Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die Menschen in der ganzen Welt leiden unter der Zuspitzung einer grundlegenden Krise des Kapitalismus"

Die Abschlusserklärung des Weltsozialforums 2012 von Porto Alegre (im Wortlaut, deutsche Übersetzung)


DOKUMENTIERT:

Erklärung der Versammlung der Sozialen Bewegungen

Porto Alegre (RS), Brasilien, 31. Januar 2012

Wir, Menschen aus allen Kontinenten, hier in der Versammlung der Sozialen Bewegungen beim Sozialforum zum Thema „Kapitalistische Krise, soziale und ökologische Gerechtigkeit“ zusammengekommen, kämpfen gegen die Ursachen einer Systemkrise, die als ökonomische, finanzielle, politische, Nahrungsmittel- und Umweltkrise bezeichnet wird und das Überleben der Menschheit gefährdet. Unterdrückte Völker zu entkolonialisieren und dem Imperialismus entgegenzutreten - das ist die wichtigste Herausforderung der sozialen Bewegungen überall in der Welt.

In diesem Rahmen treffen wir uns, die wir in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wurzeln, um gemeinsame Ziele und Aktionen gegen Kapitalismus, Formen des Patriarchats, Rassismus und jede Form von Unterdrückung und Diskriminierung gemeinsam zu verabreden. Deshalb bestätigen wir unsere gemeinsamen Ziele, die wir 2011 in Dakar angenommen haben:
  • Kampf gegen die transnationalen Konzerne
  • Kampf für Klimagerechtigkeit und Souveränität bei den Nahrungsmitteln
  • Kampf gegen Gewalt gegen Frauen
  • Kampf für Frieden und gegen Krieg, Kolonialismus, Besetzungen und Militarisierung unserer Territorien.
Die Menschen in der ganzen Welt leiden unter der Zuspitzung einer grundlegenden Krise des Kapitalismus, in der ihre Akteure (Banken, transnationale Konzerne, Medienkonglomerate, internationale Institutionen und willfährige Regierungen) versuchen, ihre Profite zu erhöhen, indem sie interventionistische und neokoloniale Politikformen durchzusetzen versuchen. Krieg, militärische Besetzungen, neoliberale Freihandelverträge und „Sparmaßnahmen“ in Form von Wirtschaftspaketen, die Staatsunternehmen privatisieren, beschneiden Löhne und Rechte, erhöhen die Arbeitslosigkeit und plündern die nationalen Ressourcen aus. Eine solche Politik trifft die reicheren Nationen des Nordens härter und führt zu mehr Auswanderung, erzwungener Umsiedlung, Ausweisung, Schulden und sozialer Schieflage.

Die diskriminierende Logik dieses Modells führt nur dazu, dass eine kleine Elite reicher wird - auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung, sowohl im Norden als auch im Süden. Die Verteidigung der Souveränität und der Selbstbestimmung des Volkes sowie der sozialen, wirtschaftlichen, umweltpolitischen und geschlechtsbezogenen Gerechtigkeit ist der Schlüssel dafür, aus der Krise herauszukommen, wobei die Rolle des Staates gegenüber den Konzernen und zum Wohle des Volkes gestärkt werden muss.

Die globale Erwärmung ist das Ergebnis des kapitalistischen Systems der Produktion, der Verteilung und des Verbrauchs. Transnationale Konzerne, Finanzinstitutionen, Regierungen und internationale Institutionen, die dem System dienen, wollen die Treibhausgase nicht reduzieren. Jetzt versuchen sie, die „grüne Ökonomie“ als Lösung für die Umwelt- und Lebensmittelkrise durchzusetzen, was das Problem nicht nur verschärft, sondern auch zur weiteren Vermarktung, Privatisierung und Kapitaldurchdringung des Lebens führt. Wir weisen all diese falschen „Lösungen“ dieser Krisen zurück, einschließlich Biosprit, GMOs, Geoingeneering und Kohlenstoffmärkten, weil sie alle nur neue Masken des Systems sind.

Rio +20 im nächsten Juni in Rio de Janeiro, 20 Jahre nach ECO 92, untermauert die Wichtigkeit des Kampfes für Umweltgerechtigkeit statt des Modells der kapitalistischen Entwicklung. Der Versuch, den Kapitalismus durch neue Instrumente einer „grünen Wirtschaft“ grün zu waschen bedeutet für uns, die sozialen Bewegungen, eine Herausforderung, unseren Widerstand zu verstärken und die führende Rolle dabei zu übernehmen, echte Alternativen zur Krise aufzuzeigen.

Wir verurteilen die regelmäßige Gewalt gegen Frauen, um ihr Leben und ihre Körper zu kontrollieren ebenso wie die erhöhte Ausbeutung ihrer Arbeit, um die Krisenauswirkungen abzufedern und kontinuierliche Profitraten für die Konzerne zu gewährleisten. Wir kämpfen gegen den Handel mit Frauen und Kindern und gegen Rassismus. Wir verteidigen sexuelle Unterschiedlichkeit, das Recht geschlechtlicher Selbstbestimmung und wir kämpfen gegen Fremdenfeindlichkeit und sexistische Gewalt.

