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Menschenrechte im Völkerrecht

Andreas Fischer-Lescano hat ein gewichtiges Buch vorgelegt: "Globalverfassung"

Andreas Fischer-Lescano* ist den Besuchern unserer Website gut bekannt. Zuletzt erschien von ihm eine Expertise zur Klage gegen US-Verteidigungsminister Rumsfeld wegen dessen Verantwortung für die Foltervorgänge im Irak (Juristisches Kurzgutachten: Deutschland muss die Strafanzeige gegen Donald Rumsfeld behandeln).
Soeben hat Andreas Fischer-Lescano ein neues Buch vorgelegt, das im Verlag Velbrück Wissenschaft erschien: Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschenrechte im postmodernen ius gentium. (ISBN: 3-934730-88-4). Daraus dokumentieren wir das Inhaltsverzeichnis sowie die Einleitung. Beides haben wir der Homepage des Verlags entnommen: www.velbrueck-wissenschaft.de.



Andreas Fischer-Lescano: Globalverfassung

Die Geltungsbegründung der Menschenrechte im postmodernen ius gentium

Inhalt:

Einleitung
1. Die Verschwundenen
§ 1 Las Madres de Plaza de Mayo
§ 2 Globalisierung des Protests

2. Rules of recognition im ius gentium
§ 3 Gewalt des Rechts
§ 4 Ubi societas, ibi ius
§ 5 Rule of recognition I: colère publique mondiale
§ 6 Rule of Recognition II: Völkerrecht
§ 7 Rechtspluralismus im ius gentium

3. Zentrum des ius gentium: global remedies
§ 8 Global remedies im jüdischen Recht
§ 9 Weltrecht: Der Metacode »Inklusion/Exklusion«
§ 10 Gerichte: Funktion und Leistungv § 11 Tribunale Permanente dei Popoli als Entscheidungsinstanz?
§ 12 Global remedies und los desaparecidos
§ 13 Delegitimation durch Verfahrenv § 14 Heterarchische global remedies

4. Politische Globalverfassung
§ 15 Sprache der Willkürkontrolle
§ 16 Globalverfassung und die Selbstbeschreibungen des Rechts
§ 17 Globalverfassung: Strukturelle Kopplung im Weltrecht
§ 18 Fundamentalrechte der Globalverfassung
§ 19 Kollisionslagen

5. Verfassungspluralismus in der Weltgesellschaft
§ 20 Verfassungsillusionen: Weltstaatsverfassung
§ 21 Internationale Gemeinschaft
§ 22 Spontanverfassungen
§ 23 Verfassungsosmosen

Fazit

Abkürzugsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register

Einleitung

»Hinter allem Recht liegt jemandes Geschichte – jemandes, dessen Blut, wenn wir aufmerksam lesen, durch die Zeilen sickert.«

Menschenrechte sind ein konfliktträchtiges Thema. Ihre Behandlung kann von den verschiedensten Unterscheidungen ausgehen und, je nach dem, welche Form der Beobachter wählt, zu Ergebnissen führen, die einmal vom hegemonialen Charakter allen Rechts, einmal von Universalismus und Relativismus, von Moralismus und Realismus, einmal eine Geschichte vom Guten und vom Bösen in der Welt erzählen. Die Differenzen in den Grundauffassungen von der Natur des Menschen, der Natur des Naturzustandes oder den möglichen Zivilzustands-Szenarien scheinen dann rasch unüberwindbar und letztlich ist es nicht recht einsichtig, weshalb soviel Emotionalität und soviel Streitbarkeit und soviel Selbstgerechtigkeit in Theorien dieses humanistischen Typs eingelassen werden müssen.

Niklas Luhmann führt das zu dem Schluss, dass »man vom Menschen im Kontext einer Theoriearbeit zunächst lieber schweigen sollte.« Es gäbe andere und viel bessere Analysen der Struktur und der Folgeprobleme der Ordnung der modernen Gesellschaft als gerade diese, die auf das spezifische Schicksal von Menschen in dieser Gesellschaft abstellen. Das provoziert Widerspruch. Ist die Beschäftigung mit dem Menschen in einer Untersuchung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Geltungsbegründung und die Begründung der Geltung der Menschenrechte theoretisch zu klären, indem die Prozesse im Weltrecht beschrieben werden, die zur Instaurierung der Menschenrechte führen, nicht zwangsläufig? Manifestieren nicht die revolutionären Texte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der französischen Menschenrechtsdeklaration von 1789, dass die Gesellschaft nur nach einer Idee zu konzipieren sei: Der Idee der menschlichen Individualität – liberté, egalité, fraternité?

I.

Die Semantik der Individualität, die Entdeckung des Menschen, ist auf die Umstellung gesellschaftlicher Differenzierung von Merkmalen stratifikatorischer Provenienz zu funktionalen Differenzierungsformen zurückzuführen. Die je individuelle Zumutung der Individualität und deren gesellschaftliche Auswirkungen liegen in der Konsequenz der gesellschaftlichen Tatsache, fait social, dass die Rolle des Individuums in der Gesellschaft nicht mehr aufgrund naturalistischer oder religiöser Momente determiniert ist, struktur- und herrschaftsbedingte Identitätszuweisungen gestrichen sind. Wenn man die Autonomie des Individuums als gesellschaftliche Semantik ernst nimmt und nach der Rechtsform der Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft fragt, befriedigt das noch im 17. Jahrhundert vorherrschende Bild vom Ganzen und seinen Teilen nicht. Eine ganze Weile halfen die Sozialvertragstheorien über das Problem hinweg, bis das 18. Jahrhundert die Semantik der Menschenrechte entwickelte und diese in Bill of Rights und Verfassungstexten positivierte. Sofern sie als Bürgerrechte formuliert sind, weisen sie auf die Einheit der Differenz von Individuum und Staat und natürlich auf die Einheit von Recht und Staat. Auch hier kann man wieder weiter fragen und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft thematisieren. Aber der Begriff der Menschenrechte deutet bereits darauf hin, dass man eine Lösung gefunden hat, die unabhängig von dieser Einheit ist, die Staatsangehörige und Nicht-Staatsangehörige, Bürger und Nicht-Bürger betrifft und die die Rechtsform der Einheit der Differenz von Gesellschaft als sozialem System und von Individuen als lebende Systeme beschreibt; eine Rechtsform, die, wie auch immer man Recht begründet hatte, so alt ist wie der Kampf um Menschenrechte und Menschenwürde selbst und die auch Hersch Lauterpacht adressiert hatte: »Die Lehre von den angeborenen Rechten, wie sie in der ersten amerikanischen Verfassung und in der französischen Erklärung der Menschenrechte ausgedrückt ist, […] stellte für den revolutionären Gebrauch die angesammelte Kraft dessen auf, was seit langem das Rückgrat der Lehre vom Naturrecht war«.

