Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gewissensnöte wegen Kinderarbeit

ILO-Konferenz in Brasilien endet mit wohlklingenden Appellen

Von Andreas Behn, Brasilia *

Bis 2016 sollen die schweren Formen von Kinderarbeit weltweit abgeschafft werden. Wie dies gelingen kann, ist freilich unklar.

Zur Abschaffung der Kinderarbeit mangele es nicht an Mitteln, sondern an »politischem Willen und Scham«, so Brasiliens Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva. Seine Rede zum Abschluss der III. Globalen Konferenz zu Kinderarbeit am Donnerstag in Brasilia war emotional und persönlich. Wo es Armut gibt, komme Kinderarbeit vor, sagte Lula. »Ich habe als Jugendlicher Obst und Erdnüsse verkauft. Meine sieben Geschwister haben auch schon im Kindesalter gearbeitet, nicht weil es ihnen gefiel oder ihre Mutter es wollte, sondern weil es Zuhause nicht genug zu essen gab.« Es sei nicht einfach, eine soziale Politik zur Abschaffung der Arbeit von Minderjährigen zu formulieren, erklärte der frühere Gewerkschaftschef. »Was wir den Reichen geben, wird als Investition bezeichnet, was wir den Armen geben, als Ausgaben.« Doch ohne Umverteilung der Einkommen sei der Kampf gegen Kinderarbeit aussichtslos, erklärte Lula.

Drei Tage lang debattierten rund 1200 Politiker, Wirtschaftler und Gewerkschafter aus über 150 Staaten auf Einladung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in der brasilianischen Hauptstadt über Strategien zur Beendigung der Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in der Arbeitswelt. Die Zahlen sind erschreckend: Weltweit müssen nach Angaben der UN-Organisation rund 168 Millionen Mädchen und Jungen arbeiten. Etwa die Hälfte von ihnen schuftet unter lebensbedrohlichen Bedingungen, etwa in Minen, auf Plantagen oder im Sexgewerbe. Diese Tätigkeiten werden als »schwere Formen« von Kinderarbeit bezeichnet.

Insgesamt haben weltweit elf Prozent der Jungen und Mädchen im Ausbildungsalter schon einen Arbeitsalltag. Am stärksten betroffen sind Asien, Afrika und Lateinamerika, doch auch in Industriestaaten sind Minderjährige arbeitstätig. 60 Prozent von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft; Dienstleistungen vor allem im Haushalt machen 25 Prozent der Tätigkeiten aus. Das Phänomen betrifft mit einem Anteil von über 60 Prozent mehr Jungen als Mädchen.

Der jüngste ILO-Bericht vom September verweist jedoch auch auf eine positive Tendenz: Zwischen 2002 und 2012 konnte die Zahl der arbeitenden Kinder und Jugendlichen weltweit um um 30 Prozent gesenkt werden. Wie dies gelingen konnte, zeigt gerade das Gastgeberland der Konferenz. Brasilien leistete laut ILO dank der Erhöhung der Mindesteinkommen armer Familien in Verbindung mit einer Kontrolle der Schulpflicht einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen illegale Beschäftigung Minderjähriger.

Bereits auf der letzten Globalen Konferenz vor drei Jahren in Den Haag wurde als Zielvorgabe beschlossen, bis 2016 zumindest die schweren Formen von Kinderarbeit weltweit abzuschaffen. Dieses Ziel wurde in Brasilia bekräftigt, auch wenn ILO-Chef Guy Ryder zum Abschluss einräumte, dass es wohl kaum zu realisieren sei. Notwendig seien »besondere Anstrengungen auf nationaler wie internationaler Ebene insbesondere in den Entwicklungsländern«, heißt es in der Abschlusserklärung.Vereinbart wurden grenzübergreifende Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Armutsbekämpfung, Sozialpolitik und internationale Zusammenarbeit. Auch die Kampagne »Rote Karte gegen Kinderarbeit« soll ausgeweitet werden, insbesondere im Vorfeld von Großereignissen wie der kommenden Fußball-WM.

Enttäuscht zeigten sich viele Delegierte darüber, dass trotz wohlklingender Appelle keine neuen Ziele für die Zeit nach 2016 formuliert wurden. Auch der Vorschlag von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, mit einer Quote für sozial schwache oder schwarze Jugendliche an Universitäten und weiterbildenden Schulen deren Ausbildung- und Einkommenschancen zu verbessern, wurde nicht angenommen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. Oktober 2013


ILO meldet Erfolge beim Kampf gegen die Kinderarbeit

Rückgang der Zahl der arbeitenden Kinder um ein Drittel seit 2000

Die Zahl der arbeitenden Kinder ist seit 2000 von 246 auf 168 Millionen und damit um fast ein Drittel gesunken. Dies ergibt der neue ILO-Bericht "Marking progress against child labour", den die Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Vorfeld der globalen Konferenz gegen Kinderarbeit im Oktober in Brasilia vorgelegt hat.

