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Langsamer Abschied von der westlichen Dominanz – die Folgen von Finanzkrise und Rüstungskonkurrenz

Eine Beitrag von Thomas Horlohe in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):
Die Finanzkrise zeigt Wirkung. Die Verteidigungsminister müssen sparen, sie können schon längst nicht mehr wie früher aus dem Vollen schöpfen. Die Folge: Das militärische Kräfteverhältnis in der Welt verlagert sich – weg vom Westen, hin zu den Schwellenländern. Einzelheiten von Thomas Horlohe:


Manuskript Thomas Horlohe

Die angeschlagene Weltwirtschaft erholt sich nur langsam. Aus einer Bankenkrise im Herbst 2008 ist in diesem Frühjahr eine Krise der Staatsfinanzen geworden. Der Bankrott des Bankensektors hätte unweigerlich den Zusammenbruch der gesamten Volkswirtschaft nach sich gezogen. Um das zu verhindern, hatten die Regierungen die Kapitalmärkte quasi mit Geld „geflutet“ und den Banken ihre schlechten Risiken abgenommen. Dadurch stieg die Staatsverschuldung an, teilweise dramatisch. Das Gespenst vom Staatsbankrott geht um. Das einzige Gegenmittel sind Ausgabenkürzungen und Sparhaushalte.

Zunächst hatte es den Anschein, als würden die Militärausgaben von den Haushaltskürzungen verschont bleiben. Noch Anfang des Jahres 2010 stellte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI mit Blick auf die Militärausgaben im Jahr 2009 fest. Zitat:

Zitat SIPRI-Jahrbuch 2010
„Trotz Rückgangs der Steuereinnahmen und wachsender Defizite haben Weltfinanzkrise und Rezession nicht zu einem allgemeinen Absinken der Militärausgaben geführt.“

Lediglich die osteuropäischen Staaten sahen sich gezwungen, schnell zu reagieren und Einschnitte bei ihren Militärausgaben vorzunehmen. Den westlichen Industriestaaten war im Jahr 2009 noch daran gelegen, die Konjunktur durch staatliche Nachfrage zu stabilisieren. Plötzliche Ausgabenstopps wären da schädlich gewesen. Sie sind auch schwierig. Denn mit ihrem hohen Anteil von Personalkosten und Rüstungsbeschaffungen lassen sich Verteidigungshaushalte nur schwer kurzfristig reduzieren.

Doch im Laufe des Jahres 2010 hat die Krise auch die Militärausgaben der westlichen Staaten voll erfasst. Und im Februar dieses Jahres widmete die Münchner Sicherheitskonferenz den Folgen der Finanzkrise ein eigenes Diskussionsforum. NATO-Generalsekretär Rasmussen zeigte sich auf der Tagung besorgt über wachsende Ungleichgewichte im Bündnis:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Während der letzten beiden Jahre sind die Verteidigungsausgaben der europäischen NATO-Mitgliedstaaten um 45 Milliarden Dollar zurückgegangen. Das entspricht dem Verteidigungshaushalt Deutschlands. (...) Vor zehn Jahren entfiel weniger als die Hälfte der Verteidigungsausgaben der NATO auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Heute liegt dieser Anteil nahe 75 Prozent und er wird weiter wachsen.“

Der Lösungsvorschlag Rasmussens besteht aus einem Schlagwort: „Smart defence“ – „Clevere Verteidigung“. Die Bündnisstaaten sollen flexibler zusammenarbeiten und so mehr Sicherheit mit weniger Geld erreichen. Zusammenfassen und Teilen von Fähigkeiten, klare Prioritätensetzung und bessere Koordination, so lautet die Zauberformel des NATO-Generalsekretärs.

Aber gleiche Probleme der NATO-Staaten führen erfahrungsgemäß keineswegs auch zu gemeinsamen Lösungen. Die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik SWP hat am Beispiel von acht europäischen Ländern und den USA untersucht, ob die Finanzkrise zu einer verstärkten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich geführt hat. Ihr Befund aus dem Oktober 2010 ist ernüchternd. Zitat:

Zitat SWP-Arbeitspapier
„Die Streitkräfte und Entscheidungsträger der EU- und NATO-Staaten wissen derzeit offensichtlich wenig darüber, in welcher Weise ihre Partner von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen sind und wie sie damit umgehen …[Ihre] Aktivitäten konzentrieren sich derzeit auf die nationale Ebene und zielen vor allem auf eine schnelle Kostenreduktion ab. Die Option der Lasten- und Arbeitsteilung in der EU und NATO spielt selten eine Rolle.“

Die Verteidigungsminister agieren als Einzelkämpfer. NATO-Generalsekretär Rasmussens „Clevere Verteidigung“ ist weitgehend Wunschdenken.

