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"Bald sind wir alle Sozialisten"

Beim Weltsozialforum wird mit viel indigener Beteiligung über alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle diskutiert

Von Gerhard Dilger, Belém *

Mehr denn je stehen indigene Völker im Mittelpunkt des Weltsozialforums. Ihr Stellenwert wurde durch den Panamazonientag am Mittwoch unterstrichen. Generell wird über nachhaltige und gerechte Alternativen zum Kapitalismus diskutiert -- nicht nur das Amazonasgebiet betreffend.

Ein süßlicher Duft zieht über die Menschenmenge. Ein stämmiger Mann geht im Kreis und schwenkt eine Blechdose als Weihrauchkessel. Er hat ein rotes Baumwolltuch mit bunten Stickmustern zu einem Turban gebunden, ein weiteres als Gürtel unter dem weißen Hemd. In der Mitte des Kreises brennt ein Haufen becherförmiger Rindenstücke, auf denen ein Bund gelber Kerzen liegt.

Eine schwarze Rauchwolke steigt empor, die Tropensonne brennt. Während der Zeremonienmeister auf Spanisch die guten Geister beschwört, stehen ihm Schweißperlen im Gesicht. Schauplatz des Feuerrituals ist der Campus der Bundesuniversität von Pará im brasilianischen Belém. Auf dem Weltsozialforum hat der Maya-Schamane Leopoldo Méndez den Panamazonientag eröffnet.

Mehr denn je stehen indigene Völker im Mittelpunkt des globalisierungskritischen Großereignisses. Um die zweitausend Indígenas aus ganz Amerika sind in die Millionenstadt am Amazonasdelta gekommen, die meisten von ihnen aus Brasilien. Für Paulo Mendes Tikuna dauerte die Schiffsreise neun Tage. »Wir wollen der Welt zeigen, dass es uns noch gibt, dass wir uns wehren«, sagt der schmächtige Mann aus der Grenzregion zu Kolumbien und Peru, »unsere Flüsse haben immer weniger Fische, und ständig dringen Holzfäller in unser Land ein.« Edmundo Dzuhiwi Xavante aus dem Bundesstaat Mato Grosso klagt darüber, dass sein Land völlig von den Sojaplantagen multinationaler Konzerne umzingelt ist. Die Flüsse der Region seien durch Rückstände von Pflanzengiften verseucht, berichtet er. Artenvielfalt in Amazonien gefährdet

In einem großen Zelt wird eine Kampagne zum Schutz der Amazonasregion ausgerufen. »Die Politiker müssen einsehen, dass wir nicht ein Entwicklungshemmnis sind, sondern die besten Verteidiger des Waldes, des Wassers und der Luft«, meint Marcos Apurinã von der Koordination der Ureinwohner aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. »Eines Tages werden sie verstehen, dass dies nicht nur im Interesse unserer, sondern auch ihrer eigenen Kinder liegt«, hofft der 38-Jährige mit langem Pferdeschwanz und imposantem Federschmuck.

Amazonien verfügt über den größten Tropenwald der Welt mit einer einzigartigen Artenvielfalt und enormen Süßwasserreserven. Der Regenwald funktioniert wie eine riesige Klimaanlage, und deswegen trägt seine Zerstörung erheblich zur Erderwärmung bei. Die internationale Debatte über den Klimawandel hat darauf reagiert, darunter auch Aktivisten aus Nord und Süd, die in Belém den Diskussionsstand erläutern.

Eine einflussreiche Strömung sieht im Erhalt der Regenwälder durch den Emissionshandel die preiswerteste Variante zur Reduzierung der Treibhausgase. Durch den Erwerb von CO2-Zertifikaten in großem Stil dürften sich jedoch Unternehmen aus den Industrieländern nicht von ihrer Verantwortung zu Hause freikaufen, warnt Elmar Altvater auf einem Workshop der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Berliner Ökonom ist davon überzeugt, dass eine gerechte Lösung der Klimakrise nur »jenseits des Kapitalismus« möglich sei - ebenso wie Boliviens indianischer Präsident Evo Morales, der am Donnerstag erwartet wurde. Aus dieser Perspektive befinden wir uns einer Systemkrise, die nicht erst mit dem Börsencrash im vergangenen September begonnen hat. »In ein paar Jahren werden wir alle Sozialisten sein - entweder wir teilen das wenige, was wir haben, oder es wird für niemanden mehr etwas geben«, erklärte der Befreiungstheologe Leonardo Boff in Belém.

Streitkultur ist ein Fremdwort

In einem Hörsaal schildern Experten weitere Bedrohungen des Amazonasgebiets durch neue Staudämme, Verkehrswege oder die Förderung von Mineralien auf Indianerland. Im Rahmen der Südamerikanischen Initiative zur regionalen Infrastruktur-Integration haben brasilianische Banken und Unternehmen in den letzten zehn Jahren die Führungsrolle übernommen, legt der Wissenschaftler Ricardo Verdum dar. Von einer »anderen«, ökosozialen Entwicklungskonzeption sind die lateinamerikanischen Linksregierungen also noch weit entfernt.

