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Juristischer Dietrich

Hintergrund. Vor zwanzig Jahren ebnete das Bundesverfassungsgericht den Weg für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dabei interpretierten die Richter das Grundgesetz sehr eigenwillig

Von Norman Paech *

Wer sich dieser Tage über Joachim Gaucks christlich-präsidiale Aufforderung zu mehr militärischer Verantwortung für die Freiheit empört, sollte sich daran erinnern, daß es exakt vor 20 Jahren am 12. Juli 1994 das Bundesverfassungsgericht war, das der Bundeswehr die Tür zur den weltweiten Schlachtfeldern aufgestoßen hatte. Gauck war ja nicht der erste, der so unverhohlen die deutsche Kriegsbereitschaft einforderte. Der Chor der Medien hatte schon lange die eher pazifistisch orientierten Deutschen weichzuklopfen versucht, und die Kohl-Regierung zog bereits 1990 aus der durch den Zwei-plus-vier-Vertrag gewonnenen Souveränität den Schluß, der »neuen Verantwortung Deutschlands in der Welt« auch mit der Bundeswehr gerecht werden zu müssen.

Der Ostblock war zusammengebrochen, der Warschauer Vertrag aufgelöst, und die NATO suchte nach neuen Aufgaben, die nur mühsam mit dem Begriff der »Verteidigung« vereinbart werden konnten, die im NATO-Statut als Voraussetzung für militärische Einsätze genannt wird. So beteiligte sich die Bundeswehr 1992 bis 1996 mit Marine- und Luftwaffeneinheiten an der Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien, entsandte ihre Soldaten in die Cockpits der AWACS-Aufklärungsflugzeuge der NATO, die von 1993 bis 1995 das Flugverbot über Bosnien überwachen sollten, und schickte 1993/94 ein Kontingent nach Somalia. So wenig diese Einsätze mit dem Verständnis von Verteidigung in der UNO-Charta [1] zu tun haben, so problematisch ist es, sie unter den Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes zu fassen. Auch der stellt darauf ab, »daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht«, heißt es im Artikel 115a des Grundgesetzes.

Soldaten »out of area«

Das sah die damals in der Opposition befindliche SPD ebenso. Von Landesverteidigung konnte keine Rede mehr sein. Für derartige neue Aufgaben der Bundeswehr »out of area« mußte das Grundgesetz geändert werden. Die Bundestagsfraktion der SPD stellte deshalb im August 1992 mehrere Anträge beim Bundesverfassungsgericht festzustellen, daß die Regierung mit ihrer Entsendung von Bundeswehr-Einheiten ins Mittelmeer, in die AWACS-Flieger und nach Somalia die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages verletzt habe. Gemäß Artikel 87a, Absatz 2 des Grundgesetzes, argumentierte die Fraktion, dürften »Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt«. Dies sei jedoch nach den Absätzen 3 und 4 von Artikel 87a und nach Artikel 35, Absätze 2 und 3 nur in Ausnahmesituationen wie dem Verteidigungs- und Spannungsfall sowie bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen gegeben. All das traf hier jedoch nicht zu.

Ein Teil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, der diesen Fall zu lösen hatte, sah das offensichtlich auch so – aber nur ein Teil. Da man sich über die Auslegung des Artikels 87a nicht einigen konnte, versuchte man es mit einem Trick – wo ein Wille ist, ist für Juristen immer ein Weg. Die Richter legten den Artikel 87 a beiseite und zogen Artikel 24, Absatz 2 GG heran. Der ermöglichte der Bundesrepublik, »sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ein(zu)ordnen« und in die damit verbundenen »Beschränkungen ihrer Hoheitsrechte ein(zu)willigen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern«. Gedacht war 1949 dabei offensichtlich an die UNO, der die Bundesrepublik 1973 beitrat, bestimmt nicht an die NATO, denn die junge Bundesrepublik sollte keine Armee bekommen.

Dies allerdings hatten die Richter wohl vergessen, denn sie schrieben in ihr Urteil: »Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte im Rahmen eines solchen Systems sollte« durch den erst 1956 in das Grundgesetz gekommenen Artikel 87a »nicht eingeschränkt werden«.[2] Wir wissen heute, daß zu jener frühen Zeit etliche Militärs und wahrscheinlich auch Adenauer selbst von dem Wiedererstehen einer deutschen Armee träumten. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes allerdings dachten vermutlich nicht daran. Im »Petersberger Abkommen« vom 12. November 1949 hatte die Bundesregierung noch gemeinsam mit den Alliierten Hohen Kommissaren »ihre feste Entschlossenheit« versichert, »die Entmilitarisierung des Bundesgebietes aufrechtzuerhalten und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung irgendwelcher Streitkräfte zu verhindern«. Als wenig später Adenauer in einem Interview mit einer US-amerikanischen Zeitung die Bildung einer europäischen Armee mit deutschen Soldaten vorschlug, lehnten alle Fraktionen im Bundestag in einer heftigen Debatte eine Wiederaufrüstung entschieden ab.

