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Oettinger windet sich im Stresstest

Fast alle Atomkraftwerke in der EU weisen Sicherheitsmängel auf - auch die deutschen

Von Kay Wagner, Brüssel *

Bei praktisch allen Kernkraftwerken in der EU muss die Sicherheit verbessert werden, doch keines muss nach Einschätzung der EU-Kommission vom Netz - das ist das Ergebnis des sogenannten Stresstests.

Es wurde zum Stresstest für ihn selbst: Als Günther Oettinger, EU-Kommissar für Energie, am Donnerstag in Brüssel die Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfungen an den europäischen Atomkraftwerken vorstellte, wollte keiner der anwesenden Journalisten um den heißen Brei herumreden. Die Ergebnisse der Kontrollen, die unter dem Namen Stresstest gehandelt werden, waren schon am Montag an die Öffentlichkeit gelangt und hatten gezeigt: Gut ist es nicht um die Sicherheit der AKW bestellt. Selbst in Deutschland, das sich gerne der Qualität seiner Anlagen rühmt, kam kein einziges Kraftwerk ohne Mängel weg.

Das ist natürlich Öl auf das Feuer, das Kritiker bereits vor Monaten entfacht hatten. Damals stellten sie fest: Wirklich stressig wird der Test für die Atommeiler nicht. Viele kritische Bereiche und Katastrophenszenarien standen gar nicht auf der Prüfliste. Wie widerstandsfähig sind die AKW gegen einen Flugzeugabsturz, gegen einen Terroranschlag? Was passiert, wenn ein Feuer ausbricht, ein Kabel defekt ist, eine Pumpe nicht funktioniert? Gibt es ein Katastrophenmanagement? Und so weiter.

»Mir hat die Studie gezeigt: Insgesamt ist die Sicherheit der AKW in Europa auf einem guten Niveau zufriedenstellend«, beteuerte Oettinger trotzdem. »Allerdings sind überall Verbesserungen möglich«, fügte er hinzu. Doch das reichte nicht, um sich vor unangenehmen Fragen zu schützen. Der CDU-Politiker aus Schwaben parierte sie im Rahmen seiner Möglichkeiten souverän - was nicht bedeutet, dass die Zweifel an der Sicherheit der AKW dadurch ausgeräumt worden wären.

In drei Stufen sind laut dem EU-Kommissar die Anlagen untersucht worden: zunächst von den Betreibern selbst, dann von den jeweils zuständigen Aufsichtsbehörden und schließlich von den EU-Experten. Letztere seien in 54 der 145 AKW gegangen, um zu untersuchen, wie es um die Sicherheit steht. »Das war ein echter europäischer Prozess«, so Oettinger. Doch habe die EU nur das untersuchen können, wozu sie berechtigt sei. Technische Überprüfungen gehörten nicht dazu.

Dass dies ein Mangel ist, gab Oettinger zu. Er kündigte gleichzeitig an, dass diese Kompetenz in einer neuen Fassung der EU-Richtlinie zu nuklearer Sicherheit angestrebt werde. Anfang 2013 wollen seine Experten den Vorschlag dazu erarbeitet haben. Man bleibe also am Ball, um weiter und mit mehr Befugnissen die Atomsicherheit in Europa zu garantieren.

Im Juni 2014 will seine Behörde außerdem einen Bericht vorlegen, wie die Stresstest-Empfehlungen der Kommission von den einzelnen AKW-Betreibern umgesetzt worden seien. Zwischen 10 und 25 Milliarden Euro seien für Nachrüstungen und Ausbesserungen wohl nötig. Außerdem sollen die Betreiber verpflichtet werden, Versicherungen für Katastrophenfälle abzuschließen. Dass durch all diese Maßnahmen Atomstrom letztlich teuerer werden könnte, nimmt Oettinger in Kauf. Es sei nicht seine Rolle zu entscheiden, ob Mitgliedsstaaten Atomkraftwerke betreiben wollen oder nicht. Aber sehr wohl »für den höchstmöglichen Sicherheitsstandard der AKW in Europa zu sorgen«, sagte er. Die jetzt vorgelegten Ergebnisse des Stresstests seien ein guter Anfang.

Besorgnis prägt dagegen die Stellungnahmen von Politikern und Verbänden in Brüssel wie auch in Deutschland. Fordert der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese die bedingungslose Nachrüstung der Kraftwerke, um die Bürger vor den Atomgefahren zu beschützen, so plädiert seine Kollegin Rebecca Harms (Grüne) dafür, bei zu hohen Kosten AKW lieber abzuschalten. Auf Bundesebene vertritt Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Grünen, die gleiche Ansicht. Wohingegen die Umweltverbände BUND und Greenpeace mit den Mängeln an deutschen AKW ihre Forderung begründen, den Atomausstieg rascher voranzutreiben. »Statt die Atomkraftwerke teuer nachzurüsten, muss Umweltminister Peter Altmaier das einzig Vernünftige tun: alle Meiler so schnell wie möglich abschalten«, so BUND-Vorsitzender Hubert Weiger. Der CDU-Minister freilich sieht sich von dem Stresstest überhaupt nicht angesprochen: Wegen des Atomausstiegs bis 2022 solle in Deutschland nur noch begrenzt Geld in zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen gesteckt werden.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 05. Oktober 2012

Die Ergebnisse

Welche Reaktoren haben die schwersten Mängel? Die EU hat keine Rangliste erstellt, aus der die unsichersten Reaktoren hervorgehen würden. Sie hat zwar zu jedem einzelnen Reaktor Ergebnisse veröffentlicht. Eine Anlage mit mehreren Empfehlungen müsse aber nicht unbedingt unsicherer sein als eine mit wenigen, machten Experten geltend. Denn es komme auf den spezifischen Reaktor, seine Bauweise, seinen Standort und andere Faktoren an.

Was wurde beanstandet? Unter anderem werden die aktuellen Standards für die Risikoeinschätzung für Erdbeben nur bei 54 der 145 Reaktoren angewandt. Die Ausrüstung zur Bekämpfung schwerer Unfälle ist bei 81 Reaktoren demnach noch nicht so gelagert, dass sie bei großer Verwüstung unversehrt bliebe. 32 Reaktoren bräuchten noch neue Abluftsysteme mit speziellen Filtern.

Wie schnitten die deutschen Meiler ab? In Deutschland wurden 17 Reaktoren begutachtet, von denen derzeit laut EU neun am Netz sind. Schwachstellen sind etwa fehlende seismische Geräte in Brokdorf, Brunsbüttel, Emsland, Grohnde und Krümmel, um vor Erdbeben zu warnen. Zudem fehlen in allen deutschen AKW umfassende Pläne zum Unfallmanagement.

Wo stehen die Reaktoren? Laut Kommission gibt es in der EU 145 Reaktoren, verteilt auf 15 Länder; 132 von ihnen seien in Betrieb. Die Mehrzahl der Meiler liegt in bevölkerten Gegenden: Im Umfeld von 111 Reaktoren leben jeweils über 100 000 Menschen.




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