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Alternativen gesucht

Kapitalismus ist nicht das letzte Wort: In Tunesiens Hauptstadt startet das diesjährige Weltsozialforum. Es steht unter dem Motto "Würde"

Von Wolfgang Pomrehn, Tunis *

Am heutigen Dienstag beginnt in Tunis das elfte Weltsozialforum. Das Treffen steht in diesem Jahr unter dem Motto »Würde«. Die Veranstalter, ein Bündnis tunesischer Gewerkschaften, Frauenorganisationen und sozialer Bewegungen, rechnet mit 30000 Teilnehmern. Rund 20000 Delegierte, Interessierte und Journalisten aus 127 Ländern hatten sich bis Mitte letzter Woche angemeldet. Sie vertreten Umwelt- und Frauengruppen, Gewerkschaften, Jugendverbände und Bauernorganisationen aus aller Welt. Deutschland wird unter anderem von Vertretern des globalisierungskritischen Netzwerkes ATTAC, verschiedener DGB-Gewerkschaften, von gewerkschaftlichen Basisgruppen, der Rosa-Luxemburg-, der Heinrich-Böll- und der Friedrich-Ebert-Stiftung repräsentiert. Bereits seit Sonntag wird in der Innenstadt von Tunis, mit verschiedenen Kulturveranstaltungen für das Ereignis geworben.

»Eine andere Welt ist möglich« lautete des erste Motto der Bewegung. Dem versuchen die rund 1000 geplanten Workshops und Podiumsdiskussionen gerecht zu werden. Weltweit kommen an die 600 sogenannte Erweiterungsveranstaltungen unterschiedlichster Art hinzu. Deren spezielles Anliegen ist es, Menschen, die sich die Reise nach Tunesien nicht leisten konnten, über Internet-Livestreams und -Chats die Möglichkeit zu geben, die Konferenz zu verfolgen. Rund 100 Helfer werden in den nächsten Tagen in Tunis allein damit beschäftigt sein, hierfür die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Auf dem letzten Weltforum 2011 im senegalesischen Dakar hatte es massive Probleme mit dem Internet gegeben, die die Übertragung einschränkten. Das Interesse an der Teilhabe aus der Ferne ist seitdem dennoch sprunghaft angestiegen. Auf der Internetseite des Forums (www.fsm2013.org) werden in den nächsten Tagen die Livestreams verschiedener Veranstaltungen abzurufen sein, darunter auch einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Diskussion über die Auswirkungen der europäischen Abschottungspolitik auf die Länder Nordafrikas.

Die Lage dort und im Nahen Osten wird auf dem Forum eine große Rolle spielen. Es sind beispielsweise verschiedene Veranstaltungen zum Thema Migration, aber auch über die hohe Jugendarbeitslosigkeit geplant. In Marokko und einigen anderen Ländern hat sich eine neue Bewegung, die der »diplomierten Arbeitslosen« formiert, die auf dem Forum vertreten sein wird. Während im Maghreb das Bildungsniveau in den zurückliegenden Jahrzehnten erfreulich angestiegen ist, finden die vielen Abiturienten und Hochschulabsolventen keinen angemessenen Arbeitsplatz.

Wichtiges Thema ist auch die Ausbeutung der Rohstoffe in der Region. Nicht selten gehen diese Prozesse mit gefährlichen Arbeitsbedingungen und mitunter auch Menschenrechtsverletzungen einher. Natürlich spielen der Kampf um demokratische Rechte sowie die Finanz- und Hungerkrisen, die große Teile der Welt außerhalb der Boomregionen in Asien und Teilen Lateinamerikas fest im Griff haben, eine wichtige Rolle. »Trotz aller Vielfalt der Bewegungen eint alle Gruppen die Suche nach einem Gesellschaftsentwurf, der Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt«, sagte Francisco Marí von der Hilfsorganisation »Brot für die Welt« in Tunis. Diese gehört zu einem der Sponsoren des Forums.