Ein paar Schritte weiter haben Gewerkschafter aus dem Energiesektor ein Modell des umstrittenen Wasserkraftwerks Belo Monte aufgestellt, gegen das im vergangenen Mai Indígenas zu einem spektakulären Protesttreffen zusammenkamen (ND berichtete). 140 Gewerkschafter in Belo-Monte-T-Shirts werben unter dem Motto »Erneuerbare Energie mit sozialer Gerechtigkeit« für den Bau des Riesenstaudamms und verteilen Flyer für die entsprechenden Lobbyveranstaltungen.

»Bisher wurde auf dem Forum doch immer nur die Gegenseite präsentiert«, sagt Gewerkschaftschef Mauro Martinelli und versichert, die Regierung habe mit der Offensive nichts zu tun. Kontroverse Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern des Projekts oder gar über die Amazonaspolitik der Regierung Lula sind jedoch nicht vorgesehen - Streitkultur ist in der lateinamerikanischen Linken ein Fremdwort.

Wie immer ist das Weltsozialforum eine Mischung aus Volkshochschule, politischem Aktivismus und Happening. Rund um das Jugendcamp in der Amazonas-Bundes-universität geht es zu wie in einer alternativen Ferienkolonie. Die Quichua-Indianerin María Elena Zambrano aus dem ecuadorianischen Otavalo verkauft selbstgeknüpfte Armbänder -- auf dem Sozialforum ist sie fast zufällig gelandet. Reggaeklänge wehen über das Zeltlager, Studenten ziehen gut gelaunt über den Campus.

»Manchmal frage ich mich, ob das viele Feiern nicht zu sehr von unseren Zielen ablenkt«, formuliert der US-Amerikaner Andrew Miller von Amazon Watch die Vorbehalte mancher Teilnehmer aus dem Norden. Von der kalifornischen Organisation stammt die Idee, zum Auftakt des Forums über tausend Indígenas so aufzustellen, dass sie aus der Vogelperspektive einen Krieger mit Pfeil und Bogen und den Schriftzug »Rettet Amazonien« bildeten. Das Foto ging um die Welt.

Doch manches ist neu: Anders als das südbrasilianische Porto Alegre, wo das Forum zwischen 2001 und 2005 tagte, ist die Hauptstadt des Bundesstaates Pará keine moderne Metropole. Viele Bauprojekte für das Forum sind nur halb fertig geworden, etwa der Ausbau der einzigen Zubringerstraße. Folglich kommt es jeden Tag zu Dauerstaus und Verspätungen.

Die beiden Universitätsgelände am Rande von Belém sind von Armenvierteln umsäumt, in denen wegen des boomenden Drogenhandels besonders viele Gewaltverbrechen begangen werden. Für die Zeit des Forums hat die Gouverneurin das Polizeiaufgebot vervielfacht, sogar Sondereinheiten aus Brasília sind im Einsatz. Viele Einheimische sind erleichtert und verärgert zugleich, denn sie kommen sich als Bürger zweiter Klasse vor: Nächste Woche, nach der Abreise der Globalisierungskritiker, sind sie erneut der Unsicherheit ausgeliefert.

Beléms Blütezeit, von der einzelne renovierte Fin-de-Siècle-Pracht-bauten in der Innenstadt zeugen, ist schon lange vorbei. Nach dem Kautschukboom zwischen 1870 und 1914 ging es bergab. Von Pará aus werden über transnationale Konzerne, allen voran der brasilianische Bergbauriese Vale, die Industrieländer und China mit Mineralerzen und Aluminium versorgt. Selbst der Rohstoffboom der letzten Jahre hat kaum etwas an der weit verbreiteten Armut geändert.

»Der kapitalistische Raubbau ist keine Perspektive für Amazonien«, meint Egon Heck vom Indianermissionsrat CIMI. Die Linkskatholiken gehören zu den wichtigsten Unterstützern der brasilianischen Indígenas und leisten auch für deren Auftritt in Belém diskrete logistische Unterstützung. Die neue Kampagne ziele auf die nichtindigene Öffentlichkeit und sei zugleich ein Mittel für die weitere Vernetzung über die Landesgrenzen hinweg -- in Brasilien liegen nur zwei Drittel des Amazonasgebiets, es reicht in acht Nachbarländer hinein. »Die Bewegungen in den Andenländern Ecuador und Bolivien haben jahrzehntelange, sehr politische Kämpfe hinter sich«, benennt Heck einen wichtigen Unterschied zu Brasilien.

Indigene Renaissance ist im Gang

»Unsere Anliegen sind die gleichen, die Verteidigung unserer Mutter Erde, der Lunge der Welt, des guten Lebens«, sagt der Peruaner Miguel Palacín Quispe von der Koordination der andinen Indígenaorganisationen, der einen schwarzen Filzhut trägt und mit der bunt gescheckten Whipala-Fahne unterwegs ist. Selbstbewusst berichtet er von den Fortschritten in seinem Heimatland, wo die indigene Renaissance erst »vier, fünf Jahre alt« ist und räumt ein: »Die Verständigung mit den Brasilianern ist nicht immer leicht, aber wir haben ja noch ein paar Tage vor uns.«

* Aus: Neues Deutschland, 30. Januar 2009


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