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Nachhaltige Globalisierung in Johannesburg?

Die "Rio+10"-Konferenz sucht nach ihrem Sinn

Von Ulrich Brand*

Als Student verbrachte ich 1992 ein Jahr in Argentinien, um dem deutsch-deutschen Einheitsgetaumel zu entfliehen und andere Realitäten und Denkweisen kennen zu lernen. Aufgrund meiner politischen und wissenschaftlichen Interessen lag es nah, sich im Juni 36 Stunden in den Bus zu setzen und nach Rio de Janeiro zu fahren. Meine argentinischen StudienkollegInnen schüttelten mehr oder weniger offen den Kopf. Kein Wunder, denn die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft lief auf vollen Touren, Präsident Menem, der von 1989 bis 1999 das Tafelsilber verschrotten und das Land immer weiter verschulden sollte, war auf dem Höhenpunkt seiner Macht. Der alemán wurde dennoch mit den besten Wünschen begleitet, "Öko" war halt etwas für die nordwestliche Mittelklasse des Planeten.

In der Tat ging die Reise nach Rio in eine andere Welt. Aus einem Argentinien, in dem das neoliberale "Ende der Geschichte" eingeläutet schien und Bourgeosie und Mittelklasse die Kredite im Ausland verprassten, auf eine Konferenz der Aufbruchstimmung. Aus aller Welt flogen VertreterInnen von Regierungen, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen ein, um die Doppelkrise von Umwelt und Entwicklung endlich anzugehen. Die UNO-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung (UN Conference on Environment and Develoment; UNCED) läutete das Jahrzehnt politischer Mega-Events ein. Anschließend wurde zu den Themen Menschenrechten (1993 in Wien), Bevölkerung (1994 in Kairo), Sozialem (1995 in Kopenhagen), Frauen (1995 in Bejing), Ernährung (1996 in Rom) und Wohnen (1996 in Istanbul) verhandelt, wie die Probleme der Welt anzugehen seien.

Rio war aber nicht nur deshalb wichtig, weil es sich um die erste Konferenz in dieser Reihe handelte. In der Stadt an der Copacabana wurde auch jenem Begriff die höchsten Weihen gegeben, der als Leitbild sozial- und umweltgerechten Handelns dienen sollte: sustainable development (nachhaltige Entwicklung). Und schließlich wurden weitreichende Abkommen unterzeichnet. Die völkerrechtlich unverbindliche Agenda 21 sollte auf 800 Seiten als eine Art Leitfaden auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung dienen. Mit der Klimarahmenkonvention und der Konvention über biologische Vielfalt wurden gar zwei völkerrechtlich verbindliche Abkommen unterschrieben, die kurze Zeit später in Kraft traten. Natürlich konnte damals schwerlich beurteilt werden, was das kommende Jahrzehnt bringen würde.

Natürlich ging es heiß her und zwar nicht nur beim Feilschen um Kommata und Paragraphen. Insbesondere die von der US-Regierung signalisierte Ablehnung der Verträge zu Klima und biologischer Vielfalt brachten das Blut vieler in Wallung: Eco-Vamp Bush skandierten die AktivistInnen bei den mittäglichen Demonstrationen. Aus Argentinien kommend verwunderte mich jedoch eines. Auf der UNCED schien bei so viel Aufbruchstimmung und dem oft beschworenen "Geist von Rio" ein Sachverhalt unterschlagen zu werden. Dass nämlich gerade in den Ländern des Südens die sog. Strukturanpassungen brachial durchgesetzt werden. Insbesondere die hochverschuldeten Länder Lateinamerikas mussten die neoliberalen Auflagen von IWF, Weltbank und nördlichen Regierungen erfüllen.

