives for a Sustainable Regional Economic Development in Mongolia«.





Weitere Beiträge zum Thema "Kindersoldaten"

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite "Schule und Bundeswehr"

Zurück zur Homepage