Eröffnet wird es am Dienstagvormittag mit einer Versammlung der Frauen. Entgegen der Wahrnehmung in den großen Medien, gibt es in Nordafrika eine sehr aktive und kämpferische Frauenbewegung, die eine wichtige Rolle beim Umsturz in Tunesien und Ägypten gespielt hat. In letzter Zeit ist sie allerdings Angriffen der Salafisten, das heißt, besonders extremer islamischer Fundamentalisten ausgesetzt. Interessant dürften die Diskussionen zwischen westlichen Feministinnen und den jungen Frauen der arabischen Welt werden, die sich, wie vorherige Treffen gezeigt haben, aus Europa und Nordamerika mitunter bevormundet fühlen.

Für den Nachmittag ist eine große Auftaktdemonstration geplant. Die Veranstalter rechnen mit deutlich über 30000 Teilnehmern und erhoffen sich nicht zuletzt eine Ausstrahlung auf die tunesische Gesellschaft. Die Einwohner in Tunis und des nahegelegen Sousse soll unter anderem mit Dutzenden kleinerer und größerer Konzerte sowie rund 100 Filmvorführungen erreicht werden. Zum Abschluß des Forums ist für den 30. März eine Demonstration zur Unterstützung der Palästinenser aus Anlaß des »Tags des Landes« geplant.

Viele Veranstaltungen werden in Zelten stattfinden, die seit dem Wochenende auf dem Gelände der Universität errichtet wurden. Bisher spielt das frühlingshafte Wetter mit, auch wenn es am Montagvormittag noch einige kräftige Schauer gab. Auch die An- und Abreise der internationalen Teilnehmer ist inzwischen gesichert. Der Dachverband der tunesischen Gewerkschaften, die UGTT (Union Général Tunesienne du Travail), hat einen für diese Woche geplanten Streik der Flughafenbeschäftigten verschoben. Aus Zeichen der Solidarität mit den Teilnehmern des Forums, wie es beim Organisationskomitee in Tunis hieß.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 26. März 2013


Im Jahr 2000 wurde eine Tradition begründet

WSF-Bewegung versteht sich vor allem als Gegner der kapitalistischen Globalisierung **

Ende der 1990er Jahre wandten sich immer mehr Menschen gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung. Am Rande internationaler Ereignisse (G-7-Treffen, Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, dem Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos und vor allem der Konferenz der Welthandelsorganisation WTO im Dezember 1999 im US-amerikanischen Seattle) kam es nicht nur zu großen Protestdemonstrationen, es wurden auch eigene Veranstaltungen zum Thema organisiert. Daraus entstand im Jahre 2000 die Idee, nicht mehr den Mächtigen hinterher zu reisen, sondern eigene Gipfeltreffen abzuhalten. Das Weltsozialforum (WSF) war geboren.

Ein internationaler Rat wurde gegründet, der die Vorbereitung übernahm. Organisationen aus Brasilien wie die kämpferische Bewegung der Landlosen und der Gewerkschaftsdachverband CUT spielten eine wesentliche Rolle. Im Süden des Landes bot sich mit Porto Alegre eine Großstadt als Gastgeber an. Die Metropole am Rio Guaiba hatte eine langjährige Regierung der linken Arbeiterpartei vorzuweisen.

Das erste Weltsozialforum fand Ende Januar 2001 mit rund 20000 Teilnehmern aus 117 Ländern statt. In rascher Folge entstanden auf allen Kontinenten regionale, nationale und auch thematische Sozialforen. Das erste europäische kam 2002 in Florenz zusammen. Wie zuvor vereinbart, dienten die Foren als Ort zur Entwicklung gemeinsamer Strategien der sozialen Bewegungen über alle Grenzen hinweg. Zweck war es nicht, kollektive Forderungen aufzustellen oder Kampagnen zu organisieren. Das blieb und bleibt einzelnen Teilnehmern vorbehalten, die sich jeweils nach den Foren in sogenannten Versammlungen der Bewegungen treffen und eine Liste gemeinsamer Aktionen beraten. Einige davon sind in der Vergangenheit recht erfolgreich gewesen, viele andere jedoch am Mangel an Aufmerksamkeit gescheitert.

