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Gefahr oder Stärkung?

STREITGESPRÄCH: Wolfram Wette und Armin Schuster zum Militäreinsatz im Innern *

Seit einer Woche ist der Einsatz der Bundeswehr innerhalb Deutschlands auch mit militärischen Mitteln erlaubt. Was das bedeutet, besprechen der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette (SPD) und der Lörracher Bundestagsabgeordnete und Sicherheitspolitiker Armin Schuster (CDU) im Streitgespräch.

Herr Schuster, Herr Wette, was bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

ARMIN SCHUSTER: DiesesUrteil verdient höchstes Lob. Das Bundesverfassungsgericht hat unglaublich treffsicher den Gedanken der Väter des Grundgesetzes fortgeführt. Es ist eine maßgeschneiderte Ultima Ratio für aktuelle Bedrohungen.

WOLFRAM WETTE: Ich halte die Entscheidung für einen Tabubruch und frage mich, ob sie mit im dem Grundgesetz verankerten Friedensgebot vereinbar ist. Wir haben hier eine Zäsur in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands – auch wenn die meisten Menschen das noch gar nicht wahrnehmen.

Aber das Grundgesetz erlaubt den Einsatz der Bundeswehr im Innern in genau definierten Ausnahmefällen doch bereits – neu ist lediglich, dass sie nun militärische Mittel einsetzen darf. Was ist das Problem dabei?

WETTE: Das Problem ist, dass damit die alte Trennung zwischen Militär und Polizei, zwischen Innen und Außen, aufgehoben wird, die ja eine zivilisatorische Errungenschaft war und ist – da sind wir uns sicher einig ...

SCHUSTER: Ja, absolut.

WETTE: – ... weil die Polizei die Verhältnismäßigkeit der Mittel einzuhalten hat, das Militär aber auf Vernichtung des Gegners zielt. Diese Trennung von Außen und Innen ist jetzt aufgehoben.

SCHUSTER: Im Gegenteil. Das Urteil hat das so wichtige Trennungsprinzip sogar gestärkt. Der Gesetzgeber konnte 1949 oder 1968 nicht ahnen, dass wir heute solche Bedrohungsszenarien haben würden – sonst hätte er sie als „Unglücksfall“ nach Artikel 35 definiert, bei dem das Militär der Polizei zu Hilfe kommen kann.

Welche „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“, in denen die neue Regel greifen könnte, halten Sie zeitnah für realistisch?

WETTE: Überhaupt keine.

SCHUSTER: Das können Renegade-Fälle sein, bei denen Passagierflugzeuge von Terroristenals Angriffswaffe verwendet werden etwa gegen die Besucher einer internationalen Sportveranstaltung. Hier wäre die Polizei überfordert, weil sie richtigerweise keine militärischen Mittel hat. Die Bundeswehr aber hat sie.Das Verfassungsgericht hat nun erstmals definiert, wann es zum Einsatz kommen kann und dabei sein Urteil von 2006 präzisiert und die Hürden höher gelegt. So sind Bundeswehreinsätze wie beim G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 nicht mehr möglich, weil allein das Zeigen von Militär nur erlaubt ist, wenn der klar definierte äußerste Ausnahmefall vorliegt.

WETTE: Das stimmt. Dennoch sage ich klipp und klar: Hier sind die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass Panzer und Kampfjets gegen die Bürger dieser Republik eingesetzt werden können. Wenn das keine Neuigkeit ist!

SCHUSTER: Wenn wir die Bürger fragen würden: Angenommen, es gibt einen schweren Terrorangriff auf unseren Staat, ein Unglücksfall katastrophischen Ausmaßes steht unmittelbar bevor, es ist die letzte Möglichkeit, ihn zu stoppen, und die gesamte Bundesregierung ist dafür. Ich bin sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger dem Militäreinsatz zustimmen würden.

WETTE: Sie kommen doch aus der Praxis, Herr Schuster. Was meint das Gericht denn mit „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“? Das ist doch für jede Interpretation offen, es besteht Missbrauchsgefahr.

SCHUSTER: Begriffe wie „besonders schwerer Unglücksfall“, „unmittelbar bevorstehender Schadenseintritt“, oder „Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ sind juristisch eindeutig geklärt. Neu und auslegungsbedürftig ist einzig der Begriff „katastrophischen Ausmaßes“.

Gibt es denn Belege dafür, dass militärische Mittel zur Bekämpfung von Terrorismus taugen?

SCHUSTER: Wir hatten bisher zum Glück noch keinen Testfall, wie erfolgreich wir mit dem Abdrängen oder Zur-Landung-Zwingen von Flugzeugen sind, aber wir könnten es.

WETTE: Diese Belege gibt es nicht. Gerade 9/11 zeigt: Vor dem Anschlag haben Polizei und Geheimdienste versagt und die Gefahr nicht erkannt. Und der „War on Terror“, den man den anonymen Terroristen dann erklärte, ist einsatztechnisch eine Bankrotterklärung. Man hat zwei Länder mit Krieg überzogen, der mehr als Hunderttausend Menschenleben kostete und letztlich keinen Erfolg hatte.

FAKTEN

DAS URTEIL des Bundesverfassungsgerichts, veröffentlicht am 17. August, erlaubt in „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ den Einsatz der Bundeswehr samt militärischer Mittel im Innern. Berührt sind davon Artikel 35 und 87a des Grundgesetzes. Ausdrücklich nicht erlaubt ist der Einsatz gegen eine demonstrierende Menschenmengeund derAbschuss eines als Waffe eingesetzten Flugzeugs. Ein Präventivschlag ist nicht möglich, der „Unglücksverlauf“ muss bereits begonnen haben und der Eintritt des katastrophalen Schadens unmittelbar bevorstehen. Der Einsatz ist nur als Ultima Ratio zulässig, den Beschlussmuss die Bundesregierung treffen.
WOLFRAM WETTE (71), SPD, ist Militärhistoriker,war Professor der Uni Freiburg und Hauptmann der Reserve.
ARMIN SCHUSTER (51), CDU, ist Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Lörrach und Sicherheitspolitiker. Er war Leiter der Bundespolizei-Inspektion Weil am Rhein. SIR



Über Auslandseinsätze der Streitkräfte entscheidet der Bundestag, über Inlandseinsätze die Regierung. Warum geben Sie das aus derHand,Herr Schuster?

SCHUSTER: Ich finde nicht, dass wir das aus der Hand geben. Wir können ja die Verfassung ändern, etwa um Begriffe genau zu definieren. Was ich nicht sehe, ist, dass es zu einer Verfassungsänderung kommt, die über das Karlsruher Urteil hinausgeht.

Unterstützen Sie die Forderungen aus ihrer Partei, dass der Verteidigungsminister allein den Einsatzfall erklären soll?

SCHUSTER: Nein. Aber dass in einer Extremsituation, in der es auf die Minute ankommt, das ganze Kabinett zusammentreten muss, ist wenig praktikabel. Die Bundeskanzlerin, der Vizekanzler, die Innen- und Verteidigungsminister sollten das zusammen entscheiden können.

Zwei Szenarien verneint das Gericht explizit: Den Abschuss einer als Waffe eingesetzten Passagiermaschine und den Einsatz gegen eine „demonstrierende Menschenmenge“. Hat das Bestand? Soll es Bestand haben?

SCHUSTER: Ganz sicher. Es gibt keinen Grund zu misstrauen. Dieses Urteil ist keine Gefahr für die Demokratie, es stärkt sie.

WETTE: Das ist Spekulation. Ich befürchte, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sich einfügt in den Rahmen einer zunehmenden Militarisierung – man denke etwa an Tapferkeitsorden, Ehrenmale und öffentliche Gelöbnisse.

Abgesehen von der Linken gibt es keine Proteste gegen das Urteil. Die Bevölkerung teilt Ihre Sorge nicht, Herr Wette.

WETTE: Die Finanzkrise absorbiert das politische Interesse der Bevölkerung derart, dass vieles durchgewunken werden kann, was früher zu Protesten und Debatten geführt hätte. Und ich frage mich, ob es eine neue Generation von Richtern gibt, die nicht durch die Friedensbewegung geprägt ist und sich,wie es vor 1945 Tradition war, als Teil der herrschenden Elite sieht, die den Machtstaat stützt.

SCHUSTER: Der Machtstaat ist Geschichte. Diese Richter entscheiden auch mit ihrer Lebenserfahrung, dass diese Demokratie erwachsen und sturmfest ist. Wir erfüllen außenpolitisch unsere Bündnisverpflichtungen und wurden dadurch auch nicht gesellschaftlich militarisiert.

WETTE: Rückblickend wird man sagen: So wie das Bundesverfassungsgericht 1994 den Einsatz der Bundeswehr im Ausland möglich gemacht hat, hat es 2012 die Militarisierung im Innern vorangetrieben. Und wenn die Wirkungen des Urteils von 2012 so stark sein sollten wie die von 1994, dann können wir uns auf einiges gefasst machen.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE SIGRUN REHM

* Das Streitgespräch erschien in der südbadischen Wochenzeitung "Der Sonntag", 26. August 2012; Internet: www.der-sonntag.de [externer Link];
Mit freundlicher Genehmigung durch die Redaktion des "Sonntag".



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