Wozu aber nutzt die Weltgesellschaft den Begriff der Menschenrechte? Welche Probleme löst er? Aus der Exterritorialität, Transnationalität und der Staats-Independenz des Begriffs der Menschenrechte folgt, dass dem globalen Menschenrechts-Recht eine andere Funktion zukommen muss als nationalstaatlichen Bürgerrechten, die eine Entdifferenzierung und Simplifizierung der Sozialordnung verhindern, indem sie verschiedene Untersysteme der Gesellschaft mit ihren getrennten Kommunikationskreisen und unterschiedlichen Sondersprachen gegen Tendenzen zur Politisierung der Sozialordnung abschirmen. Willkürkontrolle im weltpolitischen System der Weltgesellschaft hat andere Probleme zu lösen, als die Egalisierung funktionaler Differenzierung zu verhindern. Das ist eine nationalstaatliche Aufgabe, wenngleich man zu Recht fragen kann, ob und wie der Staat dieser Aufgabe überhaupt noch adäquat nachkommen kann.

II.

Kandidaten für Menschenrechte gibt es zahlreiche und eine gewisse Inflation der Menschenrechtssemantik ist nicht zu übersehen, weshalb heute gerne, wenn man Emphase braucht, auch von Fundamentalmenschenrechten gesprochen wird. Das ist eine von vielen möglichen Verschiedenheiten in der kommunikativen Auseinandersetzung. Wenn man aber Rechte als normative Erwartungen begreift und das Weltmenschenrechts-Recht als Subsystem der Weltgesellschaft, dann sieht man, dass man zwar unter Berufung auf die Menschenrechtssemantik eine Vielzahl von Realzuständen beklagen kann, dass man es aber dann nicht mehr mit den normativen, kontrafaktischen Erwartungen in der Weltgesellschaft zu tun hat, sondern mit lernbereiten Kognitionen, kognitiven Erwartungen also, die, sei es kopfschüttelnd, sei es resignierend, skandalöse Zustände als Realitäten ferner Welten hinzunehmen bereit sind und sich weltweiten Atrozitäten lernend beugen. Von globalem Menschenrechts-Recht kann daher ernsthaft nur dann gesprochen werden, wenn kontrafaktisch erwartet wird, wenn die Weltgesellschaft nicht bereit ist, Missstände hinzunehmen, die sie für unerträglich hält. Das heißt zugleich, dass der Regelungsbereich des Weltmenschenrechts-Rechts auf eklatante, geschmacklose Vorkommnisse der Verletzung der Menschenwürde, der Nichtgewährung der Selbstkonstitution des Individuums und der daraus ableitbaren Freiheits- und Gleichheitspostulate konzentriert ist: Erwarten in Fällen von Sklaverei, Vertreibung, Foltern, Apartheid, Völkermord bzw. – wie am Beispiel der desaparición gezeigt werden wird – »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ist in der Weltgesellschaft kontrafaktisch, selbst wenn die Realitäten andere sind. Das schließt nicht aus, dass als Menschenrechtskandidaten auch andere als nur Individualrechte liberalen Ursprungs in Betracht kommen. Auch soziale und kulturelle Einzel- und Gruppenrechte – man spricht gewöhnlich von Menschenrechten der ersten, zweiten und dritten Dimension – können weltweit rechtsverbindlich sein. Denn die Warnung ist ernst zu nehmen, dass eine dogmatische Verkürzung der Menschenrechtsidee auf die klassischen liberalen Menschenrechte dazu führte, dass nicht nur die sozialen Rechtsforderungen als Verwässerung der Menschenrechte abgelehnt werden – und in der Folge erst recht die Forderung der Dritten Welt nach einem Recht auf Entwicklung –, sondern dass dadurch auch die Gefahr entstünde, »dass es zu einer Aufspaltung in ›westliche‹, ›östliche‹, und ›südliche‹ Menschenrechtskonzeptionen kommt, zwischen denen keine Vermittlung mehr möglich ist«.

Vor allem aber verkennt eine solche dogmatische Verkürzung, dass normatives Erwarten auch gegen massiv andersgeartete Realitäten durchgehalten werden kann. Denn bei den Menschenrechten hat man es mit Normen zu tun, deren spezifische Funktion in der Weltgesellschaft die der Gewährleistung der Selbstkonstitution des Individuums ist. Dennoch ist nicht alles, was auf der Welt als ungerecht beschrieben wird, auch tatsächlich bereits eine Frage des sozialen Systems Recht. Das Problem der Exklusion weiter Teile der Weltbevölkerung aus den Funktionsbereichen der Gesellschaft, daraus resultierende Nahrungsmittelknappheiten, Krankheiten, Unsicherheiten, oder etwa die Tatsache, dass in brasilianischen favelas nicht einmal das eigene Leben etwas ist, was man verlieren könnte – das sind Ungerechtigkeiten, die aufzuheben eine in der Regel allgemein akzeptierte Forderung ist. Die Reformulierung solcher Forderungen im Recht wird aber stets nur schwer funktionieren, da normatives Beschreiben die Phänomene nur an Normen misst und die Probleme der Weltgesellschaft eine strukturelle Tiefenlage haben, deren Beschreibung und Lösung sehr viel mehr einbeziehen muss als nur das Recht. Eklatante Unterversorgungen, Diskrepanzen in Lebens- und Entwicklungschancen sind dennoch mehr als nur ein erweitertes Desiderat für Sozialarbeit und Entwicklungshilfe Ob aber die Weltgesellschaft die Lösung dieser Probleme in einem dafür ausdifferenzierten Funktionssystem sucht, oder ob sie sich weiterhin auf die Produktion wohlmeinender aber kaum einklagbarer Texte beschränken möchte und auf die Konfliktlösungsleistung des Weltrechtssystems verzichten will, ist genauso offen wie die Zukunft der mehr oder weniger erfolgreich operierenden Kombination von global law und global governance, die in der Vergangenheit einer möglichen Zukunft vielleicht nur noch als »Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung« erinnert werden wird.