Doch trotz einer Beschleunigung des Trends in den vergangenen Jahren dürfte der Rückgang nicht stark genug sein, um das von der internationalen Gemeinschaft gesetzte Ziel zu erreichen, bis 2016 die schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu beseitigen.

„Wir bewegen uns in die richtige Richtung, aber der Fortschritt ist immer noch zu langsam“, erklärte ILO-Generaldirektor Guy Ryder. „Wenn es uns ernst damit ist, die Geißel der Kinderarbeit in absehbarer Zeit zu beseitigen, müssen wir unsere Bemühungen auf allen Ebenen deutlich verstärken. Es gibt 168 Millionen gute Gründe dafür“.

Den neuesten Schätzungen der ILO zufolge wurden die größten Fortschritte im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 erzielt, in dem sich ein Rückgang um 47 Millionen ergab: von 215 auf die aktuelle Zahl von 168 Millionen.

85 Millionen von ihnen, also mehr als die Hälfte, müssen gefährliche Arbeiten verrichten, die ihrer Gesundheit, Sicherheit und sittlicher Entwicklung schadet. 2000 hatte ihre Zahl noch bei 171 Millionen gelegen. Gefährliche Arbeit – beispielsweise Arbeit in Steinbrüchen oder mit gefährlichen Stoffen – wird von der ILO oft als Ersatzindikator für die schlimmsten Formen der Kinderarbeit verwendet. Zum einen macht gefährliche Arbeit den größten Teil der schlimmsten Formen der Kinderarbeit aus, zum anderen findet letztere oft statistisch kaum erfassbar im Verborgenen statt, etwa in illegalen Bordellen oder bewaffneten Konflikten.

Weitere Ergebnisse der Erhebung:
  • In absoluten Zahlen sind die meisten Kinderarbeiter zwar in Asien zu finden, doch mit 21 Prozent der Kinder ist ihr relativer Anteil in Afrika südlich der Sahara am höchsten.
  • Der stärkste Rückgang ist ebenfalls in Asien zu verzeichnen (von 114 auf 78 Millionen zwischen 2008 und 2012) gefolgt von Afrika (von 65 auf 59 Millionen) und Lateinamerika (von 14 auf 12,5 Millionen).
  • Bei Mädchen war der Rückgang mit 40 Prozent seit 2000 deutlich ausgeprägter als bei Jungen mit einem Minus von nur 25 Prozent.
  • In der Landwirtschaft arbeiten mit Abstand die meisten Kinder (98 Millionen Kinder oder 59 Prozent aller arbeitenden Kinder) gefolgt von Dienstleistungen wie zum Beispiel Haushaltshilfen (54 Millionen) und der Industrie (12 Millionen).
Aus der Untersuchung gehen einige Maßnahmen hervor, die sich im Kampf gegen die Kinderarbeit als besonders geeignet erwiesen haben. Ganz besonders haben demnach Investitionen in Schulen und soziale Schutzsysteme zum Rückgang der Kinderarbeit beigetragen. Aber auch eine klare politische Zielsetzung seitens der Regierungen, die zunehmende Ratifizierung der ILO-Konventionen gegen die Kinderarbeit und die Verabschiedung eines entsprechenden gesetzlichen Rahmens auf nationaler Ebene sind wichtige Elemente.

Die Rolle der ILO in diesem Prozess könne gar nicht überbewertet werden, hält der Report fest. „Ihr großer Vorteil ist die Einbindung nicht nur der Regierungen, sondern auch der Sozialpartner, also Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, als aktive Teilnehmer.“

*****

Die Kernarbeitsnormen der ILO, die den Charakter von universellen Menschenrechten haben, umfassen zwei Übereinkommen über Kinderarbeit:

Das Übereinkommen 138 von 1971 setzt das Mindestalter für die Aufnahme einer Arbeit bei 15 Jahren an (wobei Entwicklungsländer für eine Übergangzeit die Grenze bei 14 Jahren setzen können). Es enthält kein Verbot der Kinderarbeit, sondern verpflichtet die Mitgliedsstaaten der ILO dazu, „eine innerstaatliche Politik zu verfolgen, die dazu bestimmt ist, die tatsächliche Abschaffung der Kinderarbeit sicherzustellen und das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung oder Arbeit fortschreitend bis auf einen Stand anzuheben, bei dem die volle körperliche und geistige Entwicklung der Jugendlichen gesichert ist“ (Artikel 1).

Das Übereinkommen 182 von 1999 hingegen beinhaltet das Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit – und zwar für Kinder bis einschließlich des 17 Lebensjahres – und verpflichtet die Staaten dazu, umgehend Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu ergreifen.


Quelle: Website der ILO Berlin; 23. September 2013; http://www.ilo.org/berlin

Lesen Sie auch:

ILO: The Brasilia Declaration on Child Labour
Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Brasilien: Abschlusserklärung zur Kinderarbeit (englisch) (12. Oktober 2013)




Zurück zur Seite "Kinder, Kinderrechte, Kinder im Krieg"

Zurück zur Homepage