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"Wirtschaften für die Bedürfnisbefriedigung der Menschen"

Rede von Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von Attac, in Kassel

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Sabine Leidig während der Abschlusskundgebung beim Ostermarsch in Kassel am 21. April 2003.


Ich begrüße die Beteiligten am Kasseler Ostermarsch!

Der Irak-Krieg ist zu Ende wie wir gehört haben. Auch wir, die wir gegen diesen Krieg aufgestanden sind sind erleichtert, dass keine Splitterbomben mehr Menschen zerfetzen und wir wissen doch, dass es nicht vorbei ist. Die Zerstörung bleibt ebenso wie das Leid der irakischen Bevölkerung, verursacht durch zwei Kriege und durch das UN-Embargo.

Vielfältig waren die Begründungen für diesen Angriffskrieg: Befreiung des irakischen Volkes von seinem Diktator - einem früher gehätschelten, Beseitigung von Massenvernichtungswaffen und Bekämpfung des internationalen Terrorismus.

Dazu möchte ich nur anmerken, dass das Marburger Amtsgericht kürzlich entschieden hat, dass US-Präsident Bush als "Staatsterrorist" bezeichnet werden darf. Angesichts der Umstände des Irak-Krieges, insbesondere durch den ausdrücklichen Verzicht auf ein UN-Mandat, sei dies durch die politische Meinungsfreiheit gedeckt.

Ich hoffe, dass wir eines Tages Machtverhältnisse schaffen, unter denen George Bush, Toni Blair und ihre Generäle sich vor einem legitimen internationalen Gerichtshof verantworten müssen, wie Andere, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben!

Was die Massenvernichtungswaffen betrifft: wir sollten alles daran setzen, sie überall auf der Welt zu ächten - in den USA, in Indien, China, Israel und in Europa. Überall sind sie zu vernichten und Produktion und Verkauf sind zu verbieten und schwer zu bestrafen! Liebe FriedensfreundInnen,

Es war richtig, dass die Rot-Grüne Koalition auf der diplomatischen Ebene zu dem gewollten und von langer Hand geplanten Irak-Krieg Nein gesagt hat. Dafür haben viele Menschen im letzten Herbst Rot-Grün gewählt und die Massenproteste haben diese Position gestärkt. Aber es reicht nicht, dem Krieg verbal entgegen zu treten und nur noch über die Zeit danach zu reden. Die Bundesregierung drückte sich von Anfang an um die Benennung der Tatsache, dass es sich bei dem Krieg der USA und ihrer Verbündeten nicht nur um einen schweren politischen Fehler mit verheerenden humanitären und politischen Konsequenzen handelt, sondern um eine völkerrechtswidrige Aggression.

Es handelt sich bei dieser Frage nicht um "Juristerei", wie Gerhard Schröder abwiegelt, sondern um eine zentrale politische Frage, die Frage: Beteiligung am Krieg - ja oder nein? Die Regierungsparteien sind der Antwort auf diese Frage ausgewichen. Die indirekte Unterstützung wurde nicht verweigert. Welche Hintertür soll da offen bleiben? Was ist mit den Plänen, deutsche Interessen auch am Hindukusch zu verteidigen? Will man das nächste mal wieder richtig dabei sein?

Lasst uns nicht auf die Regierenden vertrauen, lasst uns weiter informieren, demonstrieren, kämpfen für tatkräftige Friedenspolitik. Abrüsten! Umverteilen! Eine andere Welt schaffen!

Die Globalisierung die wir sehen ist das gemeinsame politische Werk der Triadenmächte USA, Japan und der EU. Sie beinhaltet einen gnadenlosen Standortkampf in dem sich die reichen Länder wechselseitig und noch mehr die "übrige Welt" unter Druck setzen, um den eigenen transnationalen Konzernen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und die Konkurrenten in die Verlustzone zu treiben. Mit verheerenden Folgen für die meisten ErdenbewohnerInnen.

Dabei sind Europa und die USA sind gleichermaßen darauf angewiesen, Rohstoffe zu kontrollieren, Märkte offen zu halten und profitable Anlagemöglichkeiten zu sichern. Aber sie bedienen sich dabei unterschiedlicher Strategien, die sich auch aus unterschiedlichen ökonomische Bedingungen und Problemen erklären lassen.

Die Unternehmen der EU haben ihren Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in den vergangenen 20 Jahren deutlich steigern können - der Anteil der US-Konzerne ist im gleichen Zeitraum um die Hälfte gesunken. Der Dollar als Weltwährung und Machtfaktor hat mit dem Euro echte Konkurrenz bekommen und gründet sich zudem auf einen einmalig hohen Schuldenberg.

