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Wo ist der "Rettungsschirm" für die Hungernden und Armen?

Gegengipfel und soziale Proteste in Mexiko vor dem Treffen der Mächtigen *

Hilfsorganisationen haben die G20 in einem Appell vor dem Gipfel aufgefordert, über die europäische Schuldenkrise nicht den Kampf gegen Hunger und Armut zu vergessen. Sie sollten die Nahrungsmittelkrise entschlossen angehen und innovative Finanzierungen für Klimaschutz und Hungerhilfe fördern.

Etwas verloren wirkten die als Barack Obama, Angelika Merkel oder François Hollande verkleideten Aktivisten, wie sie da vor dem gewaltigen Kuppelbau auf dem ausladenden Platz der Revolution im Herzen von Mexiko-Stadt für mehr Nahrungsmittelsicherheit protestierten. Die unabhängige Hilfsorganisation Oxfam hatte zum Fototermin geladen. Das G20-Treffen steht vor der Tür. Dass statt 20 nur neun »Regierungschefs« mit Luftballons bewaffnet für die Kameras der zahlreichen Medienvertreter posierten, wird logistische Gründe gehabt haben. Tags darauf versammelten sich dann aber am selben Ort einige Tausend Menschen. Von dort zogen sie laut skandierend und Protestbanner vor sich her tragend ins historische Zentrum der Hauptstadt. Vorneweg die ehemaligen Angestellten der zunächst privatisierten und vor knapp zwei Jahren dann in Konkurs gegangenen Fluglinie Mexicana. Deren »Rettung« wird weiter verschleppt; auf Abfindungen warten die früheren Mitarbeiter bisher vergebens. Ihnen folgte eine bunt gemischte Schar aus Bürgerinitiativen, Bauernverbänden, Studenten und Menschenrechtsvereinigungen. Zahlenmäßig aber dominierten die Gewerkschaften.

Sie haben allen Grund, wütend zu sein und haben diesem Ärger auch schon das eine oder andere Mal Luft verschafft. Die neoliberale Politik von Präsident Felipe Calderón, dem Gastgeber des G20-Gipfels, hat ihnen besonders zugesetzt. Doch diesmal bleibt es ruhig. Alles verläuft in geordneten Bahnen. Von der zornigen Unzufriedenheit der Proteste gegen die WTO-Konferenz 1999 in Seattle oder den G8-Gipfel 2001 in Genua scheint wenig geblieben zu sein. Demonstrationen sind inzwischen gewohnte Begleitmusik. Demokratie lebt schließlich auch von Protest – nur kaputtmachen darf man nichts.

Bereits unter der Woche hatte ein zweitägiger Gegengipfel stattgefunden, zu dem Gewerkschafter, Bauern- und Indigenenvertreter aus weiten Teilen Lateinamerikas angereist waren. Auch Vertreter der Occupy-Bewegungen aus Washington D.C. und London waren gekommen, um gemeinsam über Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu debattieren. Der G20-Gipfel wurde einhellig als »illegitim, antidemokratisch und exklusiv« abgelehnt. Die dort versammelten Staatschefs seien unfähig, Lösungen für die gegenwärtigen Krisen zu präsentieren, der Neoliberalismus gescheitert, hieß es. Aber auch hier das Gefühl, dass die Botschaft ungehört im Raum verhallt.

Zuvor schon hatten namhafte NGO einen permanenten Dialog-Mechanismus im Rahmen der G20-Treffen gefordert. Die Wirtschaft ist da schon weiter. Auf Initiative von Mexikos Präsident Calderón findet parallel ein Business-Gipfel (B20) statt. Daran sollen die Chefs der weltweit wichtigsten Unternehmen teilnehmen und ihre Vorschläge »zur Bereicherung der G20-Agenda« unterbreiten. Die Tagesordnung dieses Mal bestimmen wird die Krise der Euro-Zone. Griechenland und Spanien dürften die dominierenden Themen sein. Das muss nicht extra vorgeschlagen werden.

