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Spiel auf Zeit

Einschluß oder Abriß, und wohin damit? Atomausstieg, Stand der Dinge

Von Wolfgang Pomrehn *

Das Stänkern von FDP und Industrielobby gegen Solar- und Windkraft lenkt – gewollt oder nicht – von der Atomwirtschaft ab. Nach der vor gut einem Jahr hastig über die Bühne gebrachten verbalen Kehrtwende herrscht in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck vor, der Ausstieg sei vollzogen und das Abschalten des letzten AKW nur noch eine Frage der Zeit. Doch dem ist mitnichten so. Neun Meiler sind weiter in Betrieb; der älteste, Grafenrheinfeld bei Schweinfurt, bereits seit 30 Jahren. Zusammen tragen sie noch rund ein Siebtel zur deutschen Stromversorgung bei. Der nächste wird 2015 abgeschaltet, die meisten laufen noch bis 2021 oder 2022 – wenn nichts dazwischenkommt, also die Energiekonzerne keine politische Mehrheit für den neuerlichen Ausstieg aus dem Ausstieg organisiert bekommen.

In diesem Zusammenhang ist interessant, worauf in Schleswig-Holstein der SSW, die Partei der dänischen und friesischen Minderheit hinweist: Auch die acht AKW, denen im letzten Jahr in aller Eile aufgrund der Proteste in der Bevölkerung die Betriebsgenehmigung entzogen wurde, sind noch nicht endgültig stillgelegt. Insbesondere dem Vattenfall-Konzern wirft der SSW ein Spiel mit der Zeit vor. Für seine beiden Meiler Brunsbüttel und Krümmel, beide seit verschiedenen Unfällen im Jahre 2007 außer Betrieb und gemäß Ausstiegsgesetz seit August 2011 ohne Betriebsgenehmigung, hat das Unternehmen noch immer keine Stilllegungsgenehmigung beantragt. Auch ist laut SSW vollkommen unklar, was mit den Meilern geschehen wird. Laut Atomgesetz müssen sie entweder abgerissen oder sicher eingeschlossen werden. Sicher heißt in diesem Falle, daß für die nächsten etwa 300000 Jahre kein radioaktives Material nach außen dringen kann. Darum fordert der SSW, daß den Betreibern der Abriß vorgeschrieben wird. Allerdings machte Flemming Meier, Vorsitzender der SSW-Gruppe im Kieler Landtag, in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, daß es noch immer kein Endlager, ja nicht einmal ein vernünftiges Konzept für die Endlagersuche gibt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat 1995 als Umweltministerin mit der voreiligen und sachlich unbegründeten Festlegung auf den Standort Gorleben das ihrige zur jetzigen verfahrenen Situation beigetragen.

Ob Einschluß oder Abriß, die Sache wird kostspielig. Ob die Rückstellungen, die die Konzerne seit Jahrzehnten steuerbegünstigt angelegt haben, ausreichen werden, ist fraglich. Kostspielig ist allerdings auch der Weiterbetrieb der Altmeiler. Nach einer letzte Woche vorzeitig bekannt gewordenen Studie der EU-Kommission müßten 25 Milliarden Euro in die Sicherheit der in der Union betriebenen AKW gesteckt werden. Das kam bei dem sogenannten Streßtest heraus, der nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima beschlossen worden war. Der Kommission scheint das Ergebnis nicht besonders zu schmecken, weshalb EU-Energiekommissar Günther Oettinger die Veröffentlichung des Berichts vertagt und eine Überarbeitung in Auftrag gegeben hat.

Derweil hat das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung den Beitrag der Atomkraft zum Klimaschutz näherungsweise errechnet. Er ist minimal, anders als oft behauptet. Mit einem Modell der globalen Energiewirtschaft haben die Wissenschaftler abgeschätzt, daß ein Ausstieg aus der Atomkraftnutzung bis 2050 die globale Wirtschaftsleistung um gerade einmal 0,2 Prozent vermindern würde. Atomkraftwerke könnten ohne weiteres kurzfristig durch mehr Gaskraftwerke und mittelfristig durch den schnelleren Einsatz erneuerbarer Energieträger ersetzt werden

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 04. Oktober 2012


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