Die Finanzkrise wird nicht nur die Ungleichgewichte innerhalb der Allianz verschärfen. Das militärische Gewicht der NATO insgesamt wird gegenüber anderen Militärmächten abnehmen. Diesen Trend betonte das renommierte Internationale Institut für Strategische Studien in London als es Anfang März seine jährliche Analyse der weltweiten militärischen Kräfteverhältnisse vorstellte. Der Direktor des Instituts, John Chipman:

O-Ton Chipman (overvoice)
„Ein Thema tritt besonders deutlich hervor: Die Verteidigungshaushalte der westlichen Staaten stehen unter Druck und ihre Rüstungsbeschaffungen sind eingeschränkt. Aber in anderen Regionen, insbesondere im Mittleren Osten und in Asien, beobachten wir einen Boom der Militärausgaben und Waffenkäufe. Es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass sich eine weltweite Umverteilung militärischer Macht vollzieht.“

Ein besonders augenfälliges Beispiel konnten die Londoner Experten unmittelbar beobachten. Im Oktober kündigte die britische Regierung an, den Verteidigungshaushalt Großbritanniens bis zum Haushaltsjahr 2013/2014 um real acht Prozent zurückzufahren. Die Zeit Großbritanniens als globale Militärmacht neigt sich dem Ende zu. Der Flugzeugträger „Ark Royal“ wurde sofort außer Dienst gestellt. Zwei bestellte neue Träger sollen zwar noch ausgeliefert werden, aber nur weil die Stornierung teurer wäre. Nach Auslieferung soll ein Schiff eingemottet oder verkauft werden. Bis mindestens zum Jahre 2020 wird die einstmals größte Seemacht der Welt ohne einsatzbereiten Flugzeugträger sein.

Genau entgegengesetzte Pläne verfolgt die chinesische Volksmarine. Sie möchte bis zum Jahre 2020 mehrere Flugzeugträger in Dienst stellen. Der Bau des ersten Trägers schreitet so gut voran, dass er bereits im Jahr 2014 vom Stapel laufen soll. Bisher war seine Fertigstellung ein Jahr später vorgesehen. Das Ausbildungsprogramm für die 50 Kampfpiloten läuft bereits, in Zusammenarbeit mit der Marine Brasiliens, einer anderen aufstrebenden Militärmacht. Die Volksrepublik China ist der Staat mit den weltweit zweithöchsten Militärausgaben, vor Frankreich, Großbritannien und Russland. Nach Berechnungen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI ist Chinas Militärhaushalt seit dem Jahr 2000 um 217 Prozent gewachsen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag mit real 11,8 Prozent über dem Wirtschaftswachstum. Anfang März dieses Jahres kündigte die Volksrepublik an, ihre Militärausgaben im Jahr 2011 nochmals um 12,7 Prozent zu steigern.

Wie wird sich die Wirtschafts- und Finanzkrise auf die weltweite militärische Kräfteverteilung auswirken? Noch ist es für eine abschließende Antwort zu früh. Allerdings sind Tendenzen zu erkennen. Die USA bleiben weiterhin die mit Abstand größte Militärmacht. Ihre Haushaltskrise bremst aber ihre Bereitschaft zu neuen Militärinterventionen – daran ändert auch die Durchsetzung des UN-Flugverbots über Libyen nichts. Die europäischen NATO-Verbündeten werden verstärkt auf den Rückzug aus Afghanistan drängen. Das Engagement ist nicht nur unpopulär. Es ist auch zu teuer.

Schwellenländer und Rohstoff exportierende Staaten, wie zum Beispiel Russland, haben die finanziellen Spielräume, um ihre Streitkräfte zu modernisieren. Die Folge: Mit den wirtschaftlichen Gewichten verlagern sich auch die militärischen Kräfte. Die Globalisierung bestimmt auch das militärische Potenzial. Die Dominanz des Westens schwindet - langsam aber unverkennbar. Den Spekulanten in der Londoner City und New Yorks Wall Street ist in drei Jahren das gelungen, woran Diplomaten in jahrzehntelangen Verhandlungen gescheitert sind: Abrüstung in Europa, langsam, aber immerhin. Sicherer geworden ist die Welt damit aber noch nicht.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 23. April 2011; www.ndrinfo.de


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