Das nächste WSF fiel 2002 mit etwa 50000 Teilnehmern aus 123 Länder noch größer als das erste aus. Austragungsort war wieder Porto Alegre. Zwar gab es von Anfang an die Idee, das Forum »wandern« zu lassen, aber erst das vierte konnte 2004 im indischen Mumbai (Bombay) abgehalten werden. Rund 74000 Menschen beteiligten sich. Einer der Schwerpunkte waren Diskussionen über den Militarismus der NATO-Staaten.

Nachdem 2005 das fünfte WSF wiederum in Porto Alegre stattgefunden hatte – rund 100000 Teilnehmer waren gekommen – entschied man sich, ein anderes Konzept auszuprobieren. 2006 tagte das WSF gleichzeitig in drei Städten auf drei Kontinenten: In Venzuelas Hauptstadt Caracas, in Malis Metropole Bamako und – wegen eines schweren Erdbebens zeitversetzt – im pakistanischen Karatschi. 2007 gab es nur ein zentrales Ereignis, diesmal in Kenias Hauptstadt Nairobi. Es folgten weitere Weltforen 2009 im nordbrasilianischen Belem, 2010 in Istanbul und 2011 in Dakar, Senegal.

Einer der Höhepunkte der Sozialforumsbewegung war die internationale Mobilisierung gegen den Irak-Krieg. An verschiedenen Aktionstagen brachten die Initiatoren bis zu 15 Millionen Menschen auf allen Kontinenten (einschließlich Antarktika) auf die Beine. Tiefpunkt dürfte das europäische Sozialforum 2010 in Istanbul gewesen sein. Trotz des Beginns der Euro-Krise und starker sozialer Bewegungen im benachbarten Griechenland wurde es zum Flop, nicht zuletzt, weil die türkische Linke heillos über die Vorbereitung zerstritten war und sich viele Bewegungen daher fernhielten.

(wop)

www.forumsocialmundial.org.br
www.fsm2013.org

** Aus: junge Welt, Dienstag, 26. März 2013


WSF: Charta und Prinzipien

Das erste Weltsozialforum fand vom 25. bis 30. Januar 2001 in Porto Alegre statt. Der Ausschuß brasilianischer Organisationen (der die Veranstaltung konzipierte und organisierte) stellte eine Charta von Prinzipien auf, um die kontinuierliche Weiterführung dieser Initiative zu gewährleisten.

Die darin enthaltenen Grundregeln stellen praktisch eine Verdichtung der Entscheidungen dar, die über die zur Durchführung des Porto-Alegre-Forums getroffen wurden und dessen Erfolg sicherstellten. Hierzu gehören:

Das Weltsozialforum wird als »offener Treffpunkt für reflektierendes Denken, demokratische Debatte von Ideen, Formulierung von Anträgen, freien Austausch von Erfahrungen und das Verbinden für wirkungsvolle Tätigkeit« definiert. Es soll u.a. Orientierung für jene Kräfte bieten, »die sich dem Neoliberalismus und Beherrschung der Welt durch das Kapital und jeder möglichen Form des Imperialismus widersetzen«.

Das erste Forum in Porto Alegre wird als »örtlich und zeitlich begrenztes Ereignis« zum Ausgangspunkt für das große Ziel der Bewegung definiert: »Eine andere Welt ist möglich!«

»Die auf dem Weltsozialforum vorgeschlagenen Alternativen« werden als in »Opposition zu einem Prozeß der Globalisierung« stehend definiert, einem Prozeß, »der befohlen wird von den großen multinationalen Konzernen und von den Regierungen und internationalen Institutionen, die den Interessen jener Konzerne zu Diensten sind, unter der Mittäterschaft nationaler Regierungen.«




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