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Trumpf UNCTAD

In Brasilien proben Entwicklungsländer den Aufstand gegen die Wirtschaftsdominanz des Nordens

Von Wolfgang Pomrehn*

In Berlin, Paris und Washington schaut man dieser Tage voll gespannter Sorge nach Săo Paulo. Dort, in Brasiliens Mega-Metropole, tagt seit Montag die elfte UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD, United Nations Conference for Trade and Development). Auf deren Programm stehen einige Punkte, die den Handelsliberalisierern in Europa und Nordamerika erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Besonders die von Brasilien und Indien geführte Gruppe der 20 (G 20), zu der auch Indonesien, Südafrika und – eher zurückhaltend – China gehören, scheint entschlossen, ihnen in den internationalen Verhandlungen das Heft aus der Hand zu nehmen.

Während der Norden die Welthandelsorganisation WTO bevorzugt, um seine Interessen durchzusetzen, will die G 20 offensichtlich die ältere UNCTAD neu beleben und stärken. Die UNCTAD ist mit ihren 192 Mitgliedern fest in das UN-System eingebunden. Sie hat für den Süden zwei wesentliche Vorteile gegenüber der WTO. Während letztere die Liberalisierung des Handels zum alleinigen Ziel ihrer Existenz erklärt, so daß ihre weitreichenden Abkommen andere UN-Verträge über Umweltschutz und soziale Rechte praktisch aushebeln, steht im Mittelpunkt der Aktivitäten der UNCTAD die Entwicklung. Das macht unter anderem ein vorbereitender UNCTAD-Bericht für die Konferenz in Săo Paulo deutlich, in dem es vor allem um Entwicklungsstrategien, den Aufbau von Industrien, die Durchsetzung von Entwicklungszielen im internationalen Handelssystem und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft geht.

Der zweite Vorteil: In der UNCTAD wird, wie in der UN üblich nach dem Prinzip »Ein Land eine Stimme« abgestimmt. In der WTO wird hingegen nach dem Konsensprinzip entschieden, womit sich schwächere Länder erheblich unter Druck setzen lassen, sofern sie isoliert sind. Solange sich die Entwicklungsländer leidlich einig sind, haben sie wegen ihrer größeren Zahl in der UNCTAD das Sagen. Das war ab Mitte der 1980er Jahre für Länder wie Deutschland – der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) gehörte zu den eifrigen Motoren der Verhandlungen – das wichtigste Motiv, den Aufbau der WTO zu betreiben und die UNCTAD links liegen zu lassen.

Daß diese Strategie mit der WTO-Gründung im marokkanischen Marrakesch 1994 Erfolg hatte, lag auch daran, daß die Ökonomien der allermeisten Entwicklungsländer auf den Handel mit dem reichen Norden ausgerichtet sind. Erst in jüngster Zeit wird dieses jahrhundertealte Abhängigkeitsverhältnis durch das rasche Wirtschaftswachstum in China und im geringeren Maße auch in Indien gelockert. In der G 20 hat man diesen Trend registriert und geht gezielt daran, den Handel zwischen den Entwicklungsländern zu forcieren. Gastgeber Brasilien organisierte zu diesem Zweck letzte Woche im Vorfeld der UNCTAD-Konferenz gleich eine ganze Reihe von Veranstaltungen, die diesem Zweck dienten.

So trafen sich zum Beispiel die Gouverneure zahlreicher Außenhandelsbanken aus Entwicklungsländern, um ihre Zusammenarbeit zu koordinieren. Als besonderer UNCTAD-Trumpf könnte sich in diesem Zusammenhang das sogenannte GSTP, das Generalised System of Trade Preferences oder Allgemeines System für Handelsvorteile, erweisen. Dieser in den UNCTAD-Rahmen eingebaute Mechanismus würde es Entwicklungsländern erlauben, einander Handelsprivilegien zu gewähren, was sie unter den WTO-Regeln nicht dürften. Jedes WTO-Mitglied ist nämlich verpflichtet, alle anderen 143 WTO-Mitglieder gleich zu behandeln. Für GSTP-Abkommen gibt es allerdings eine Ausnahme, weshalb die G 20 plant, in Săo Paulo entsprechende Verhandlungen im Rahmen des GSTP zu starten und den Handel zwischen den Entwicklungsländern zu liberalisieren.

Das wird den Freihändlern in den USA und der EU nicht gefallen, nicht nur, weil das Monopol der WTO gebrochen würde, sondern weil sich mittelfristig der Schwerpunkt der internationalen Handelsbeziehungen verlagern könnte. Denn natürlich geht es weder Washington noch Paris, Brüssel oder Berlin um die reine Lehre des Liberalismus, nach der Handel und Konkurrenz freizusein haben. Jede Regierung versucht für ihre Produkte die Märkte der anderen Länder zu öffnen, während es zugleich, wenn nötig, die heimischen Unternehmen mit Zöllen und Subventionen vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen versucht.

Finden die Verhandlungen zwischen mehr oder weniger gleich starken Staaten statt, so ist das Ergebnis meist ein komplizierter Kompromiß. Nur im Verhältnis zu den meisten Entwicklungsländern konnte es sich der reiche Norden bisher erlauben, Wasser zu predigen und Wein zu trinken. Während viele Entwicklungsländer mit den Verträgen der WTO gezwungen werden, ihre Märkte immer weiter zu öffnen, geizen die reichen Länder mit Entgegenkommen. Allerdings haben sowohl die EU wie auch die USA ihre jeweiligen Vertragssysteme, mit denen sie ausgewählten Ländern bei politischem Wohlverhalten Handelsvorteile einräumen. Dieses alte Spiel des Teile-und-Herrsche könnte durch den Vorstoß der G 20 gefährdet werden. Man darf also auf den Ausgang der UNCTAD-Konferenz gespannt sein.

Aus: junge Welt, 17. Juni 2004


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