Der Gipfel ist für die meisten Mexikaner also nicht nur geografisch weit entfernt, wenn Angelika Merkel und Co. sich ab dem heutigen Montag im pittoresken, aber abgelegenen Los Cabos im Bundesstaat Baja California Sur treffen. Das Land versinkt weiter in Gewalt. Erst vergangene Woche ist erneut ein Journalist in Veracruz ermordet worden; die anonymen Leichen der von den Drogenbanden verübten Massaker scheint nach 50 000 Toten in den vergangenen fünfeinhalb Jahren schon niemand mehr zu zählen.

Im Wahlkampf für die in weniger als zwei Wochen stattfindenden Präsidentschaftswahlen spielt das Thema erstaunlicherweise kaum eine Rolle. Der Wahlkampf selbst aber beschäftigt die Mexikaner durchaus – um einiges mehr als der G20-Gipfel zumindest. Vor allem seit sich die Studentenbewegung #YoSoy132 gebildet hat. Deren Forderung nach Demokratisierung der Medien hat den Nerv vieler getroffen.

Auch die Demonstranten gegen den G20-Gipfel schickten eine Grußadresse an die Studenten. Das Gesicht der chilenischen Studentenbewegung, die junge Kommunistin Camilla Vallejo Dowling, die wegen eines Uni-Forums in Mexiko weilte, rief die Studenten auf, Impulsgeber für soziale Veränderungen zu sein. »Es reicht nicht, dass die Jugend sich mobilisiert«, warnte sie. »Sie muss darauf setzen, eine breite soziale Bewegung zu werden, um radikale Veränderungen in der politischen, sozialen und ökonomischen Struktur eines Landes zu verwirklichen.« Dafür müssten Verbindungen zu anderen sozialen Sektoren der Gesellschaft, z.B. der Arbeiterschaft, eingegangen werden. Bisher noch demonstrieren sie getrennt.

* Aus: neues deutschland, Montag, 18. Juni 2012


Merkel ist in Los Cabos isoliert

Heiner Flassbeck über den Streit um Deutschlands Politik in den G20 **

Die G20-Staats- und Regierungschefs kommen heute und morgen in Los Cabos an der mexikanischen Pazifikküste zum siebten Gipfel seit Beginn der Finanzkrise im September 2008 zusammen. In Mexiko geht es vor allem um die Euro-Schuldenkrise sowie mögliche Konzepte für mehr Wachstum und Beschäftigung weltweit. Über den G20-Gipfel sprach für »nd« mit Heiner Flassbeck, Leiter der Wirtschaftsabteilung von UNCTAD, der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, Martin Ling.


nd: Nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 ist die G20 zum zentralen Koordinierungsgremium der Weltwirtschaft avanciert. In London 2009 wurde versprochen, dass künftig »kein Markt, kein Akteur und kein Produkt« mehr ohne Aufsicht sein solle. Was ist daraus geworden?

Flassbeck: Es gibt bescheidene Ansätze und in der G20 wird immer noch diskutiert und anerkannt, dass Regelungsbedarf besteht. De facto ist sehr wenig passiert. In den USA wurde das Dodd-Frank-Gesetz verabschiedet, das das Finanzmarktrecht der Vereinigten Staaten umfassend zu verändern versucht. Ein Schritt in die richtige Richtung, der aber bis dato nicht so umgesetzt worden ist, dass man wirklich von einem neuen Regime an den Finanzmärkten reden könnte.

Gibt es jenseits nationaler Flickschusterei nennenswerte gemeinsame Regulierungsansätze innerhalb der G20?

Bei den Finanzmärkten kaum. Aber die G20 ist 1999 bei ihrer Gründung auch nicht in erster Linie zur Koordinierung der Finanzmarktregulierung angetreten. Das zentrale Thema war und ist die globale Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung hat es durchaus Erfolge gegeben. 2008/2009 wurde durch das Umschwenken in der Wirtschaftspolitik in Richtung öffentlicher Konjunkturprogramme ein noch viel tieferer Absturz verhindert. Dieser Politikwechsel ist inzwischen ein bisschen versandet. Es ist nicht gelungen, zwischen den 20 Ländern einen Konsens herzustellen über das, was wirklich notwendig ist. Es gibt seit Jahren heftigen Streit, unter anderem mit Deutschland.