Imperialistische Mächte nutzen im Ausland stationierte Militärbasen, um Konflikte anzuheizen, nationale Ressourcen zu kontrollieren und an sich zu reißen und Diktaturen in verschiedenen Ländern zu fördern. Wir verurteilen die falschen Reden über die Verteidigung von Menschenrechten, die diese militärischen Besetzungen oft zu rechtfertigen versuchen. Wir sind gegen die andauernden Verletzungen der Menschen- und demokratischen Rechte in Honduras, besonders in Bajo Aguan, gegen die Attentate gegen Gewerkschaftsführer und Sozialaktivisten in Honduras und gegen die kriminelle Blockade gegen Cuba, die nunmehr im 50. Jahr stattfindet. Wir kämpfen für die Freilassung der fünf Cubaner, die gesetzwidrig in den USA eingesperrt sind, gegen die illegale Besetzung der Malvinas Inseln durch Großbritannien, gegen die Folterungen und die militärische Besetzung von Libyen und Afghanistan durch US- und NATO- Kräfte. Wir klagen den Neokolonialismus und den Militarisierungsprozess an, den der afrikanische Kontinent erlebt, ebenso wie das Wirken von Africom. Wir kämpfen ebenso für die Abschaffung aller Kernwaffen und gegen die NATO.

Wir solidarisieren uns mit den Völkern der Welt, die gegen die räuberische und neokoloniale Logik der Industrie zur Gewinnung von Naturprodukten und gegen die transnationale Bergbauindustrie kämpfen, insbesondere mit den Menschen in Famatina in Argentinien und wir verurteilen die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen.

Der Kapitalismus zerstört das Leben der Menschen. Trotzdem entwickeln sich jeden Tag viele Kämpfe für soziale Gerechtigkeit, um die Auswirkungen des Kolonialismus zu beseitigen und eine würdige Lebensqualität für Alle zu ermöglichen. Jeder dieser Kämpfe beinhaltet einen Kampf der Ideen, der Aktionen für die Demokratisierung der Medien, die zur Zeit durch große Konglomerate kontrolliert werden, erfordert, ebenso wie Aktionen gegen die private Kontrolle des geistigen Eigentums. Gleichzeitig verlangt dieser Kampf die Entwicklung unabhängiger Kommunikationsmittel, die diese Prozesse begleiten.

Unseren historischen Kämpfen verpflichtet, verteidigen wir würdige Arbeit und Landreformen als den einzigen Weg, familiäre, bäuerliche und indigene Landwirtschaft zu stärken und als den entscheidenden Schritt, Souveränität über die Nahrungsmittel und Umweltgerechtigkeit zu erreichen. Wir bestätigen unsere Unterstützung des Kampfes für Städtereformen als fundamentales Mittel, faire Städte aufzubauen, die Räume für Mitbestimmung und Demokratie ermöglichen. Wir verteidigen den Aufbau einer alternativen Integration, die auf Solidarität beruht und Prozesse wie UNASUR und ALBA stärkt.

Der Kampf für die Stärkung der öffentlichen Bildung, der Wissenschaft und der Technologie zum Wohle des Volkes, ebenso wie der Kampf um die Verteidigung traditionellen Wissens kann nicht aufgeschoben werden, denn diese Bereiche werden zunehmend zur Ware gemacht und privatisiert. Deshalb erklären wir unsere Solidarität mit den Studenten in Chile, Kolumbien, Puerto Rico und weltweit, die weiterhin für die Verteidigung dieser Gemeinschaftsgüter demonstrieren.

Wir erklären, dass die Menschen nicht weiterhin für diese Systemkrise bezahlen müssen und dass es keine Lösung innerhalb des kapitalistischen Systems gibt!

Auf der Tagesordnung stehen massive Herausforderungen, die von uns verlangen, unsere Kämpfe und unsere Massenmobilisierungen zu vernetzen.

Inspiriert durch die Geschichte unserer Kämpfe und die Stärke von Bewegungen wie dem Arabischen Frühling, Occupy Wall St., den „Empörten“ und den Kämpfen der chilenischen Studenten, ruft die Versammlung der Sozialen Bewegungen die Volkskräfte und die Aktivisten aller Länder auf, zu Aktionen zu mobilisieren, die weltweit koordiniert werden, um zur Emanzipation und zur Selbstbestimmung der Menschen beizutragen und den Kampf gegen den Kapitalismus zu verstärken.

Wir rufen zur Unterstützung des internationalen Menschenrechtstreffens der Solidarität mit Honduras und für die Bildung eines freien palästinensischen Sozialforums auf, um die weltweite Bewegung des Boykotts, der Zurückziehung von Investitionen und der Sanktionen gegen den Staat Israel und gegen seine Apartheidpolitik gegen das palästinensische Volk zu stärken.

Wir fordern die Aktivisten der ganzen Welt auf, ab dem 5. Juni auf die Straßen zu gehen, um sich an der weltweiten Aktion gegen den Kapitalismus zu beteiligen und den Gipfel der Völker für Soziale- und Umweltgerechtigkeit, gegen die Vermarktung des Lebens und für die Verteidigung der Gemeinschaftsgüter zu unterstützen, der im Rahmen von Rio+20 stattfinden wird.

Wenn wir heute kämpfen, gehört die Zukunft uns!

Porto Alegre, 28. Januar 2012
Versammlung der Sozialen Bewegungen


(Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Köster)

Quelle: isw-Website; http://www.isw-muenchen.de


Zurück zur Globalisierungs-Seite

Zur Seite "Soziale Bewegungen"

Zurück zur Homepage