Zudem galt lange Zeit hindurch die NATO auch nicht als »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit«, da sie den potentiellen Gegner und Feind, anders als die UNO, nicht mitumfaßte. Erst Jahrzehnte später, mit seiner »Out of area«-Entscheidung vom 12. Juli 1994, »befreite« das Gericht das System von seinem Gegner. Es sei »unerheblich«, ob das von Artikel 24 Absatz 2 GG gemeinte »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« »ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll«. Entscheidend sei, daß zum einen das System »durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit« begründet und daß zum anderen die völkerrechtliche Gebundenheit »wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet« und »Sicherheit gewährt«. Damit galt auch die NATO als ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit«. Man darf mit Fug und Recht bezweifeln, daß die Verfassungsrichter diesen Status auch dem Warschauer Vertrag zuerkannt hätten, wäre er da nicht schon untergegangen.

Es ist nur schwer verständlich, daß der Verfassungsgeber mit der einen Vorschrift, Artikel 87a, den Einsatz der Bundeswehr strikt auf Verteidigung begrenzen will, jedoch mit einer schon 1949 kodifizierten Vorschrift, Artikel 24, Absatz 2, als noch gar nicht mit der Existenz der Bundeswehr gerechnet werden konnte, diese Begrenzung umgehen wollte. Bis 1990 wurde ein Kampfeinsatz im Ausland von jeder Bundesregierung als verfassungswidrig abgelehnt. Dennoch meinten zumindest vier Richter des Senats, Artikel 24, Absatz 2 GG so interpretieren zu können. Die vier anderen Richter hielten eine Verfassungsänderung für notwendig, um die Einsätze zu legalisieren. Der Senat blieb gespalten, für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hätte es einer Stimme mehr bedurft. Das Patt reichte, die Tür für die »Out of area«-Einsätze für alle Zukunft auch ohne Verfassungsänderung weit zu öffnen.

Schwacher Parlamentsvorbehalt

Um die Ermächtigung nicht schrankenlos erscheinen zu lassen, schuf das Bundesverfassungsgericht den im Grundgesetz nicht erwähnten Parlamentsvorbehalt: »Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.«[3] Zudem betonte das Urteil im ersten Leitsatz, daß Artikel 24, Absatz 2 nur Bundeswehreinsätze »im Rahmen und nach den Regeln« der Systeme kollektiver Sicherheit legitimiere. Fünf Jahre später ging auch dieser Satz im NATO-Bombardement gegen jugoslawische Städte unter. Weder hatte Jugoslawien einen NATO-Staat angegriffen, noch hatte der UN-Sicherheitsrat der NATO ein Angriffsmandat erteilt. Nach 15 Jahren hat nun auch der damalige sozialdemokratische Feldherr Gerhard Schröder zugegeben, daß seine Koalitionsregierung mit den Grünen seinerzeit völkerrechtswidrig gehandelt habe. Es war ein klarer Verstoß gegen das Gewalt- und Interventionsverbot der UN-Charta. Die damalige PDS, die als einzige Partei die Rechtswidrigkeit dieses Einsatzes rügte, wurde jedoch mit ihrem Antrag auf Feststellung, daß die Beteiligung an dem Krieg gegen Jugoslawien gegen das Grundgesetz verstoße, vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen.[4] Die Richter erklärten nicht zu Unrecht, daß der Bundestag bereits ein halbes Jahr vorher dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien zugestimmt hatte, seine Rechte also nicht verletzt sein können. Das Gericht deckte damals die politische Schwäche des Parlamentsvorbehalts auf: Noch nie hat die Parlamentsmehrheit, wie auch immer sie zusammengesetzt war, den mittlerweile weit über 50 Anträgen der Bundesregierungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr die Zustimmung versagt.