III.

Die vorliegende Untersuchung des transnationalen Rechts der Weltgesellschaft ist das Ergebnis einer soziologisch-juristischen Grenzbetrachtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, mit den Mitteln der Systemtheorie transnationale Rechtsbildungsprozesse im Bereich der universellen Menschenrechte zu untersuchen. In dieser Gegenstandsbeschreibung liegt auch die Problematik eines solchen Unterfangens. Transnationalität, Rechtsbildungsprozesse, Universalität, Menschenrechte und Systemtheorie sind voraussetzungsreiche Konzepte, die alle Konfliktstoff und vor allem Kontingenzen bergen. Insbesondere die Entscheidung zur Anwendung des theoretischen Instrumentariums der Systemtheorie, der unablässlich der Vorwurf der A-Humanität und der Apologie des Bestehenden anhaftet, macht die Herausforderung nicht gerade leichter. Die Arbeit nimmt die damit verbundenen Schwierigkeiten in Kauf. Sie ist von der Überzeugung getragen, dass der von ihr gewählte gesellschaftstheoretische Ansatz wie kein anderer dazu in der Lage ist, die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes abzubilden und dadurch emanzipatorische Projekte im Recht reformulierbar zu machen. Neben der Verbindung gesellschaftstheoretischer und juristischer Beschreibungsformen, ist es ihr zentrales Anliegen, zwei Phänomene in Beziehung zu setzen: die Beobachtung einer Diversifizierung globaler Akteure und Handlungsformen und den Diskurs über einen globalen Konstitutionalismus. Dabei wird versucht, Plausibilität dafür zu vermitteln: (1) dass globale Rechtsentwicklungen keineswegs ausschließlich durch die traditionellen Völkerrechtssubjekte getragen werden, sondern in erster Linie durch die Weltgesellschaft selbst; (2) dass die im Völkerrecht langsam Raum gewinnende Erkenntnis partialer Völkerrechtssubjektivität nicht-staatlicher Akteure ein Beginn rechtlicher Reformulierung einer komplexer gewordenen außerrechtlichen Umwelt ist; (3) dass diese partiale Öffnung allerdings nicht ausreicht, sondern erst dann weltgesellschafts-adäquat ist, wenn sie die weltgesellschaftlichen Rechtssetzungsmechanismen, das weltgesellschaftliche Gewohnheitsrecht, Scelles droit objective, das hier als lex humana des postmodernen ius gentium reformuliert wird, anerkennt, wofür die völkergewohnheitsrechtlich geltende Inkorporationsnorm der Martens’schen Klausel genutzt werden könnte; (4) dass sich trotz dieses Defizits auf der Ebene der Weltgesellschaft ein Rechtssystem ausdifferenziert hat, das sein Zentrum in den heterarchisch organisierten global remedies hat und das mit dem weltpolitischen System strukturell gekoppelt ist; (5) dass es diese strukturelle Kopplung – die politische Globalverfassung – ist, der die Staaten ihre rechtliche Existenz verdanken; (6) dass ein realpolitischer Rechtsnihilismus daher zur Ununterscheidbarkeit von terroristischen Netzwerken und Staaten führte; (7) dass der genetische Rechtspluralismus im postmodernen ius gentium, das aufgrund der Permeabilität der Staaten und der Normierung von Individualpflichten und -rechten kein ius inter gentes mehr ist, in der gegenwärtigen Globalverfassung nur unzureichend berücksichtigt wird und (8) dass das Weltrecht sich insbesondere auch aus demokratietheoretischen Erwägungen als autopoietisches System in einer Weltgesellschaft begreifen muss, die aus mehr als nur Staaten besteht.

IV.

