Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kein Flugzeugabschuss im Alleingang

Bei Entführung durch Terroristen bleibt es bei bisheriger Regelung / Vorerst Verzicht auf Grundgesetzänderung

Von Aert van Riel *

Die Große Koalition hat bei einem umstrittenen Thema eine Kehrtwende vollzogen. Das Verteidigungsministerium soll doch nicht allein über den Abschuss entführter Flugzeuge entscheiden können.

Das Vorhaben der Bundesregierung, den Abschuss von entführten Flugzeugen zu erleichtern, ist vorerst gestoppt worden. Am Donnerstag einigten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU), Wirtschaftsressortchef Sigmar Gabriel (SPD) und weitere Minister bei einem Treffen darauf, die angestrebte Grundgesetzänderung vorerst nicht weiter zu verfolgen.

Die Beamten im Innenministerium hatten seit langem an den entsprechenden Plänen gearbeitet. Das Bundesinnenministerium hatte behauptet, man müsse in Notfällen möglichst schnelle Entscheidungen ermöglichen. Deswegen sollte im Falle einer Flugzeugkaperung durch mutmaßliche Terroristen, die den Flieger als Waffe benutzen könnten, nicht mehr das ganze Kabinett, sondern nur noch der Verteidigungsminister oder die Verteidigungsministerin den Einsatzbefehl für Kampfjets geben. Dafür wollte die Koalition Artikel 35 des Grundgesetzes ändern.

Die Kampfjets hätten dann die Aufgabe, Warnschüsse abzugeben oder das entführte Flugzeug abzudrängen. Voraussetzung für einen Abschuss wäre, dass in der Maschine ausschließlich Terroristen vermutet werden. Die Öffentlichkeit wurde über dieses brisante Vorhaben zunächst nicht informiert. Es war erst am Dienstag durch Medienberichte bekannt geworden.

Nun teilte das Bundesinnenministerium am Donnerstagsabend mit, dass Einigkeit bestehe, »dass im Bedarfsfall über bestehende Kommunikationsstrukturen eine gemeinsame Entscheidung der Bundesregierung herbeigeführt werden kann und soll«. Alleingänge des Verteidigungsministeriums sind somit weiter ausgeschlossen. So sieht es auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor. Dieses hatte im August 2012 den Einsatz militärischer Mittel im Inneren in »äußersten Ausnahmefällen« von »katastrophischen Dimensionen« erlaubt. Die Entscheidungsgewalt wurde der Bundesregierung als Ganzes zugesprochen.

Offenbar waren die Pläne der Bundesregierung bis zum Donnerstag schon sehr weit fortgeschritten. Nach Berichten von »Spiegel Online« hatte das Kabinett bereits Ende Januar auf seiner Klausurtagung im brandenburgischen Meseberg beschlossen, den Grundgesetzartikel zu ändern. Der entsprechende Gesetzentwurf befand sich seit Wochen in der Ressortabstimmung. Der Großen Koalition dürfte aber inzwischen aufgefallen sein, dass sich Grundgesetzänderungen trotz ihrer großen Mehrheit doch nicht ganz so einfach bewerkstelligen lassen, wie sie es sich erhofft haben. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat notwendig. In der Länderkammer wären CDU, CSU und SPD also auf die Unterstützung der Grünen angewiesen. Doch diese hatten sich ebenso wie die Linkspartei bisher sehr kritisch über die schwarz-roten Pläne geäußert. Offenbar haben Politiker der Union jetzt keine Möglichkeit mehr gesehen, die Grünen doch noch zu einer Zustimmung zu bewegen.

Die beiden Oppositionsparteien LINKE und Grüne hatten die Befürchtung geäußert, dass die strikte Trennung von Bundeswehr und Polizei, wie sie in Artikel 35 des Grundgesetzes geregelt ist, weiter aufgeweicht wird. Die LINKE-Innenpolitikerin Ulla Jelpke hatte etwa vor einer »Militarisierung der inneren Sicherheit« gewarnt. Unter Sozialdemokraten hatte es ebenfalls Bedenken gegeben, dass eine Grundgesetzänderung den Einsatz der Bundeswehr im Inneren auch zu anderen Zwecken erleichtern könnte. Mit der Koalitionsentscheidung muss sich die SPD-Führung dieser Debatte innerhalb der eigenen Partei nun nicht mehr stellen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. April 2014


Begrenzte Macht der Koalition

Aert van Riel begrüßt, dass das Grundgesetz nicht geändert werden soll **

Es ist eine gute Nachricht, dass die Bundesregierung von ihren Plänen, den Abschuss von entführten Flugzeugen zu erleichtern, nun wieder Abstand genommen hat. Allerdings kann man deswegen nicht von einem Sinneswandel bei den Sicherheitshardlinern von Union und SPD ausgehen. Vielmehr dürften sie eingesehen haben, dass ihnen für die angestrebte Grundgesetzänderung im Bundesrat schlicht die Mehrheit fehlt. Die Grünen wollen diese wohl nicht mittragen. Jedenfalls käme es einem politischen Selbstmord gleich, wenn sie in der Länderkammer ja zu sogenannten Antiterrormaßnahmen der Großen Koalition sagen würden.

Denn diese hätten weitreichende Folgen gehabt. Im Artikel 35 des Grundgesetzes, den die Koalition ändern wollte, sind die Ausnahmen geregelt, wann die Bundeswehr in Deutschland eingesetzt werden darf: Bei Naturkatastrophen oder einem besonders schweren Unglücksfall. Dies muss vom Kabinett beschlossen werden. Die Pläne der Regierung sahen vor, dass das Verteidigungsministerium bei Flugzeugentführungen allein über den Einsatz entscheiden soll. Das Tor für Militäreinsätze in Deutschland sollte weiter geöffnet werden. Die Koalition hat hierüber gegenüber der Öffentlichkeit monatelang geschwiegen. Auch deswegen wirft der Vorgang ein düsteres Licht auf das Demokratieverständnis der Regierung.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 12. April 2014 (Kommentar)


Zurück zur Seite "Innere Sicherheit"

Zur Innere-Sicherheit-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Bundeswehr-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage