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"Rassismus ist in Europa ein Tabuthema"

Demografieforscher Rickard Sandell über afrikanische Migration und europäische Politik

Weltweite Migration ist eines der größten Probleme der Gegenwart. Bisher setzen europäische Staaten auf Grenzsicherung und Abschiebung. Kurzfristige Lösungen, die auf Dauer das Problem nur verschärfen. Über Lösungsansätze sprach Alfred Hackensberger für das "Neue Deutschland" mit dem schwedischen Soziologen Rickard Sandell (41), der als Spezialist für Demographie am "Real Instituto Elcano" in Madrid forscht.



ND: Letzten Herbst der Sturm von Flüchtlingen auf Ceuta und Melilla, derzeit die Abschiebungen durch Spanien von den Kanaren nach Mauretanien wo seinerseits Schätzungen zufolge zwischen 10 000 und 15 000 Schwarzafrikaner auf eine Gelegenheit warten, die kanarischen Inseln mit Booten zu erreichen. Sie haben das Problem der afrikanischen Migration aus demographischer Sicht untersucht. Ergibt sich daraus eine andere Perspektive?

Sandell: In den hiesigen Medien werden die Vorgänge oft als isolierte Vorfälle betrachtet. Dabei ist es nur eine Reaktion auf die Lebensbedingungen in den Ländern der Subsahara. Die Menschen verstehen Migration als Lösung ihrer Probleme in den Heimatländern, obwohl der Grenzübertritt mit hohen persönlichen Risiken verbunden ist – ob in Ceuta, Melilla, Mauretanien oder sonstwo.

Basiert das auf den sozialen Daten, die Sie über die Immigranten haben?

Nein, ich habe keine Daten über die Immigranten selbst. Ich betrachte das aus einer Makroperspektive. Ich sehe drei Mechanismen, die Individuen beeinflussen, zu emigrieren. Zum einen ist das eine steigende Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten in den Staaten der Subsahara. Es gibt immer mehr Menschen in den Städten, jedes Jahr suchen mehr Menschen Arbeit, um sich und ihre Familie zu ernähren. Zum anderen wächst die spanische Wirtschaft wesentlich schneller als die afrikanischen Ökonomien. Der Unterschied der Lebensbedingungen war schon immer riesig, aber zurzeit wird die Kluft von Jahr zu Jahr noch größer. Der dritte Faktor ist die spanische Politik gegenüber Immigranten. Wer es nach Spanien schafft, kann nach einer Weile Papiere bekommen. Das ist im Vergleich zu anderen europäischen Länder etwas Besonderes. Alles zusammen macht Spanien zum Ziel von Immigranten. Nicht zu vergessen die geographische Lage. Von Marokko aus sind es nur 14 Kilometer nach Europa.

Das hört sich nach wachsendem Immigrationsdruck an. Wie kann der gemildert werden?

Das Hauptproblem eines Immigranten ist es, die Grenze zu überwinden. Ob nun über den Zaun von Ceuta, mit einem Boot über die Meerenge von Gibraltar oder auf normalem Weg wie mit Flugzeug oder Auto. In der Zukunft wird es mehr und mehr Versuche dort geben, wo die Grenze Schwachpunkte hat. Die geplanten Grenzverstärkungen vermindern aber nicht den Immigrationsdruck in den subsaharischen Staaten. Die Menschen suchen sich andere Wege und Mittel. Das führt zu einer Zunahme von Menschenschmuggel, zu einer Stärkung illegaler Gruppen, die »Reisen nach Europa« organisieren, mehr Menschen ertrinken im Meer, das als Schmuggelroute reaktiviert wird. Das wird so weitergehen, solange die europäischen Regierungen nicht Möglichkeiten legaler Einwanderung schaffen. Nur so könnte man den Immigrationsdruck etwas vermindern.

Sie sprechen von den Staaten der Subsahara als wäre es ein einziges Land. Muss man keine Differenzierungen zwischen den Ländern machen?

Da sind vielleicht kleine Unterschiede, aber es gibt einen allgemeinen demographischen Trend, der für alle verbindlich ist. Zum ersten Mal wächst die aktive Bevölkerung (zwischen 15 Jahren und 59 Jahren) dort in einem bisher noch nie gekannten Ausmaß. Das liegt an einer allgemein besseren medizinischen Versorgung. Das ist eine vollkommen neue Situation. Das Resultat sind soziale Krisen, die zu Unruhen und politischer Instabilität führen. Alles Faktoren, die Menschen bewegen, zu emigrieren. In Afrika gibt es kaum Möglichkeiten, also bleibt nur Europa.

Aber die Zahl der Immigranten ist bisher verhältnismäßig gering.

Bis jetzt vielleicht, aber in der Zukunft wird sich das signifikant ändern. Ich glaube, der Anstieg, gemessen an demographischen Zahlen, wird unglaublich hoch sein.

Wie sehen denn die demographischen Zahlen für Spanien aus?

2005 lebten in Spanien rund 140 000 Immigranten aus der Subsahara. Das ist ein Anstieg von 29 Prozent zum Vorjahr. Die Einwanderer aus Marokko, 420 000, sind um 20 Prozent angestiegen, was hauptsächlich am Netzwerkeffekt liegt. Es gab Familienzusammenführungen und es wurde geheiratet. Eine große marokkanische Gemeinde wird immer dafür sorgen, dass es viele Immigranten aus Marokko geben wird. Derselbe Effekt beginnt nun bei den Menschen aus Schwarzafrika.

Häufig werden Immigranten, insbesondere aus Afrika, als die Ärmsten der Ärmsten beschrieben. Ist das nach Ihren Erkenntnissen zutreffend?

Wenn man Immigration allgemein betrachtet, wird man immer feststellen, dass sie in der Regel nicht die Ärmsten der Armen sind. Sie haben Schulen, Universitäten besucht, verfügen in irgendeiner Form immer über eine berufliche Ausbildung und es gibt Familienersparnisse, die den schweren Schritt der Immigration erst ermöglichen. Das ist ein allgemeines Raster, das kennzeichnend für Immigration in Spanien und Europa ist. Eine gute Ausbildung ist eben die Voraussetzung für ein besseres Leben in einem anderen Land. Die Ärmsten der Armen können niemand bezahlen, der sie nach Marokko oder Mauretanien bringt, geschweige denn nach Spanien. Sie haben wahrscheinlich nicht einmal die Information, wohin man immigrieren könnte. Spanien oder andere Länder Europas haben sie noch nie im Fernsehen gesehen, da dieses Gerät ein unerreichbarer Luxus ist. Das mag sich mit der Zeit vielleicht verändern, aber für die gegenwärtige Situation ist es kennzeichnend.

Die Bevölkerung in Europa wird immer älter, die Sozialsysteme funktionieren nicht mehr. Könnte eine kontrollierte Einwanderung dieses Problem nicht lösen?

Immigration ist keine Lösung für die Überalterung der europäischen Gesellschaften. Es müssten so viele Menschen einwandern, dass unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, nicht mehr existierte. Es würde weit mehr Immigranten geben als ursprüngliche Bevölkerung. Außerdem ist Europa sehr rassistisch. Im Gegensatz zu den USA, Kanada und Australien, die auf Immigration gegründet sind und Rassismus ein offenes Thema ist, bleibt es in Europa ein Tabu. Für jeden Politiker in Europa käme es einem politischen Selbstmord gleich, würde er für eine immigrationsfreundliche Politik eintreten. Der Trend in Europa geht hin zu mehr Restriktionen denn zu Offenheit.

Nach den Vorfällen in Ceuta und Melilla kündigte Spanien, aber auch die EU an, direkt in Afrika an der Schaffung von Arbeitsplätzen mitzuhelfen. Wie aussichtsreich ist das, gemessen an demographischen Zahlen? Es war nicht das erste Mal, dass Politiker dies ankündigen. Ich bin da sehr skeptisch. Aber nehmen wir einmal an, die EU ist mit ihren Maßnahmen in Afrika erfolgreich, selbst dann dauert es mindestens 50 Jahre, bis wirklich entscheidende Unterschiede erkennbar sind. Es ist gar nicht nötig, diese Länder auf europäisches Niveau zu bringen. Es genügt schon, einen psychologischen Effekt zu erzeugen, der den Menschen das Gefühl gibt, irgendwann wird alles besser. So funktioniert das auch in den neuen Mitgliedstaaten der EU. Der bisher negative psychologische Effekt wird durch den Beitritt umgedreht. Statt Zukunftsangst haben die Menschen Hoffnung auf Prosperität. Und das nimmt den Druck zu emigrieren. Die EU muss ähnliches in Afrika erzeugen, sonst sind alle Hilfsmaßnahmen umsonst. Aber ich bin wenig optimistisch, die europäischen Staaten haben genug eigene Probleme. Und wer wird den Menschen erklären wollen, dass unser Schicksal auch von dem Afrikas abhängig ist?

* Aus: Neues Deutschland, 4. April 2006

32 Flüchtlinge vor Mauretanien ertrunken

Gefährlicher Weg vom afrikanischen Kontinent auf spanische Kanaren. Schiff mit 500 Menschen entdeckt
Von Gloria Fernandez

Beim Versuch, von Mauretanien auf die Kanarischen Inseln zu gelangen, sind 32 afrikanische Flüchtlinge ertrunken. Das Boot mit insgesamt 57 Afrikanern an Bord sei vom Kurs abgekommen und gekentert, berichtet der spanische Sender RNE am Montag. 25 Insassen seien von einem mauretanischen Kutter gerettet worden. Die übrigen 32 Passagiere seien ums Leben gekommen. Die aus Senegal, Mali und Gambia stammenden Flüchtlinge hätten zuvor mit dem Boot 17 Tage auf dem Meer verbracht.

Die spanische Polizei entdeckte unterdessen ein Schiff mit Hunderten Flüchtlingen, das vor den Kanaren kreuzte. Wie die Tageszeitung El Dia in ihrer Internetausgabe berichtete, befanden sich auf dem Boot Flüchtlinge aus dem Senegal, Guinea und Sierra Leone. Nach Angaben des Radiosenders Cadena SER war der ehemalige Fischkutter von der Besatzung eines Flugzeugs der spanischen Luftwaffe etwa 200 Kilometer südlich der Insel Hierro gesichtet worden. An Bord des Schiffes könnten sich – so der Sender – bis zu 500 Immigranten befinden, die auf spanisches Gebiet gelangen wollten.

Spanien hatte im Herbst 2005 die Militärpräsenz in seinen neokolonialen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika ebenso massiv ausgebaut wie die Grenzbefestigungen. Tausende Flüchtlinge wurden abgefangen und in ihre Heimatländer zurückverfrachtet. Seither nahmen die Versuche der Flüchtlinge zu, mit Schiffen auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Mehr als 3000 Flüchtlinge wurden seit Jahresbeginn auf den Kanaren festgenommen. Hunderte ertranken bei dem Versuch, spanisches Territorium zu erreichen.

Aus: junge Welt, 4. April 2006




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