Rechtstheoretische Aufmerksamkeit hat das Begründungsdefizit des Völkerrechts in der jüngsten Zeit vielfach erfahren. Untersuchungen wie die über die »Lücken im Völkerrecht« zeigen zwar, dass von einer weltgesellschaftlich einheitlichen Geltungstheorie, gar von einem konsensbasierten Geltungsgrund des Völkerrechts nicht die Rede sein kann und dass dies für die Operationen dieses Weltrechts nicht ohne Auswirkungen bleibt. Eine zeitgemäße – und das meint postmoderne – rechtssoziologische Untersuchung, die sich mit dem normativen Erwarten der Weltgesellschaft im Hinblick auf das Menschenrechts-Recht, dem Verhältnis der komplexen, hochgezüchteten Eigenlogik des Völkerrechts einerseits und der globalen Skandalisierungsprozesse andererseits befasst, gibt es aber nicht. Hier wird daher der Versuch unternommen, diese ›Lücke im Völkerrecht‹ durch eine beispielhafte Betrachtung des Falles der argentinischen desaparecidos, der Verschwundenen, zu thematisiseren. Die Untersuchung widmet sich einer rechtssoziologischen Betrachtung des Völkerrechts und seiner Reflexionstheorien und nimmt die gemeinsamen Fragestellungen zum Anlass, Geltungsgrund und Geltungsbegründung der Menschenrechte zu reflektieren, um dann Grenzen und Möglichkeiten politischer Unterstützung der Erwartungsenttäuschungen in Fällen der Verletzung des Menschenrechts-Rechts zu erläutern. Das Vorgehen ist adäquanzfunktionalistisch. Es ist dies eine Selbstbeschreibung, die auf die Möglichkeiten und Grenzen dieser Beobachtungsform hinweist und die Stefan Oeter – der neben Anthony D'Amato und Achilles Skordas als einer der ersten Völkerrechtler auf die Bedeutung der Systemtheorie Niklas Luhmanns und Gunther Teubners für die theoretische Fundierung des Völkerrechts hingewiesen hat – prägnant zusammenfasst: »Systems theory delivers only a sociological description of the international legal process, what its advocates call a ›second-order observation‹, and thus is of no help for legal work as such. Systems theory does not deliver any instrument for the construction of particular norms, i.#e. the core of legal work; it delivers only a tool for understanding the basic structure of the (international) legal system from an outside perspective. Systems theory might help a great deal if one is struggling with the essential questions underlying international legal doctrine, like the fundaments of the ›binding nature‹ of international law as such, its separateness from politics, the resulting questions of how politics is transformed into law in the course of customary legal process.« Erwartungen dahingehend, dass diese Betrachtungsform zu einer Katalogisierung des in Geltung befindenden Bestandes an Globalverfassungsrecht führen könnte, werden daher enttäuscht werden. Eine solche Arbeit müsste anders ansetzen, sie wäre dann eine Momentaufnahme eines Systems in Bewegung; denn der Begriff der Geltung ist das »Symbol der dynamischen Stabilität des Systems, die sich in Rückgriffen und Vorgriffen auf Vergangenes und Künftiges manifestiert. Die Geltung von morgen ist, bei gleichbleibender Symbolfunktion, eine andere Geltung, weil heute etwas entschieden wird. […] Das Recht ist eine historische Maschine, die sich mit jeder Operation in eine andere Maschine verwandelt.« Das impliziert, dass solche geltungsbezogenen Momentaufnahmen natürlich wichtig sind; wichtig, da sie für eine Transformation der Kontingenzen von Entscheidungen sorgen, Systematisierungen und Hierarchisierungen von emergierenden Regeln vornehmen und dadurch Interdependenzen ermöglichen; wichtig, da es für das Prozessieren des Rechts genauso von Bedeutung ist, Regeln darüber zu entwickeln wie Regeln gebildet werden, wie es notwendig ist, dass das Recht bei zunehmender Komplexität die Regeln auch in materieller Hinsicht in Abhängigkeitslagen bringen muss. Die Entwicklung einer systemtheoretischen Geltungstheorie für das Menschenrechts-Recht wird indes weder in einer Kommentierung geltender Fundamentalrechte münden, noch zu einer Elaboration einer Rechtsquellentheorie führen, da Rechtsquellen zwar im Recht als Reflexionsstopp verwendet werden – wenn die Geltung eines Rechtssatzes bezweifelt wird, kann der Hinweis auf die Rechtsquelle ein gutes Argument –, es aber keine letzten Argumente gibt. Darunter hat auch eine jede Rechtsquellenlehre zu leiden, denn auch hier kann man stets weiterfragen, was vor der Quelle lag, ob die Quelle einen Unterschied macht, warum nicht auch andere Quellen in Betracht kommen, was genau die Kriterien einer Quelle sind und ob die kommunikativen Ereignisse tatsächlich diese Kriterien erfüllen. Die Antwort wird dann im Prozessieren des Rechts zu suchen sein, seiner Selbstorganisation, wenn man so will: seiner Autopoiesis. Daher beabsichtigt die vorliegende Unternehmung – die in dieser Hinsicht natürlich auch nur eine Momentaufnahme ist – die Prozesse des Rechts zu untersuchen, bei denen auf einer Beobachterebene zweiter Ordnung dann die Kondensation von Regeln über Regeln beobachtet werden kann. Es geht hier daher nicht darum, »Rechtsquellen« ausfindig zu machen, aus denen vermeintliche Normen hervorsprudeln, sondern vielmehr darum, die Bedingungen der Möglichkeiten sog. »Rechtsquellen« zu untersuchen, die wechselseitige Konstitution von Regeln und Regeln über Regeln –also den Vorgang der Differenzziehung – zu beobachten: es ist nur beobachtbar, wie das Recht, sei es nun das »lebende Recht« der globalen Bukowina oder das des klassischen Völkerrechts, seine gesellschaftliche Umwelt mit Recht und Unrecht überzieht. Es ist nicht so, dass das Recht seiner gesellschaftlichen Umwelt entspringt, dass man nur die Quellen finden muss, um im Fahrwasser des Rechts zu sein. Just the contrary: »Political acts might have rather different legal meanings than the relevant state organs might have intended. It is the ›legal code‹ which ›constructs‹ the legal meaning of an act, not the intention of its authors. Accordingly, even the most overwhelming degree of political power cannot guarantee a certain legal outcome; the nature of the legal code, its intrinsic limits, may decisively restrain the possibility of a dominant actor convincing the other actors of the legality of its behaviour. One should only take into consideration the problem which the United States has had several times arguing the legality of its use of force, be it in Grenada, in Panama, or in Libya.«

Diese Untersuchung ist daher bescheiden angelegt und verzichtet darauf, die grundlegenden Werke von Kadelbach und Hannikainen zu dem Prinzip des ius cogens um eine umfassende Bestandsaufnahme des Rechts der Globalverfassung zu ergänzen. Das schränkt notwendig ihre operative Verwendbarkeit im Recht ein, eröffnet aber die Möglichkeit, die Operationen des Rechts und die Voraussetzungen des normativen Erwartens normativen Erwartens in der aktuellen Zukunft der Weltgesellschaft zu beschreiben. Eines der Ergebnisse dieser Beschreibung wird dann im Hinblick auf Kadelbachs und Hannikainens Untersuchungen gerade die Feststellung sein, dass auch diese beiden Arbeiten nicht sagen, was sie nicht sagen: dass die ius cogens-Kataloge, an denen sie sich abarbeiten und deren Geltungsbereich sie zu bestimmen suchen, natürlich systematisierende Bedeutung für die Bestimmung von Menschenrechten haben, dass ihre Ergebnisse aber auch nur eine mögliche Möglichkeit sind, die Grenze von Recht und Nicht-Recht zu justieren. So verdienstvoll diese beiden Arbeiten daher auch sind: Formulierungen wie – »Die Intervention als letztes Mittel zur Unterbindung von Völkermord verstößt zwar gegen das Gewaltverbot; zu überlegen ist aber, ob ein solcher Eingriff nicht durch Einwilligung oder Notstand gerechtfertigt sein kann. Die für ius cogens typischen Beschränkungen des Gegenseitigkeitsprinzips würden dann nicht gelten. Damit bietet sich, um im Beispiel zu bleiben, die Möglichkeit an, einzelne aus dem Gewaltverbot folgende Unterlassungspflichten dem ius cogens zuzuordnen, während andere als dispositiv anzusehen sind.« – Formulierungen wie diese können, auch wenn die Kriterien noch so sehr verfeinert werden, sowohl die Befürworter als auch die Gegner humanitärer Interventionen für sich nutzen. Das gilt generell und speziell und gerade dann, wenn der der Intervention zugrunde liegende Sachverhalt streitig ist. Der kryptische Moment dieser Arbeiten, ihre Deutungsoffenheit, sind aber der Tatsache geschuldet, dass ihre Anliegen von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht thematisieren können, ohne ihre Ergebnisse zu relativieren, dass sie auch nur ein Angebot von vielen möglichen Angeboten im Weltrecht sind, die Grenzen zwischen ius cogens und ius dispositivum und zwischen Recht und Nicht-Recht neu zu ordnen und dass sie eine Tatsache nicht in den Blick bekommen, die hier für ganz entscheidend gehalten wird: die Gewalt der Ein- und Ausschlusslinien. Und wie methodisch rein das Vorgehen von Kadelbach und Hannikainen auch ist, wie überzeugend sie auch historische, grammatikalische und systematische Analyse miteinander verbinden, sie setzen stets etwas voraus, das sie auf ihrer Betrachtungsebene nicht thematisieren können, ohne ihre Arbeiten mit einem es-geht-so-aber-es-geht-auch-anders einschränken zu müssen: Blinden Fleck nennt Luhmann dies und spielt auf eine fundamentale Zirkularität jeder Beobachtung und sozialen Ordnung an, darauf, dass die Schlösser des Weltrechts auf Flugsand gebaut sind, dies im operativen Alltag des Rechts aber nicht fokussiert werden kann, weil eine solche Arbeit am Fundament die Operativität des Rechts lähmen und die Schlösser zum Einsturz bringen würde. Stattdessen geht es in den Operationen des Rechts um eine Invisibilisierung des instabilen Grundes, eine Technik, die nur so lange funktioniert, bis das Rauschen des gesellschaftlichen Umwelt-Windes so stark wird, dass die Situation katastrophal wird, dass das Recht nicht umhin kann, sein Verhältnis zu seiner Umwelt neu zu definieren und sein Fundament der neuen Windlage anzupassen.