Apropos Deutschland. In Los Cabos wird die Eurokrise ein großes Thema sein. Deutschland steht für eine rigorose Position der Haushaltskonsolidierung und Liberalisierung, während andere Staaten und selbst der Internationale Währungsfonds sich stärker für Wachstumsimpulse aussprechen. Ist Berlin mit seiner Position in der G20 isoliert?

Dass Berlin mehr und mehr isoliert ist, kann man jeden Tag in den internationalen Zeitungen lesen. Die USA und Großbritannien haben die restriktive Austeritätspolitik kritisiert, obwohl die Briten im Grundsatz die gleiche Politik betreiben und die USA im Jahre 2013 mit einer rigorosen Sparpolitik anfangen wollen. Insofern ist die Kritik aus Washington und London nicht ganz konsistent. Dennoch kann kaum bestritten werden, dass Berlin isoliert ist und im Zentrum der Kritik steht.

Auch bei den Handelsungleichwichten in der Weltwirtschaft kommt Deutschland eine herausragende Rolle zu. Das Land trägt mit seinen exorbitanten Leistungsbilanzüberschüssen massiv zu den Verwerfungen bei. Gibt es Druck auf Deutschland, gegenzusteuern?

Das ist bei der G20 ein Dauerthema seit Beginn. Am Anfang stand China am Pranger, weil es Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse erzielte und das, so der Vorwurf, mittels einer künstlichen Unterbewertung seiner Währung, um die Produkte auf dem Weltmarkt billiger anbieten zu können. Inzwischen hat China seinen Überschuss weitgehend abgebaut - er ist von zehn auf zwei Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschrumpft. China hat durch Lohnsteigerungen in den vergangenen fünf bis zehn Jahren dafür gesorgt, dass seine Außenbilanzen ins Gleichgewicht kommen. Wer seiner Verantwortung nicht gerecht wird, ist Deutschland, das mit Abstand den größten Leistungsbilanzüberschuss der Welt hat. Im ersten Quartal 2012 lag er bei 6,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dafür steht Deutschland in der Kritik. Denn die Überschüsse der einen sind die Schulden der anderen.

Überschuss- und Defizitländer finden sich auch innerhalb der Eurozone. Welchen Anteil hat das an der Eurokrise?

Die Ungleichgewichte sind ursächlich für die Eurokrise, bei der es sich im Kern nicht wie üblicherweise geglaubt wird, um eine Staatsschuldenkrise handelt. Euro-Land muss für die internen Handelsungleichgewichte eine Lösung finden und die ist nicht abzusehen. Deutschland kämpft einen einsamen Kampf, in dem Berlin behauptet, dass die Handelsbilanzüberschüsse mit der Euro-Krise nichts zu tun haben. Das halte ich weiterhin für fundamental falsch und inzwischen wächst die Zustimmung für meinen Erklärungsansatz. Die internationale Diskussion hat sich in dieser Frage total gedreht. Nun wird bekundet, es sind nicht die Staatsschulden, die im Vordergrund der Euro-Krise stehen, sondern das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit in den Euroländern und damit die Leistungsbilanzsalden zwischen den Euroländern. Deutschland muss so aufwerten, wie China aufgewertet hat: mittels hohen Lohnsteigerungen über zehn und mehr Jahre. Das ist das Einfachste von der Welt. Wird die jetzige Politik beibehalten, führt das in die europa-, wenn nicht gar weltweite Depression. Man müsste in Deutschland langsam mal begreifen, dass man sich nicht einfach abkoppeln kann vom Rest der Welt. Das ist die entscheidende Botschaft der G20, die in Los Cabos vermittelt werden muss.

** Aus: neues deutschland, Montag, 18. Juni 2012


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