Verfassung abgeschossen
Oberstes deutsches Gericht ändert das Grundgesetz: Im Inland ist jetzt auch schweres Geschütz erlaubt
Von Frank Brendle *
Militärische Einsätze der Bundeswehr im Inneren sind auch in Friedenszeiten nicht mehr ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer gestern verkündeten Entscheidung das bisherige Verbot, zur »Abwehr von Katastrophen« militärische Waffen einzusetzen, gekippt. Hardliner unter den Sicherheitspolitikern haben jetzt Oberwasser, um weitere Bundeswehreinsätze, etwa zur angeblichen Terrorismusbekämpfung, in die Wege zu leiten.
Das Gesamtplenum hob die bisherige Linie des Ersten Senats auf, die Bundeswehr dürfte zur Unglücksabwehr im Inland keine typisch militärischen Waffen anwenden. Das Grundgesetz »zwingt nicht zu einer angesichts heutiger Bedrohungslagen nicht mehr zweckgerechten Auslegung«, so die Richter. Militärische Waffen könnten in Katastrophensituationen unter engen Voraussetzungen durchaus verwendet werden. Wie eng diese sein müssen, darüber wird mit Sicherheit ein langanhaltender Streit ausbrechen, denn das Gericht selbst nennt keine präzisen Kriterien: »Besonders schwere Unglücksfälle sind ... ungewöhnliche Ausnahmesituationen«, heißt es etwa. Zudem müsse nicht »abgewartet werden, bis der Schaden sich realisiert hat«, der Eintritt müsse lediglich »unmittelbar bevorstehen«.
Den Richtern scheint selbst zu schwanen, wie schwer der Geist zu zähmen sein wird, den sie damit aus der Flasche ließen. So betonen sie, daß »Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall« darstellten – ein Hinweis, der wenig bewirken dürfte, wenn die Polizei eine katastrophendräuende Gefahrenprognose stellt. Beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm wurden linke Aktivisten zur »terroristischen Vereinigung« erklärt und von geheimen Munitionsdepots schwadroniert, mit denen der Gipfel in die Luft gejagt werden solle. So etwas dürfte womöglich »katastrophisch« genug sein, um die Bundeswehr in Marsch zu setzen.
In einem Sondervotum wirft Richter Reinhard Geier seinen Kollegen vor, ihre Entscheidung habe »im Ergebnis die Wirkungen einer Verfassungsänderung«. Die vagen Begriffsbestimmungen ließen etwa bei regierungskritischen Großdemonstrationen viel Spielraum für subjektive Einschätzungen. »Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen«, so Geier.
Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) will nun gemeinsam mit dem Innenministerium mögliche Konsequenzen »gründlich prüfen«. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht hingegen keinen Handlungsbedarf. Der SPD-Innenpolitiker Michael Hartmann bedauerte, das Karlsruher Gericht lasse wegen seiner unpräzisen Vorgabe die Verantwortlichen hilflos zurück. Der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, Paul Schäfer, kritisierte, die Vermengung von Bundeswehr, Katastrophenschutz und Terrorismusabwehr unterlaufe das Grundgesetz. »Die heutige Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt sich gegen den unmißverständlichen Wortlaut des Grundgesetzes und den eindeutigen Willen des historischen Verfassungsgebers«, erklärte Wolfgang Neskovic, Justiziar der Fraktion Die Linke und Bundesrichter a. D. Peter Strutynski vom
Bundesausschuß Friedensratschlag erklärte, die Versuche, »die Grenze zwischen Polizei- und Bundeswehreinsätzen zunehmend zu verwischen«, würden nun zunehmen. Die »Militarisierung des Lebens in der Bundesrepublik schreitet weiter voran«, so Monty Schädel von der Deutschen Friedensgesellschaft.
* Aus: junge Welt, Samstag, 18. August 2012
Deutschland wird Out-of-area
Karlsruhe erlaubt Bundeswehr den Einsatz militärischer Mittel im Inland
Von René Heilig **
Die Bundeswehr darf auch bei Einsätzen im Inland in Ausnahmefällen militärische Mittel zur Abwehr von Gefahren einsetzen. Eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist auf heftige Kritik der Opposition gestoßen.
Polizei
Die Karlsruher Verfassungsrichter erlauben nach den Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr nun auch deren Einsatz im Innern. Unter strengen Auflagen dürfen Streitkräfte bei Terrorangriffen im Inland »militärische Kampfmittel« einsetzen, entschied das Plenum aller 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Der Beschluss wurde am Freitag veröffentlicht. Bei einem Einsatz seien aber strikte Voraussetzungen zu beachten, betonten die Robenträger. Sie verweisen auf »Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes«. Beispiel: Von Terroristen gekaperte Flugzeuge mit Zivilisten an Bord dürfen abgedrängt und zur Landung gezwungen werden. Auch mit Warnschüssen. Der Abschuss bleibt aber verboten. Ein Einsatz wider Gefahren, »die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen«, bleibt gleichfalls tabu. Insgesamt sei ein Einsatz der Streitkräfte oder spezifisch militärischer Abwehrmittel stets nur als letzte Möglichkeit zulässig.
Mit dem Beschluss korrigierte das Plenum eine Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 2006. Damals hatten die Richter einen Einsatz der Bundeswehr im Inland »mit spezifisch militärischen Waffen« generell ausgeschlossen. Das Verfassungsgericht fasste den neuerlichen Beschluss nicht einstimmig. Der Verfassungsrichter Reinhard Gaier stellte sich mit einem Sondervotum gegen seine Kollegen: Der Beschluss habe die Wirkung einer Verfassungsänderung, das Gericht habe seine Befugnisse überschritten, befand er.
Die CDU/CSU im Bundestag zeigte sich dagegen zufrieden mit dem Karlsruher Beschluss. Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Ernst-Reinhard Beck, begrüße die Entscheidung, die die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr konkretisiere. Das Urteil schließe »eine Lücke« und bestätige zugleich »die sicherheitspolitisch wichtige Trennung zwischen Polizei und Bundeswehr«.
Die SPD hält das Urteil für unzureichend. Das Karlsruher Gericht lasse »alle Verantwortlichen hilflos zurück, wenn es von ›Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes‹ spricht, die eine Ausnahme rechtfertigten. Nirgendwo werden diese definiert«, sagte SPD-Innenexperte Michael Hartmann.
»Die vom Grundgesetz definierte Aufgabe der Bundeswehr ist die Landesverteidigung«, erklärte die LINKE, »und die findet weder am Hindukusch noch bei Demonstrationen statt.« Die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Ulla Jelpke, kritisierte, dass die Grenze zwischen Katastrophenfall und Staatsnotstand eingerissen worden sei. Schon in der Vergangenheit hätten übertriebene Gefahrenprognosen im Vorfeld von Demonstrationen für unverhältnismäßige Verbote und Polizeieinsätze gesorgt, sagte Jelpke. Nun sei eine Tür für Law-and-Order-Politiker geöffnet, »um mit herbeifantasierten Staatsgefährdungen auch den Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln bei Großdemonstrationen und politischen Massenstreiks in der drohenden Hinterhand zu halten«.
** Aus: neues deutschland, Samstag, 18. August 2012
Butterweiches für Knallharte
Karlsruher Entscheidung zum Militäreinsatz im Innern lässt viel Spielraum, wie Bürgerrechtler warnen
Von René Heilig ***
Die Bundesregierung hat einen militärischen
Sieg wider die Zivilgesellschaft
errungen. In Ausnahmefällen
darf die Bundeswehr auch im Inland
militärische Mittel einsetzen. Das hat
das Bundesverfassungsgericht entschieden.
Unter strengen Auflagen darf die
Bundeswehr bei Terrorangriffen
im Inland »militärische Kampfmittel
« einsetzen. Dies entschied
das gemeinsame Plenum aller
Richter des Bundesverfassungsgerichts
in einem am Freitag veröffentlichten
Beschluss. Grund der
Entscheidung war der Streit um
das Luftsicherheitsgesetz der rotgrünen
Koalition. Das hatte der
frühere Bundesinnenminister Otto
Schily (SPD) auf den Weg gebracht.
Mit juristisch oberster
Rückendeckung sollte insbesondere
bei entführten Flugzeugen
als letzte Möglichkeit
auch der Abschuss der Maschine
möglich sein.
Ein »Job«, der nur vom
Militär erledigt werden
kann. Wann ein solcher
»Katastrophenzustand«
besteht, muss auch in Eilfällen
die Bundesregierung
insgesamt entscheiden.
Sie darf diese Aufgabe
nicht an den Verteidigungsminister
delegieren.
Hintergrund ist eine Entscheidung
des Ersten Senats
vom Februar 2006.
Damals untersagte das
Gericht den Abschuss von entführten
Passagiermaschinen. Die
Richter schlossen den Einsatz von
Streitkräften im Inland »mit spezifisch
militärischen Waffen« sogar
generell aus. Zwar wollte der
Zweite Senat in einem weiteren
Verfahren dieses Abschussverbot
nicht grundsätzlich kippen, wohl
aber ging den Richtern die restriktive
Haltung ihrer Kollegen vom
Ersten Senat zu weit. In solchen
Streitfällen wird beim Gericht ein
sogenannter Plenarentscheid herbeigefügt,
bei dem alle 16 Richter
ihr Votum abgeben können. Das
wurde in der Geschichte des Gerichts
erst fünfmal praktiziert.
Den aktuellen Plenarentscheid
hatte der Präsident des Verfassungsgerichts,
Andreas Voßkuhle,
bereits für Anfang 2011 angekündigt,
doch erst jetzt liegt er vor –
und er ist ziemlich vage gehalten.
Ein Einsatz zur Gefahrenabwehr
sei nur zulässig in »Ausnahmesituationen
katastrophischen Ausmaßes
«.