Wie schwach die Position des Parlaments gegenüber der Regierung auf dem Gebiet der Außenpolitik auch rechtlich ist, machte das Verfassungsgericht in einer späteren Entscheidung von 2003 deutlich, als die Bundesregierung den USA und ihrer »Koalition der Willigen« bei deren Feldzug gegen Bagdad zu Hilfe kam. Sie setzte deutsche Soldaten in die AWACS-Maschinen, die den Luftraum über der an den Irak angrenzenden Türkei überwachen sollten. Diesmal war es die FDP-Fraktion, die eine einstweilige Anordnung gegen die Bundesregierung beantragte, die auf die Zustimmung des Bundestages bei dieser Entscheidung verzichtet hatte. Zu Recht, meinten die Verfassungsrechtler, da die Luftüberwachung einen »strikt defensiven« Charakter und die Regierung einen »Kernbereich eigener Entscheidungsfreiheit« habe, der für das Parlament tabu sei: »Die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung in dem durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzbereich hat auch im gesamtstaatlichen Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Verläßlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht.«[5] Was immer »außen- und sicherheitspolitische Verläßlichkeit« bedeuten mag, mit diesem begrifflichen Hohlkörper lassen sich allerdings die Rechte des Parlaments gegenüber dem Kabinett beliebig beschneiden.

Neue NATO-Strategie

Noch einmal versuchte die PDS-Fraktion im Bundestag, Regierung und Richter herauszufordern, ihren Kriegskurs zu revidieren. Immerhin war die Entscheidung 1994 äußerst knapp ausgefallen. Im Herbst 1999 beantragte sie in Karlsruhe festzustellen, daß die Zustimmung der Bundesregierung zur »Neuen Strategie« der NATO gegen Artikel 59, Absatz 2 GG verstoße, da der Bundestag nicht beteiligt worden war. Im April 1999, während des Krieges gegen Jugoslawien, hatten die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten in Washington eine neue Strategie beschlossen, die die NATO von einem vorgeblichen Verteidigungs- in ein offensives Interventionsbündnis umwandelte. Die behauptete ausschließliche Verteidigungsfunktion wurde um eine weitere Funktion der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung außerhalb des Bündnisgebietes erweitert.[6] An verschiedenen Stellen geht es in dem Dokument ausdrücklich um »nicht unter Artikel 5 (NATO-Statut) fallende Krisenreaktionseinsätze«. Altkanzler Helmut Schmidt hat das seinerzeit in der Jubiläumsnummer des NATO-Briefes zum 50jährigen Jubiläum bestätigt: »Die heutige Debatte über die zukünftigen Aufgaben unserer Allianz geht also – zumal von amerikanischer Seite – über die vertraglichen Definitionen hinaus. Wenngleich nicht vom Vertragstext gedeckt, kann man sich gleichwohl gut vorstellen, daß das Bündnis im Einvernehmen der Bündnispartner in fremde Kriege, die indirekt oder unmittelbar die Bündnispartner gefährden, eingreift oder sie präventiv verhindert.« Doch fügte er sofort hinzu: Dazu »wäre eine ratifizierungsbedürftige Ergänzung des Nordatlantikvertrages erforderlich«.[7]

Anders der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, in dessen Zuständigkeit wiederum das Verfahren fiel. In ihm saßen allerdings auch nur noch zwei der ursprünglich vier Richter, die fünf Jahre zuvor Auslandseinsätzen ohne Verfassungsänderung kein grünes Licht geben wollten. Außerdem berieten die Richter gerade zu der Zeit, als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Center unter dem Aufprall zweier Flugzeuge in sich zusammensanken und ein Flugzeug sich in das Pentagon bohrte – ein Terroranschlag, der bestimmt auch die Weltsicht der Richter nicht unbeeinflußt ließ. Sie entschieden in der Folge schlicht, diesmal mit eindeutiger Mehrheit, daß die »Weiterentwicklung« des NATO-Systems keine Änderung des Vertrages sei und deshalb auch keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages bedürfe.[8] Zudem meinten sie, daß das neue strategische Konzept keine Anhaltspunkte dafür biete, daß die NATO sich aus der Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen löse und die Beachtung der UN-Charta aufgebe. Man fragt sich, wo die Verfassungsrichter gewesen sind, als die NATO ihr neues Konzept verabschiedete und sich zugleich inmitten eines eklatant völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien befand. Haben sie einmal einen Blick in die »Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung« geworfen und sich gefragt, wie die Bundeswehr die Wirtschafts- und Rohstoffinteressen der deutschen Konzerne sichern sollte? Bereits 1975/76 bezeichnet das militärpolitische »Weißbuch« die Verknappung von Erdöl und anderen Ressourcen als »sicherheitspolitische Bedrohung« der Bundesrepublik. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 formulieren als Auftrag der Bundeswehr: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen«. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler diese Wahrheit im Zusammenhang mit einer Afghanistanreise im Mai 2010 einem größeren Publikum bewußt machte, zwang ihn die allseitige Kritik, er rede einem verfassungswidrigen Wirtschaftskrieg das Wort, zum Rücktritt. Doch auch die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom 27.5.2011 wurden nicht geändert. Sie zählen noch heute zu den »deutschen Sicherheitsinteressen«, »einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.« Das ist bereits Lichtjahre vom »Verteidigungsfall« des Grundgesetzes entfernt.