Sustainable Development als Schwammwort

Doch auch hinsichtlich der Konferenzziele im engeren Sinne ist bald Ernüchterung eingetreten. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung wies anfangs durchaus auf eine Spannung zwischen kapitalistischer Ökonomie, ausbeuterischem Nord-Süd-Verhältnis und der Reproduktion der natürlichen Lebensgrundlagen hin. Doch bereits in Rio war der Begriff verwässert, auch der Unternehmensverband World Business Council on Sustainable Development und transnationale Konzerne schrieben sich nachhaltige Entwicklung auf die Fahnen. Damit meinten sie aber gänzlich anderes als etwa kritische soziale Bewegungen in peripheren Ländern. Die Unternehmen, vielfach Verursacher der Misere, boten sich selbst als wichtigste Akteure bei der Lösung der Probleme an. Und für die Regierungen war sustainable development gleichbedeutend mit der Vorstellung, die Probleme mit besserer "Steuerung" und ökologischer Modernisierung in den Griff zu bekommen. Die globale Technokratie sollte es regeln. Das Antasten von bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen galt allerdings als striktes Tabu. Der Begriff verkam zum Schwammwort, der wegen seiner positiven Aufladung von allen möglichen Akteuren verwendet wurde. Das politische Problem lag vor allem darin, dass viele Akteure der "Zivilgesellschaft" diese Sichtweise übernahmen. Rio markiert den Beginn eines Politikverständnisses, das in den 90er Jahren dominant wurde. Mit Expertise und Kooperation meinten viele, auf die Herrschenden Einfluss nehmen zu können. Wenn die NGOs mit am Tisch saßen, dann gaben sie den offiziellen Prozessen eine höhere Legitimität. Die Publizistin Christa Wichterich schrieb dazu im Rückblick: "Partnerschaft" werde "als Gleitmittel gegen Interessengegensätze und Machtungleichheit gepriesen. Doch sie findet weder auf Augenhöhe statt noch kann sie die wichtigsten Entscheidungen beeinflussen. Dissens wird weichgespült und Kritik handverlesen integriert."

Dass es mit der Kooperation nicht so weit her war, zeigte sich symbolisch bereits in Rio. Das Global Forum der NGOs fand etwa 30 km entfernt vom sterilen Konferenzgebäude der Regierungsvertreter statt. In den 90er Jahren bildete sich dann eine aus Regierungen, Unternehmen und NGOs zusammengesetzte "Klasse globaler Ressourcenmanager" (Michael Goldman von der Universität Berkeley) heraus. Ihr Ziel war und ist es, die Ressourcen des Planeten zu erfassen und deren Flüsse zu regeln. Zumeist von Süd nach Nord - mit besten Absichten für "die Menschheit" versteht sich.

"Rio plus 10" - eine neue Hofferei?

Inzwischen wird in weiten Teilen der Regierungen und NGO-Szene anerkannt, dass der sog. Rio-Prozess nicht die gewünschten Entwicklungen brachte. Die dominante Wahrnehmung ist, dass die positiven Ergebnisse der "Globalisierung" sollten besser verteilt werden sollten. Die Befürworter der Konferenz stellen diese Grundannahme nicht infrage, sondern sehen die Konferenz als wegweisend für die Zukunft der Menschheit. Dennoch stehe sie bislang auf der "Kippe", weil die Regierungen der Welt noch nicht genügend politischen Willen erkennen lassen. Die "Zivilgesellschaft" wird aufgerufen, den Regierungen mehr "Druck" zu machen, damit diese endlich Politiken nachhaltiger Entwicklung starten.

Es wird in der aktuellen Diskussion jedoch ein anderer Prozess vernachlässigt. Das nämlich unter dem Begriff der nachhaltigen Entwicklung nicht nur bestimmte Prozesse scheiterten, sondern andere vorangetrieben wurden: Die Ökonomisierung der Natur. Umwelt- und Entwicklungspolitik geschieht nämlich durchaus, allerdings nicht im Sinne einer Zurückdrängung ökonomischer Imperative, sondern durch ihre Verstärkung. Die Konvention über biologische Vielfalt ist längst kein internationaler Vertrag mehr zum Schutz gegen die dramatische Erosion der Vielfalt von Arten, Genen und Ökosystemen. Vielmehr sichert sie zunehmend rechtlich den Zugang für nördliche Unternehmen und Forschungsinstitute zum "grünen Gold der Gene", das vor allem in südlichen Ländern liegt, wie auch die geistigen Eigentumsrechte, falls den global players aus der Pharma- und Agrarforschung Gewinne entstehen.

In der Klimarahmenkonvention hat sich beispielsweise der Mechanismus der joint implementation durchgesetzt. Industrieländer können sich über Umweltschutzinvestitionen im "Süden" von ihren Reduktionsverpflichtungen freikaufen. Heike Walk und Achim Brunnengräber von der Freien Universität Berlin nennen das "die moderne Form des Ablasshandels".

