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Globale Trendwende

US-Denkfabrik macht Niedergang neoliberaler Globalisierung aus. Indizien lassen auf Umleitung wichtiger Investitionsströme in nationale und regionale Strukturen schließen

Von Rainer Rupp *

Die neoliberale Globalisierung hat 2007 ihren Zenit überschritten und ist seither im Rückwärtsgang. Insbesondere der Grad der globalen Durchdringung habe durch die andauernde Finanzkrise und die damit einhergehende Konjunkturflaute einen schweren Rückschlag erfahren. Das ist der Kern einer internen Studie der konservativen US-Denkfabrik »Lignet«, für die viele ehemalige Analysten verschiedener US-Bundesministerien und -Geheimdienste arbeiten.

Zwar habe das Wachstumstempo des Welthandels in den letzten 60 Jahren kontinuierlich das des Welt-Bruttoinlandsproduktes (BIP) übertroffen, aber schon vor 2007 sei die Differenz rückläufig gewesen, »da die Kräfte der Regionalisierung und Lokalisierung (der Produktion) sich zunehmend gegen die Kräfte der Globalisierung durchgesetzt haben«, heißt es in der Studie. Darin wird die Befürchtung geäußert, daß dies »das Geschäftsmodell für immer verändert«. So seien seit November 2008 weltweit dreimal mehr protektionistische als liberalisierende Maßnahmen eingeführt worden, zitiert Lignet aus einer aktuellen Untersuchungen von Global Trade Alert (GTA), einer Nichtregierungsorganisation, die weltweit alle von Regierungen erlassene Handelsmaßnahmen auf ihren protektionistischen Gehalt prüft und die Partner identifiziert, die durch diese Maßnahmen getroffen werden.

Daß die Liberalisierung des Handels schon vor der Krise an Schwung verloren hat, versucht GTA mit Hilfe eines Index darzustellen. Demnach hatte die Liberalisierung schon 1997 mit dem Indexwert von 4 ihren Höhepunkt erreicht. 2008 ist dieser Wert auf 1,7 zurückgefallen und hat sich inzwischen nur leicht auf 2,3 erholt. Er verharrt derzeit auf dem Stand des Jahres 1993. Auch der sogenannte DHL-Index der globalen Verbundenheit versucht die Stärke der weltweiten Liberalisierung anhand von Indikatoren über Handel, Kapitalflüsse, Informationsaustausch und menschliche Migration von 140 Ländern zu messen. Demnach ist die Welt heute weniger global vernetzten als im Jahr 2007. Hauptverantwortlich für diese Entwicklung ist laut Lignet die »Fragmentierung des Kapitals«, womit u.a. gemeint ist, daß Investoren ihre Fonds und Einlagen zurückgezogen haben, Banken risikoscheu geworden oder zusammengebrochen sind.

Um die heimischen Ökonomien vor der globalen Wirtschaftskrise zu schützen, haben Regierungen überall protektionistische Maßnahmen wiedereingeführt, die Teile der bisherigen Liberalisierung des Welthandels konterkarierten. Heute sehe es so aus, als würde die Welt auf lange Zeit – wenn überhaupt – nicht wieder zum gleichen Grad der Offenheit zurückfinden, befürchtet Lignet. Dabei scheint ein Umdenken hinsichtlich der angeblichen Vorteile des »Off-Shoring«, also der Auslagerung der lohnintensiven Produktionsprozesse in Billiglohnländer, eine besondere Rolle zu spielen.

Es ist allgemein bekannt, daß die massive Auslagerung von Arbeitsplätzen maßgeblich zur Profitmaximierung der großen Unternehmen beigetragen hat. Allerdings ging dies insbesondere in den USA mit einer rasanten Deindustrialisierung des Landes einher. Gutbezahlte Arbeitsplätze verschwanden massenhaft, in der Folge stagnierten bzw. sanken Reallöhne auf breiter Front. Die Lignet-Analyse verweist nun auf einen weiteren negativen Effekt, diesmal für die Konzerne, die – ebenso wie die gesamte US-Wirtschaft – weitgehend vom Off-Shoring abhängig sind. So findet sich in einer jüngst erschienenen Studie des Pentagon die für US-Militärs erschreckende Feststellung, daß es kaum noch ein US-Waffensystem gibt, in dem nicht etliche wichtige, in China produzierte Bauteile steckten.

In der Krise habe sich nun – so Lignet – das Off-Shoring mit seinen langen Lieferketten für die US-Konzerne als »unerwartet unwirksam erwiesen«. Etliche Ketten hätten Störungen durch lokale Firmenpleiten und unzureichende Finanzierung erfahren, während anderswo große Lagerbestände aufgebaut worden seien. Hinzu kämen witterungsbedingte Störungen, Unruhen in den arabischen Staaten und Lohnerhöhungen in den Entwicklungsländern. Das alles habe zu einem Rückgang des grenzüberschreitenden Handels und zur Förderung lokaler oder regionaler Lieferketten geführt. Diese Feststellung des Thinktanks fügt sich lückenlos in das von US-Präsident Obama verkündete Ziel der Reindustrialisierung und der Rückführung (»Re-Shoring«) der Produktion in die USA ein.

Die Finanzkrise und deren Folgen sowie das zunehmenden Re-Shoring deuten darauf hin, daß der Prozeß der neoliberalen Globalisierung nicht nur stagniert, sondern sich, wie von Lignet ausgemacht, im Abwärts¬trend befindet. Die Entschlossenheit der Entwicklungsländer, ihre nationalen Aufbaupläne nicht wieder zum Spielball kurzfristiger Kapitalspekulationen werden zu lassen, sind ein wichtiger Teil dieses sich andeutenden Scheiterns.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Januar 2013


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