Vorrang der Exekutive

Doch es gab immer noch einige, die sich diese schleichende Entfernung von Grundgesetz und UN-Charta nicht gefallen lassen wollten. Sie wagten einen neuen Ansturm gegen die inzwischen festgefügte Bastion von Regierung und Verfassungsgericht, um eine Bresche für das Völkerrecht zu schlagen. Diesmal war es die Linksfraktion im Bundestag, die den Einsatz von »Tornado«-Flugzeugen verhindern wollte mit dem Hinweis, daß es in Afghanistan keine klare Trennung zwischen dem von der USA geführten Antiterrorkampf »Operation Enduring Freedom« und dem vom UN-Sicherheitsrat immer wieder neu mandatierten ISAF-Einsatz mehr gebe, an dem sich auch die Bundesrepublik beteiligte. Diese Vermischung sei aber mit dem Völkerrecht nicht zu vereinbaren. Die Entscheidung dieses offensichtlichen Problems umging das Bundesverfassungsgericht, indem es in seinem Urteil [9] erklärte, daß es in einem Organstreitverfahren zwischen Bundestag und Bundesregierung keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO vornehmen könne. Das hinderte das Gericht jedoch nicht, der NATO generell ein verfassungsrechtliches Unbedenklichkeitszeugnis auszustellen: Es fehle an »Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung (...). Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungswegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.«

Das ist nicht weit von der Überzeugung des Bundesverteidigungsministeriums entfernt, die Bundeswehr sei die größte Friedensbewegung. Ein derartiges Rechtsverständnis wird die jeweilige politische Verlautbarung immer mit der tatsächlichen Praxis verwechseln und die Außenpolitik der Regierung vor dem Parlament schützen. Dies liegt nicht nur an der Rekrutierung der Verfassungsrichter in Absprache zwischen den größten im Parlament vertretenen Parteien. Es ist ein altes Erbe der deutschen Justiz, das bis ins Kaiserreich zurückreicht: Sie hat immer den Vorrang der Exekutive in der Außenpolitik vor dem Parlament verteidigt. Der Weg der Justiz vom Hüter der Verfassung zum Schützer der Regierung ist in diesen letzten 20 Jahren konsequent fortgesetzt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Ausdehnung des Einsatzgebietes der Bundeswehr über die territorialen Grenzen des NATO-Bündnisgebietes hinaus abgesegnet, es hat die Erweiterung des Sicherheitskonzepts und des Verteidigungsbegriffs auf ökonomische Interessen akzeptiert, die NATO zu einem »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« ernannt und damit auf die gleiche Stufe neben die UNO gehoben und schließlich die räumlichen Grenzen der euro-atlantischen »Sicherheit« auf ein weltweites Niveau gehoben hat. Das reicht der Regierung und der Parlamentsmehrheit, um in jeder Ecke der Welt und wann immer sie sich dazu veranlaßt sehen, ihren ökonomischen und strategischen Interessen oder dem Ruf nach demokratischer Ordnung und Freiheit auch militärisch nachkommen zu können. Wer von der lähmenden Gewalt einer großen Koalition spricht, sollte nicht vergessen, daß in der Außenpolitik auch das Bundesverfassungsgericht dazu gehört. Es sollte einen schließlich auch vor der Illusion bewahren, man könnte eine juristische Unterstützung im politischen Kampf gegen die »Drohne« als neue Waffengattung erwarten.

Anmerkungen
  1. Artikel 51 der UN-Charta: »Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung ...«
  2. BVerfG (Bundesverfassungsgericht) vom 12. 7. 1994, Bd. 90, S. 357
  3. Ebd, S. 286, Leitsatz 3a
  4. BVerfG vom 25. 3. 1999, Bd. 100, S. 266 ff.
  5. BVerfG vom 25. 3. 2003, hier in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2003, S. 2375
  6. Vgl.: Norman Paech: Neue NATO-Strategie – Neues Völkerrecht? In: Johannes Klotz (Hrsg.): Der gerechte Krieg? Neue NATO-Strategie und die Westeuropäisierung des Balkans, Bremen 2000, S. 48 ff.
  7. Helmut Schmidt: Das atlantische Bündnis im 21. Jahrhundert. In: NATO-Brief, Jubiläumssonderausgabe 50 Jahre NATO, April 1999, S. 22 f.
  8. BVerfGE vom 22. 11. 2001, Bd. 104, S. 151 ff.
  9. BVerfGE vom 3. 7. 2007, Bd. 118, S. 271 f.
* Norman Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Mitglied der Partei Die Linke.

Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014



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