Von Bagdad über Rio nach Kabul

Wie bereit 1992 liegt auch heute der Schatten der "neuen Weltordnung" über den Bemühungen, kooperativ aus den umwelt- und entwicklungspolitischen Sackgassen herauszukommen. Wurde das Datum "1989" noch mit den Chancen einer Suche nach neuen Politikformen verbunden, so wurde der Vorbereitungsprozess der UNCED zu Beginn der 90er Jahre von einem anderen Ereignis deutlich überlagert. Der Einmarsch der irakischen Armee in Kuwait im Sommer 1990 und die militärische Antwort der USA bzw. der NATO darauf im Januar/Februar 1991 waren eine weltpolitisch entscheidende Zäsur. Der damalige US-Präsident George Bush proklamierte im Januar 1991 eine "Neue Weltordnung", die um einiges anderes aussah als jene wenig später von den UNO-Weltkonferenzen angedachte. Nicht Kooperation und die gemeinsame Suche nach Wegen zur Lösung der "Weltprobleme", sondern die gegebenenfalls militärische Absicherung der dominanten Interessen stand im Zentrum dieser Politik.

2002 sieht es ähnlich aus. Wie vor Rio, so wurden auch ein Jahr vor Johannesburg die USA mit einem Militärschlag aktiv, um die Weltordnung, aber im zunehmenden Maße auch ihre eigenen Interessen und vor allem ihre nationale Sicherheit militärisch zu verteidigen. Der 11. September, das ist heute bereits absehbar, wird nicht nur auf der militärisch-politischen Ebene einen weitergehenden Einschnitt als der zweite Golfkrieg 1991 bedeuten, sondern auch auf der ideologischen. Und dies hat Konsequenzen für alle Ansätze globaler Reformen wie für kritisch-emanzipatives Handeln und damit auch für eine Politik, die den einst formulierten Ansprüchen nachhaltiger Entwicklung entsprechen würde.

Nachhaltige Globalisierung oder Kritik der Globalisierung?

Die eigentliche Hoffnung auf eine Tendenz hin zu einer "nachhaltigen Entwicklung", die ernst machen würde mit einer tiefgreifenden Veränderung des gesellschaftlichen Entwicklungsmusters, kommt von ganz anderer Seite. Relativ unabhängig von der Debatte um Nachhaltigkeit hat sich in den letzten Jahren die praktische und theoretische Kritik am neoliberalen Kapitalismus verstärkt. Stichworte wie "Seattle" und "Genua" stehen für vielfältige Proteste, bei denen es um negative Auswüchse der neoliberalen Globalisierung geht. Dabei kam es zu einer Politisierung des Globalisierungsbegriffs: Der damit benannte Prozess, seine für viele Menschen katastrophalen Wirkungen und die damit verbundenen Interessen werden nicht mehr als hinzunehmende "Risiken" oder zu behebende Begleiterscheinungen verstanden, sondern immer stärker als immanente Bestandteile der gesellschaftlichen Veränderungen und als Folge sozialer Kämpfe.

Gerade auf lokaler und nationaler Ebene bleiben die skizzierten dominanten Trends "nachhaltiger Entwicklung" keineswegs unwidersprochen. Das Anfang Februar im brasilianischen Porto Alegre stattgefundene zweite "Weltsozialforum" ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass Kritik und Alternativen gerade auf lokaler und nationaler Ebene formuliert und vorangetrieben werden. Die sich zuspitzenden Widersprüche werden von dieser heterogenen Bewegung politisiert. Die seit Seattle immer offenkundigere Globalisierungskritik ist auch eine Zurückweisung der Idee, "Weltprobleme" ließen sich von oben, durch Experten und kooperativ lösen. Der mit der UNCED erstmals derart breit propagierte Politiktypus der "globalen Runden Tische" und die damit einhergehende Delegitimierung konfrontativer Politikansätze wird von der internationalen Protestbewegung - was immer bedeutet: von vielen verschiedenen Bewegungen und Organisationen auf nationaler und lokaler Ebene - gründlich in Frage gestellt.

Die größte Gefahr dürfte dagegen von der Metapher der nachhaltigen Globalisierung ausgehen. Natürlich nicht von dem Begriff selbst, sondern von dem damit transportierten Verständnis. Denn die "zivilgesellschaftlichen" Politikvorstellungen des Rio-Prozesses basierten lange Zeit auf der Annahme, dass mit Kooperation, alternativer Expertise und dem Appell an die aufgeklärten Eigeninteressen in Wirtschaft und Politik das Leitbild durchgesetzt werden könnte. Die 90er Jahre haben besonders deutlich gezeigt, dass die damit verbundenen politischen Konzepte sich nicht als erfolgreich erwiesen haben. Oft genug dienten sie eher der Legitimation der "großen" Entscheidungen von Regierungen, Unternehmen und Medien. Diese konnten die ihnen genehmen Aspekte von Kritik herauspicken und sich auf diese Weise auch noch selbst legitimieren.