Das, was gemeinhin – und natürlich simplifizierend – in die Semantik der »Globalisierung« gefasst wird, ist eine solche gesellschaftliche Katastrophe, in der sich die gesellschaftlichen Grenzen und Fundamente neu sortieren, in der das Recht nur mühsam den mystischen Grund seiner Autorität verbergen kann, weil die Paradoxie des Rechts im Zeitalter der Permeabilität der Staaten, des Abschieds von der Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht und des Völkerstrafrechts nur noch mit allzu großer Gewalt in der Einheit von Staat und Recht, in dem Verweis auf Tradition und Nationalverfassung versteckt werden kann: Die willkürliche Anfangsunterscheidung von Recht und Unrecht, diese Hydra des Rechts, die sich in jeder Rechtsoperation vervielfacht, da in jeder Rechtsentscheidung von Neuem Recht von Unrecht gespalten wird, jede Operation des Rechts das Unentscheidbare entscheidet, indem sie den Code Recht/Unrecht kreuzt.

Und auch wenn es gelingt, diese Entscheidungen zu beobachten, Regeln zu extrahieren, Dogmatik zu entwickeln und das Recht an unveränderliche Prinzipien anzubinden, so gilt, dass man die Zukunft nicht kennen kann, dass »gleiche Fälle« nie gleich sind, dass Rechtsgleichheit nur vom Recht als Gleichheit betrachtet wird und somit nur die Konstruktion eines Funktionssystems ist, welches versucht, das Chaos seiner gesellschaftlichen Umwelt in eine operative Ordnung zu bringen. Damit dies gelingen kann, bedarf es Voraussetzungen, die im Kern auf drei Fragen konzentriert werden können: Wie kann sich das Recht als ein eigenes Funktionssystem ausdifferenzieren? In welchen Operationen ändert sich das geltende Recht? Was unterscheidet Recht von Politik? Das führt zum zentralen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung: Es geht nicht um Regeln. Es geht um ihre Voraussetzungen. Und gerade das ist das wohl Provokativste an den Theorien der Postmoderne: Dass sie die strategische Position von Regeln, die alle Rechtstheorien von Kelsen bis Hart als Ausgangspunkt ihrer Entwürfe hatten, negieren, den linguistic turn in den Sozialwissenschaften nachvollziehen und statt Strukturen kommunikative Ereignisse als Zentralelemente des Rechts ausmachen. Wenn man so die Betrachtung von Struktur auf Prozess umstellt, wenn man die Erkenntnis, dass Recht nicht in erster Linie als elaboriertes Regelsystem, sondern als gegenseitiges Konstituierungsverhältnis von Rechtsakten und Rechtsstrukturen zu begreifen ist, nicht mit reflexartigem Reflexionsstopp begegnet, sondern die Herausforderung der Postmoderne für das ius gentium annimmt, kann aus einer solchen rechtssoziologischen Fremdbetrachtung keine Arbeit werden, die für das Menschenrechts-Recht der Weltgesellschaft ein funktionales Äquivalent zu nationalen Grundrechtskommentaren zu sein beanspruchte. Von der vorliegenden Untersuchung ist daher lediglich eine am argentinischen Beispiel durchgeführte Betrachtung des Prozessierens des Weltmenschenrechts zu erwarten, der Versuch einer Bestimmung von Operationen, in denen sich die historische Maschine, die in Selbst- und Fremdbeschreibungen Recht genannt wird, ändert, in denen das Geltungssymbol transportiert wird, in denen über differierende Normprojektionen entschieden wird, in denen das Recht normative Erwartungen generalisiert und stabilisiert.

V.

