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Der Süden zahlt die Zeche

Neue Weltfinanzarchitektur ist nicht in Sicht

Von Martin Ling *

Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise trifft die armen Ländern besonders hart, bei der Krisenbewältigung haben sie bislang nicht viel zu sagen. Die UNO-Konferenz zu den Folgen der Krise für die Entwicklungsländer soll Abhilfe schaffen. Wahrscheinlich ist das mitnichten.

Die Prognose war nicht gewagt: »Mehr Menschen müssen künftig hungern, weil Banker sich verspekuliert haben.« Was Dirk Messner vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik vor Monaten prophezeite, wird inzwischen mit drastischen Zahlen unterstrichen: Der Global Monitoring Report der UNO rechnet 2009 mit 200 000 bis 400 000 zusätzlich verhungernden Kindern – schon ohne Krise waren es täglich über 20 000.

Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) legte am Freitag in Rom nach: Erstmals leiden über eine Milliarde Menschen unter Hunger und Unterernährung, also jeder sechste und insgesamt 100 Millionen Menschen mehr als 2008. Nicht als Folge von Missernten, sondern als Folge der Wirtschaftskrise, teilte die FAO ausdrücklich mit.

Und pünktlich vor dem heute in New York beginnenden Gipfel legte die Weltbank ihre Wachstumsprognose für den Süden vor: Ohne die Zugpferde der letzten Jahre, China und Indien, sinkt das Bruttoinlandsprodukt in den Entwicklungsländern demnach sogar um 1,6 Prozent. Und auch mit den beiden Lokomotiven fällt das Wachstum mit 1,2 Prozent bescheiden aus – im vergangenen Jahr betrug die Wachstumsrate noch 5,9 Prozent, vor zwei Jahren 8,1 Prozent. Auch wenn Wachstum nicht alles und auch nicht mit Entwicklung gleichzusetzen ist, gibt es eine statistische Faustregel: Ein Prozent weniger Wachstum heißt zwanzig Millionen mehr Arme. Arme, für die es kein soziales Sicherungsnetz gibt.

Diese Fakten verlangen eigentlich eine starke Reaktion der Weltgemeinschaft. Die Resonanz auf den Gipfel ist indes bisher schwach: Bis Freitag hatten 126 Länder ihre Teilnahme zugesagt, knapp zwei Drittel der 192 UN-Mitglieder. Nur 30 Nationen werden durch Staats- und Regierungschefs oder deren Stellvertreter repräsentiert. Die bedeutendsten sind Bolivien, Ecuador, Venezuela, Russland, Luxemburg, Iran und Simbabwe. Ein starkes Signal an den nächsten G8-Gipfel Anfang Juli in Italien ist somit unwahrscheinlich.

Für Deutschland reist Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) an. »Die Finanz- und Wirtschaftskrise kann nur gemeinsam mit Entwicklungs- und Schwellenländern gelöst werden«, sagt sie. Die Vereinten Nationen seien dafür der richtige Ort. Wichtig ist ihr vor allem die Einrichtung eines internationalen Gremiums, das nach dem Muster des Weltklimarats IPCC die Weltwirtschaft beobachten und mögliche Risiken aufdecken soll, um eine neue Krise zu verhindern. In diesem Bereich sei »mehr Kenntnis und mehr Unabhängigkeit notwendig«, meint die Ministerin. Die Position von Wieczorek-Zeul, die UNO zu stärken, sei im Kabinett eine Einzelstimme, meint Ulla Lötzer, Sprecherin der LINKEN für internationale Wirtschaftspolitik im Bundestag, gegenüber ND. Generell hätten die G8-Staaten (USA, Kanada, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Russland) kein Interesse an einer Stärkung der UNO, weil dies einer Abgabe exklusiver Kompetenzen gleichkäme. Der Ansatz der G8, den von ihr dominierten Internationalen Währungsfonds zu stärken, laufe der Bemühung, die Weltwirtschaft unter dem Dach der UNO zu demokratisieren und zu kontrollieren, wie es die Stiglitz-Kommission vorschlägt, schlicht zuwider. Dementsprechend niedrig hängt Lötzer ihre Erwartungen an den New Yorker-Gipfel: »Mit mehr als der Wiederholung alter Zusagen in Sachen Entwicklungshilfe ist leider nicht zu rechnen. Weitreichende Zusagen oder gar eine neue Weltfinanzarchitektur sind dagegen nicht in Sicht.«

Zahlen und Fakten - Entwicklungshilfe

Die zugesagte Erhöhung der Entwicklungshilfe rückt in der Finanz- und Wirtschaftskrise in die Ferne. 2005 hatten die sieben wichtigsten Industrienationen beschlossen, ihre Hilfe um 50 Milliarden US-Dollar bis im Jahr 2010 aufzustocken. Doch Studien zufolge wurde bisher erst ein Drittel der Zusage erfüllt.

Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erreichte die staatliche Entwicklungshilfe aller 22 Industrienationen 2008 mit etwa 120 Milliarden Dollar zwar einen neuen Höchststand. Doch das ebenfalls 2005 vereinbarte Ziel der EU-Staaten, den Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen bis 2010 auf 0,51 Prozent zu erhöhen, ist in vielen Fällen noch lange nicht erreicht, auch Deutschland erreicht nur 0,38 Prozent. Bis 2015 soll die Hilfe nach dem EU-Stufenplan auf das vor langem angepeilte UN-Ziel 0,7 Prozent steigen. ND



* Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2009


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