Die neoliberale Globalisierung hat sich durchgesetzt - und zwar nicht kooperativ, sondern vor allem "von oben". Heute zu meinen, dass dieser ungleich machtvollere Prozess wiederum mit Kooperation, Expertise und dem Appell an Einsichtsfähigkeit zu stoppen sei, ist bestenfalls naiv. Diesem Glauben nicht aufzusitzen, das ist einer der wichtigsten Beiträge der aktuellen globalisierungskritischen Bewegung. Und dies sollte nicht mit einer neuen Runde der "Hofferei" (Wolf-Dieter Narr) im nun anlaufenden Johannesburg-Prozess verschenkt werden. Nachhaltige Globalisierung - das könnte zum ideologischen Kitt des neoliberalen Scherbenhaufens werden. Es lässt sich leicht ausmalen, dass dieser Begriff, den Akteure wie NGOs oder Intellektuelle in kritischer Absicht auf die Tagesordnung setzen, nur wenig später in den Hochglanzheften von Opel und Aventis im ICE zu lesen sein wird. Die Funktion des Schwammworts hätte sich damit erneut erfüllt.

Wichtig wäre statt dessen in der öffentlichen Auseinandersetzung, den Glauben an die technokratischen Allheilmittel und das "Management" von Problemen infrage zu stellen. Selbstbestimmung, Menschenwürde und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse werden nicht durch Effizienzdenken und Managerismus erreicht. Dagegen gilt es kritische Praxen zu stärken. Ob und wie diese sich auf die Formel der "nachhaltigen Entwicklung" beziehen, erscheint zweitrangig. Wichtiger scheint dagegen zu sein, wie konkrete Inhalte aufgegriffen werden, wie mit sozialen Interessen umgegangen und ob eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen, d.h. eine umfassende Herrschaftskritik mitgedacht wird. Vor allem wäre ein Glaube zu unterlaufen, der trotz und wegen allem pragmatischen Managerismus doch deren Fundament ist: der Glauben an die Alternativlosigkeit kapitalistischer Globalisierung. Und gerade hier haben die Bewegungen der letzten Jahre die meisten Erfolge zu verzeichnen. Nicht eine "nachhaltige Globalisierung", sondern die nachhaltige Zurückdrängung ihrer treibenden Kräfte muss das Ziel einer wirklich nachhaltigen Entwicklung sein. In diesen Auseinandersetzungen entwickeln sich bereits heute Alternativen, Reformvorschläge und Vorstellungen einer anderen, vielleicht dann "nachhaltig" genannten Gesellschaft. Ein Beispiel dafür, angesichts des medialen und politischen Getrommels überhaupt wieder über Sinn und Unsinn, Interessen und Macht in internationaler Politik zu diskutieren, stellt der Aufruf der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) zu Johannesburg dar (www.buko.info). Und zwar nicht im Sinne gemütlich-zynischer Anti-Politik, sondern als Versuch Pseudo-Konsense aufzubrechen.

Von Rio fuhr ich 1992 durch die herrlichen Wälder zurück nach Buenos Aires, um dort mein zweites Semester zu absolvieren. In dem Land am Rio de la Plata stand die neoliberale Entwicklungspolitik noch vor ihrem Höhepunkt. Das Modell krachte Ende 1999 in sich zusammen, die politischen Institutionen sind vollständig delegitimiert. Den Menschen in Argentinien ist heute klar, dass sie von den herrschenden Kräften nichts, aber auch gar nichts zu erwarten haben. Vielleicht sollte das in Johannesburg auch mal jemand sagen.

* Dr. Ulrich Brand arbeitet am Fachgebiet "Globalisierung und Politik" der Universität Kassel und ist zusammen mit Christoph Görg Herausgeber des Bandes: Mythen globalen Umweltmanagements. "Rio + 10" und die Sackgassen nachhaltiger Entwicklung." Münster: Westfälisches Dampfboot 2002. Hierin kommen insbesondere AutorInnen aus südlichen Ländern zu Wort.

Der Beitrag von Ulrich Brand war unter dem Titel "'Rio+10' - eine neue Hofferei?" auch dokumentiert in der Zeitung "junge Welt" vom 21. August 2002.


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