Zunächst (Kapitel 1) zeichnet die Arbeit einen globalen Skandalisierungsprozess nach, der auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires begann. Seit dem 30. April 1977 versammelten sich hier jeden Donnerstag die Madres der Verschwundenen und mahnten mit ihren symbolträchtigen weißen Kopftüchern das in der Zeit der argentinischen Militärjunta (1976-1983) an ihren verschwundenen Töchtern und Söhnen verübte Unrecht an. Der Mechanismus der Skandalisierung, der in den heldinnenhaften Taten der Madres ihren Ausgangspunkt hatte, der sich aber ohne die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure, von Massenmedien und INGOs nicht hätte ereignen können, setzt in der colère publique – die im Unterschied zu den Annahmen Durkheims als Skript der öffentlichen Meinung und nicht als besonderer Zustand des (globalen) Kollektivbewusstseins begriffen wird – ein Recht in Geltung (Kapitel 2), das seine Grundlage nicht in Staatenvereinbarungen oder Völkergewohnheitsrecht findet: Die lex humana des postmodernen ius gentium. Dieses »weltgesellschaftliche Gewohnheitsrecht«, das sich vom klassischen Völkerrecht dadurch unterscheidet, dass es nicht das Ergebnis politischer Rechtsetzung ist, sondern fern von den Zentren großer Politik entsteht, ist das »lebende Recht« Eugen Ehrlichs. In der globalen, medial vermittelten Bukowina sind die Prozesse dieser Instaurierung um einiges komplizierter als in der lokalen Bukowina und die »rechtsetzenden Madres« sind eine voraussetzungsreiche Simplifizierung, da es tatsächlich komplexe, globale, hoch spezialisierte, jahrzehntelange und die verschiedensten Akteure in den weltgesellschaftlichen Spontan-, Institutions- und Organisationsbereichen einbeziehende Kommunikationsprozesse sind, in denen die lex humana gebildet wird. Diese ist – und auch darauf ist hinzuweisen – ganz unabhängig von der Frage einer Verweisungsnorm im Völkerrecht als Recht einzuordnen. Denn auch wenn das im Völkerrechtssystem praktizierte Recht die lex humana in der Regel ignoriert, auch wenn die Martens’sche Klausel nur zurückhaltend in Bezug genommen wird und auch wenn erst in jüngster Zeit die Rechtsetzungsfähigkeit der Zivilgesellschaft diskutiert wird, indem zum Beispiel Rechtsauffassungen der NGOs als opinio iuris der Zivilgesellschaft klassifiziert werden und deren Beachtung bei der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht eingefordert wird, kann man es hier sehr wohl mit Rechtsphänomenen zu tun haben. In den Worten von Luhmann: »Andererseits haben die ›Menschenrechte‹ als eine Art Nachholprogramm Konjunktur wie nie zuvor […] Diese Form des normativen Erwartens normativen Erwartens liegt jedoch weitgehend außerhalb der etablierten juristischen Formenwelt und richtet sich auch gegen das Recht. Recht oder Unrecht – Humanität zählt. Wenn sich diese Interpretationen und Vermutungen in empirischen Untersuchungen bestätigen lassen, würde sich zeigen, dass das im Rechtssystem praktizierte Recht erneut vom ›lebenden Recht‹ abweicht.«

Das im ›Völkerrechtsystem praktizierte Recht‹ und das ›lebende Recht‹ werden als zu unterscheidende Rechtsinstaurierungsmodi abzubilden sein. Die colère publique ist nicht der einzige Mechanismus, der im weltgesellschaftlichen Rechtspluralismus zur Instaurierung von Weltrecht führt. So gibt es im postmodernen ius gentium – das dem stoischen ius gentium näher steht als dem Post-Vitorianischen ius inter gentes – auch andere Operationen, die das normative Erwarten der Weltgesellschaft ändern. Lex mercatoria, lex informatica, lex sportiva sind Beispiele für die Änderung des Weltrechts jenseits der Staatenwelt und auch – wenngleich Luhmann und Teubner dies (zu Recht und zu Unrecht) marginalisieren – das klassische Völkerrecht der Staatenwelt, besser: der Internationalen Gemeinschaft, ist mehr als eine unverbindliche Verhaltensempfehlung an widerspenstige Individalakteure. So kann die staatliche Souveränität die Entstehung von universellem Recht nicht verhindern: Konventionen »werden unterzeichnet oder nicht, ratifiziert oder nicht, mit oder ohne Unterwerfung unter eine vorgesehene Gerichtsbarkeit und natürlich all dies mit dem Souveränitätsvorbehalt der Widerrufsmöglichkeit«. Doch diese Darstellung Luhmanns ignoriert den Rechtszustand des post-westfälischen Völkerrechts, das schon längst Rechte und Pflichten kennt, die Christian Tomuschat in die prägnante Formel »Obligations arising for States without or against their will« gebracht hat.

VI.

Am Beispiel der Reaktionen der Internationalen Gemeinschaft auf die desaparición soll im folgenden gezeigt werden, dass sich im Völkerrecht entgegen postmoderner Kritik durchaus politisch unterstützte Rechtsetzungsmechanismen finden, die der Weltgesellschaft eine Generalisierung der Erwartungen ermöglichen. Auch wenn man die klassischen Rechtsquellen des Völkerrechts, für die Art. 38 IGH-Statut indikativ ist, in einer Zeit der Diversifikation von global governance als unzeitgemäß kritisieren möchte, so kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass es gerade im Bereich der Menschenrechte staatliche, zwischenstaatliche und suprastaatliche, politische global players gibt, die den modischen Abgesang auf den Nationalstaat, das Gerede vom »Ende des Nationalstaates« und dem Bedeutungsverlust der Politik, Lügen strafen. Deren netzwerkartige, dezentrale Organisation – in anderen Beschreibungen nun durch die politische Kampfsemantik des »Empire« pointiert – ist eine wirksame, Kollektivität vermittelnde Unterstützung für die Selbstorganisation des Völkerrechts-Rechts. Dieses im Verhältnis zur Politik gesetzte Recht, das zu so unzweideutigen Geltungsanordnungen im Bereich der Menschenrechte, wie in den beiden Menschenrechtspakten und dem ICC-Statut katalogisiert, gekommen ist, manifestiert, dass die Politik nicht nur als Adressat des Rechts, als Verursacher einer colère publique, eine wichtige Rolle in der Weltgesellschaft spielt, sondern dass es ihr offenbar auch zu verdanken ist, dass das Recht der Weltgesellschaft mehr ist als das Recht tribaler Gesellschaften.