Was ist das? Wer definiert es
wann wie? Von Terroristen gekaperte
Flugzeuge mit Zivilisten an
Bord dürfen weiterhin nicht abgeschossen,
sondern allenfalls von
Kampfflugzeugen mit Warnschüssen
zur Landung gezwungen oder
abgedrängt werden. Insbesondere
sei ein Bundeswehreinsatz mit
militärischen Mitteln nicht gegen
Gefahren erlaubt, »die aus oder
von einer demonstrierenden
Menschenmenge
drohen«.
Die Vorgaben des Artikels
87a Absatz 4 des
Grundgesetzes sind zu
berücksichtigen. Darin
heißt es: »Zur Abwehr
einer drohenden Gefahr
für den Bestand oder die
freiheitliche demokratische
Grundordnung des
Bundes oder eines Landes
« könne die Bundesregierung
Streitkräfte zur
Unterstützung der Polizei
»beim Schutze von zivilen
Objekten und bei der Bekämpfung
organisierter
und militärisch bewaffneter
Aufständischer einsetzen«.
Der Artikel war schon immer
brisant angesichts der historischen
Erfahrungen mit dem
Einsatz von Militär zur Bewältigung
innerer Auseinandersetzungen.
Schrittweise werden nun verfassungsrechtliche
Beschränkungen
weiter aufgeweicht. Bürgerrechtler
warnen, dass die butterweichen
Formulierungen aus
Karlsruhe viel Spielraum für
knallharte Demokratiebeschneider
einräumen. Auch wenn die Richter
sagen, die Beschränkungen des
Artikel 87 dürften nicht dadurch
umgangen werden, dass Einsätze
auf Basis des Katastrophenschutz-
Artikels 35 erfolgen.
Die technischen und organisatorischen
Voraussetzungen für
solche militärische Einsätze sind
längst geschaffen. Die zivil-militärische
Zusammenarbeit wurde
unter dem Katastrophenschutz-
Etikett regional ausgebaut und
mehrfach erprobt. Seit Oktober
2003 arbeitet bereits das Nationale
Lage- und Führungszentrum für
Sicherheit im Luftraum im niederrheinischen
Uedem.
Soldaten, Bundespolizisten, die
Deutsche Flugsicherung, das Bundesamt
für Bevölkerungsschutz
und Katastrophenhilfe sowie bei
Bedarf auch Vertreter von Bundeskriminalamt,
Länderpolizisten
und BND-Agenten beobachten mit
Hilfe von 45 Radaranlagen den
Luftraum. Sie können den Einsatz
von Alarmrotten der Luftwaffe
auslösen. Die stehen im Jagdgeschwader
71 (Wittmundhafen) und
Jagdgeschwader 74 (Neuburg a. d.
Donau) bereit. Nach deren Alarmierung
müssen die Flugzeuge innerhalb
von 15 Minuten in der Luft
sein. In besonderen Lagen kann
die Frist auf zehn oder sogar fünf
Minuten verkürzt werden.
*** Aus: neues deutschland, Samstag, 18. August 2012
Gefährlicher Weg
Von René Heilig ****
Zunächst einmal das Positive. Gibt es das? Na ja, scheinbar. Das Militär bekommt - anders als das politische Hitzköpfe in der Union oder der SPD mit dem Einstieg per Luftsicherheitsgesetz wollten - keine Polizeifunktionen. Die Richter gestatten der Regierung keinen Einsatz der Bundeswehr gegen das Grundgesetz insgesamt. Auch Demonstrationen - wer auch immer sie warum wie hoch schaukelt - sind kein Alibi, um einen »Unglücksfall« zu erkennen, der einen Militäraufmarsch rechtfertigt.
Und doch ist der Spruch aus Karlsruhe ein Schritt in die falsche Richtung. Die Richter haben das Grundgesetz nicht geschützt, sondern verändert. Das auf üblen historischen Erfahrungen beruhende fundamentale Verfassungsprinzip, militärische Mittel zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit auszuschließen, wird ohne akute Not untergraben. Das gibt eine politische Richtung vor. Die passt zum systematischen Abbau von Demokratie, der hierzulande von Konservativen betrieben wird. Vor dem Beschreiten dieses Weges ist zu warnen.
Der Spruch zeigt aber auch, dass die Verfassungshüter fachlich meilenweit von der Realität entfernt und Lichtjahre hinter den Problemen liegen. Erstens ist das, was sie da zum Abfangen von Terrorjets a là 9/11 geregelt haben wollen, nicht praktikabel. Und zweitens gar nicht notwendig. Wichtiger wäre, dass man beispielsweise die Sicherheit auf Flugplätzen erhöht. Damit hätten Bundesinnenminister und Bundespolizei, deren Führung gerade komplett gewechselt wurde, genügend zu tun.
**** Aus: neues deutschland, Samstag, 18. August 2012 (Kommentar)
Zurück zur Seite "Innere Sicherheit"
Zur Bundeswehr-Seite
Zurück zur Verfassungs(schutz)-Seite
Zurück zur Homepage