Damit sind zwei unterschiedliche Funktionsbereiche im Menschenrecht des ius gentium ausgemacht, die beide das Weltrecht mit ihren normativen Erwartungen irritieren. Mit dem Völkerrecht und der lex humana konkurrieren zwei Instaurationsmechanismen um weltgesellschaftliche Aufmerksamkeit. Man hat es mit einem genetischen Rechtspluralismus zu tun; das ist aber kein Grund zur Beunruhigung und auch nichts Außergewöhnliches. Denn in der Tat finden sich auch im Nationalstaat unterschiedliche Normproduzenten: Parlamente, exekutive Verordnungsgeber, Satzungsgeber und zivile Vertragsparteien, um nur die prominentesten zu nennen, ändern täglich den Rechtszustand nationaler Rechtssysteme. Ihre Geltungsanordnungen können sich widersprechen und ergänzen, Allgemeine Geschäftsbedingungen können gegen das BGB (§§ 305#ff. BGB) verstoßen, Verträge gegen zwingendes Recht, Gesetze gegen die Verfassung, Landesverfassungen gegen Bundesverfassungen, Verordnungen gegen Gesetze etc. Von daher verwundert es nicht, dass sich ein solcher Rechtszustand auch auf der Ebene der Weltgesellschaft wiederfindet. Der mögliche Normen-Widerspruch macht das Weltrecht aber zu einer irritierenden Angelegenheit, da das Problem im globalen Maßstab dadurch dramatisiert wird, dass sich die Geltungssymbol-transportierenden Operationen durch eine nicht zu leugnende Invisibilität auszeichnen und die Hierarchisierungsstrukturen im globalen Maßstab sich fragmentiert und regime-gebunden entwickeln. Auch haben Völkergewohnheitsrecht und colère publique, die beiden wohl bedeutendsten Instaurierungsprozesse des Menschenrechts-Rechts keine klaren Anordnungsakte, sondern sind langwierige Prozesse in denen minimale graduelle Abstufungen über Geltung/Nicht-Geltung entscheiden können.

Bereits hier wird deutlich, dass es in der Weltgesellschaft einen Bedarf an Institutionen gibt, die über differierende Normanordnungen und -projektionen entscheiden, indem sie die gradualisierten Geltungsentscheidungen in der Peripherie des Rechts durch eine dichotomische Entscheidung komplementarisieren. Und in der Tat hat sich durch die Ausbildung eines Rechtszentrums und die Organisation politischer Unterstützung enttäuschter Rechtserwartungen in der Weltgesellschaft eine weitere Form der Entfaltung des Menschenrechtsparadoxons aktualisiert: Über die Fälle bezweifelter Geltung und Nichtgeltung des Menschenrechts-Rechts entscheiden anhand konkreter Fälle im ius gentium die global remedies (Kapitel 3). Es sind dies Institutionen, denen auch im Nationalstaat die zentrale Rolle des rechtlichen Paradoxiemanagements zukommt – Gerichte. Die globalen Judikativorgane können nicht auf überstaatliche Instanzen wie IGH, ICTY, ICTR oder den ständigen Internationalen Strafgerichtshof nach dem Rom-Statut (ICC) reduziert werden, sondern sind auch in den staatlichen Rechtsordnungen angesiedelt. Nationale Gerichte, Wahrheitskommissionen, ad-hoc-Tribunale, ICC, IGH und regionale Menschenrechtsgerichtshöfe stehen damit im Zentrum des segmentär und zum Teil hierarchisch binnendifferenzierten Menschenrechts-Rechts und ermöglichen, dass sich dieses Rechtssystem operativ schließen kann. So gibt es, das zeigen die Urteile gegen argentinische Militärs, eine Regelbildung im Bereich der Menschenrechte, und diese Rechtsregeln tragen durch die Produktion von Erwartungssicherheit ganz spezifisch zur Autopoiesis des Rechts bei. Bei dieser Beschreibung sind die Funktionsunterschiede von Recht und Politik zu beachten, um Dysfunktionalitäten der Politik und des Rechts im Weltrecht differenziert zurechnen zu können. Gerichte, und damit auch die global remedies, haben primär eine andere Funktion als das, was man in politologischen Zusammenhängen als »Rechtsdurchsetzung« diskutiert.

Denn es wäre auch allzu merkwürdig, wenn die Funktion des Rechts in der macht- und sanktionsgedeckten Sicherstellung des vorgeschriebenen Handelns oder Unterlassens läge; der faktische Rechtsbetrieb hätte es so ständig mit dem eigenen Nichtfunktionieren zu tun. Man muss daher »das Zentrum des Problems der Rechtsdurchsetzung von Verhalten auf Erwartung verlagern und damit zugleich den Unterschied von Recht und Politik im Sinne effektiver Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen herausarbeiten. Die Funktion des Rechts besteht nur darin, Erwartungssicherheit zu ermöglichen […] Es gibt, anders gesagt, gute Gründe, Rechtsdurchsetzung zu limitieren auf das, was für die Ermöglichung enttäuschungsfester Erwartungen nötig ist, und es im übrigen bei der Funktionsdifferenz von Rechtssystem und politischem System zu belassen«. So sind die Sanktionsverpflichtungen und Restitutionsanordnungen, für deren Durchsetzung das Recht auf die Unterstützung der Politik angewiesen ist, nichts mehr als symbolische Unterstützungen enttäuschter Rechtserwartungen. Das ist nicht unbedeutend, aber auch nicht das Entscheidende, denn tatsächlich geht es im Zentrum des Rechts nur um die Stabilisierung von kontrafaktischen Erwartungen und damit um Paradoxiemanagement: Welches normative Erwarten wird zu Recht normativ erwartet und welches zu Unrecht? In anderen Worten: Die Eigenständigkeit der Ordnungsfunktion des Rechts liegt darin, dass es wichtig ist zu wissen, was man berechtigterweise von anderen (und von sich selbst) erwarten kann und dass es wichtig ist zu wissen, in welchen gerichtsförmigen Verfahren man berechtigterweise erwarten kann, dass über divergierende Erwartungen verbindlich entschieden wird. Dass diese Erwartungen nicht enttäuscht werden, kann das Recht nicht garantieren.

VII.

Grund und Grenze der Jurisdiktionsgewalt der global remedies finden sich in der Globalverfassung, die als Verfassung im funktionalen Sinn das weltpolitische System mit dem Weltrechtssystem strukturell koppelt und global governance verrechtlicht (Kapitel 4). So wird eine gewisse Funktionssynthese von Politik und Recht gewährleistet, da das Recht mit politischer Unterstützung Substitute der Anspruchserfüllung (Schadensersatz etc.) anbieten kann. Der aktuelle Diskurs über globalen Konstitutionalismus ist als Teil der Emergenz des Weltmenschenrechts-Rechts zu begreifen; ein Prozess, in dem es letztlich um die konstitutionelle Qualität jeglicher Emergenz von Rechtsnormen geht, »also um die schwierigen Fragen der nicht begründbaren Fundamente des Rechts, die von den großen Rechtstheorien unserer Zeit umkreist werden. Die sich hier stellenden Sachprobleme heißen: Selbstbegründung des Rechts, dabei auftauchende Paradoxien, die den Rechtsprozess blockieren, deren wirksame, aber immer problematisch bleibende Auflösung durch autologische Qualitäten der Konstitutionalisierung. Diese Qualitäten werden von Kelsen im Verhältnis der Grundnorm zur höchsten Verfassungsnorm, von Hart in der Theorie der sekundären Regeln und der ultimate rule of recognition, von Luhmann in der Beziehung von Rechtsparadox und Verfassung und von Derridas Ideen über die paradoxe Rechtsgründungsgewalt in stets neuen Varianten durchgespielt. Immer wieder geht es darum, den paradoxen Prozess zu verstehen, in dem jede Rechtsbildung immer schon rudimentäre Elemente ihrer Eigenverfassung voraussetzt und diese zugleich erst in ihrem Vollzug konstituiert.« In diesem Licht betrachtet ist festzustellen, dass die Weltgesellschaft eine politische Verfassung, eine »Globalverfassung«, hat. Es ist dies eine strukturelle Kopplung des Rechts an die Politik, die dem Völkerrecht des Menschenrechtsregimes die Selbstorganisation ermöglicht. Diese strukturelle Kopplung stellt Normen zur Verfügung, die bestimmen, wie Normen gebildet werden und ermöglicht die Ausbildung der Funktionsdifferenz von Rechtssystem und politischen System durch Jurisdiktionsregeln. Die betreffenden Regeln sind nur im Rahmen der Differenzziehungen von Recht und Unrecht in den Kommunikationsakten dieses Systems sichtbar. Anlässlich dieses Prozessierens kann der Beobachter dann auch das Kondensieren von Höchstwerten, Prinzipien, Grundwerten, Fundamentalrechten erkennen. Es sind dies, wie immer man sie auch außersystemisch zu verankern sucht (moraltheoretisch, religiös, in der Wissenschaftshypothese der Grundnorm Kelsenscher Prägung oder in der Zukunft, das heißt diskurstheoretisch), Werte, die das Recht selbst konstruiert.

Wenn man das Prozessieren des Weltrechts beobachtet, wird deutlich, dass sich hier nicht nur prozedurale Regeln über Regeln gebildet haben, sondern auch materielle Regeln über Regeln, dass das Weltrecht regime-gebundene, hierarchische Normstrukturen entwickeln konnte, mit denen – so das Konzept des ius cogens – das Recht zentral vermittelte Interdependenzen geschaffen hat, und mit denen im Weltrecht ein – zumindest in dieser Hinsicht – funktionales Äquivalent zum »formellen Verfassungsrecht« nationalstaatlicher Prägung entstanden ist. Die Menschenrechte und Staatsgrundrechte, die durch das Konzept des ius cogens geschützt werden, sind Teil dieses formellen Globalverfassungsrechts, als solches universell bindend, unabhängig von nationalstaatlichen Transformationen und Willensbekundungen. Luhmann hat daher Unrecht, wenn er für das Weltrecht konstatiert, dass »die strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems über Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung hat«. Dennoch liegt Luhmann nicht völlig falsch, denn die Konstitutionalisierung des polykontexturalen Rechts der Weltgesellschaft kann »nicht einfach die historischen Erfahrungen extrapolieren, die in den Nationalstaaten mit der rechtsstaatlichen Bändigung politischer Herrschaft durch eine Rechtsverfassung gemacht wurden.« Das ist einsichtig, denn die großen Gefährdungen in der Weltgesellschaft sind nur auf den ersten Blick allesamt ›politische‹ Gefährdungen. Reproduktives Klonen, globale Schuldenproblematik, Patentschutz auf Medikamente – die Herausforderungen sind polyzentrisch und die Aufgabe des transnationalen Konstitutionalismus liegt gerade auch in der gesellschaftlichen Rückbindung nicht-politischer Funktionssysteme.

Die Globalverfassung ist darum nichts weiter aber auch nichts weniger als eine das Verhältnis des Rechts zur Politik (und nicht zu anderen Funktionsbereichen) bestimmende, funktionale Verfassung. Sie ist keine Verfassung im Vollsinn des Begriffs. Sie zeichnet sich nicht durch einen auf den Weltsouverän rückführbaren Akt der vollständigen Legitimation von global governance aus, sondern besitzt lediglich eine partiale und staatenvermittelte Legitimation. Deshalb kann sie nicht als Ausdruck der Selbstbestimmung der Weltgesellschaft über Form und Ziel ihrer politischen Einheit aufgefasst werden (Kapitel 5). An den Schnittstellen zu anderen Funktionssystemen sind dabei die Kämpfe um die Verfassungen des Rechts in vollem Gange. In diesen hat das Recht die Chance, eine fundamentale Demokratisierung der Weltgesellschaft durchzusetzen, indem es die pluralistische Verfassung der globalen Funktionssysteme sichert und – darauf weist Teubner zu Recht hin, indem er Freiheit als gesellschaftliche Autonomie auf die Emanzipation sozialer Teilbereiche bezieht – duale Sozialverfassungen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt entwickelt. Die Befreiung des globalen Rechts von politisch-moralisch-wirtschaftlichem Druck erfolgt dann aber durch die Anerkennung zivilgesellschaftlicher Rechtsetzung und durch die Emergenz pluraler Rechtsordnungen, die – im Widerspruch zur Auffassung der Hierarchie und der Einheit des Rechts im demokratischen Rechtsstaat – die rechtstheoretische und – dogmatische Betonung der heterarchischen Vielheit von Rechtsordnungen erfordert. So wird die »globale Zivilgesellschaft« in struktureller Kopplung ans Recht zum demokratischen Hoffnungsträger der Weltgesellschaft, die zwar, um ein Zitat von Hauke Brunkhorst zu radikalisieren, eine Globalverfassung hat, die sich aber mitten in globalen Verfassungskämpfen befindet.

* Andreas Fischer-Lescano, geb. 1972; Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie in Tübingen, Göttingen, Madrid (ICADE), Frankfurt am Main; 2002/2003 European University Institute, Florenz; 2003 Promotion; Mitglied der Forschungsgruppe »Internationale Organisationen, Demokratischer Friede und die Herrschaft des Rechts« an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main; seit 2001 wiss. Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Publikationen zu Völkerrecht, Völkerrechtstheorie und Verfassungsrecht.


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