Die USA versuchen ihre Dominanz in der Runde der feindlichen Brüder zu behalten, indem sie ihre Militärmacht einsetzen. Es geht nicht allein ums Öl, sondern mehr noch um die politisch-ökonomische Kontrolle eines Raumes, der weit über den Irak hinausgeht und von zentraler Bedeutung für die Konflikte der Zukunft sein wird, nämlich für die Konkurrenz mit China und einem sich irgendwann auch wieder erholenden Russland.

Die Strategen in Washington denken und reden schon lange von noch größerer Beute. Dazu gehören die arabischen Staaten, Iran, die Türkei und alle anderen, die heute ungehorsam sind oder in Zukunft sein könnten. Sie alle sollen befreit und auf den rechten Weg gebracht werden. Das Versprechen die (Öl-) Reichtümer sollten endlich dem Volk zugute kommen statt Herrschenden glauben wir nicht!

Für den Ausbau einer geostrategischen Machtposition werden Menschenrechte und Völkerrecht niedergetreten - da gibt es für uns heute und künftig nur ein radikales NEIN und konsequenten Widerstand!
Nur wenn wir solche Kriege verhindern, werden Wege zur friedlichen Konfliktlösung geöffnet.

Und Europa?
Während 56 Millionen Bürger der EU von Armut bedroht sind, wird auch bei uns weiter auf Waffen gebaut. Wie lange werden sich das die Völker das noch gefallen lassen? In unserem Interesse sind weder die nächsten US-Kriege, noch die Absicht, die Armeen der EU weiter aufzurüsten.

Jeder Marschflugkörper zum Stückpreis von einer Million Dollar entfernt uns ein Stück weiter von der Erfüllung notwendiger gesellschaftlicher Aufgaben. Die soziale Gerechtigkeit bleibt weltweit auf der Strecke.

Aber Europa und dabei - in Vorreiterrolle - Deutschland, oder besser gesagt seine Konzerne, sichern ihre Dominanz nicht nur durch politisch-militärische Macht. Sie kämpfen - wie es Karls Marx formuliert hat - "mit der schweren Artillerie der billigen Warenpreise".
Zweifellos ist diese Weltmarktstrategie weniger brutal, als die Bedrohung der Welt durch Krieg. Friedlich ist sie trotzdem nicht; sie wirkt sogar als eine ausgesprochen aggressive Strategie, die Millionen Menschen in aller Welt die Aussicht auf ein besseres Leben raubt und Verelendung vorantreibt.
Auch diese Art den Konkurrenzkampf zu führen fordert unschuldige Opfer - nicht nur in den armen Ländern, sondern zunehmend auch hier.

Bei der Eröffnung der Hannover Messe am 6. April hat Bundeskanzler Gerhard Schröder gesagt: "Die angekündigte Schritte für einen Umbau der Sozialsysteme sind gerade vor dem Hintergrund des Irak-Krieges und der dadurch verstärkten weltwirtschaftlichen Unsicherheit unerlässlich".
Ich sage: Die "Agenda 2010" bedeutet eine neue Runde der Aufrüstung im Standortkampf.

Die konkreten Vorhaben sind nicht neu: Staatliche Leistungen kürzen -Eigenverantwortung fordern, deregulieren und privatisieren. Seit mehr als zwei Jahrzehnten sinkt der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, wird Sozialabbau betrieben und die Verteilung von unten nach oben beschleunigt.

Und jetzt wird weiter kräftig an dieser Schraube gedreht, um Lohnkosten zu senken und mit niedrigen Lohnstückkosten die Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu besiegen.
Ältere, Arbeitslose, abhängig Beschäftigte, Kranke und Einkommensschwache müssen dafür die Zeche zahlen; Soziale Gerechtigkeit, neue sinnvolle Arbeitsplätze und humane gesellschaftliche Perspektiven kommen unter die Räder. Gewerkschaften werden dabei als potentielle Störer an der "Heimatfront" unter Androhung gesetzlicher Regelung zur Aufgabe von kollektiver Schutzregelungen gedrängt und öffentlich diskreditiert. Mit den so genannten Sicherheitsgesetzen, die nach dem 11. September 2001 ruck zuck verabschiedet werden konnten, existiert darüber hinaus ein Disziplinierungsinstrumentarium gegen allerlei Widerständige.

Bei allen Unterschieden werden sowohl von den Mächtigen in den USA, als auch von den Mächtigen in Deutschland aggressive Strategien vorangetrieben, die beim Kampf um den Rest der Welt im Innern die Ausbeutung verschärft, wird Instabilität produziert und menschliche Existenzen werden gefährdet und vernichtet.

"Der Mensch vor dem Profit" … war ein Motto der Proteste gegen die WTO (Welthandelorganisation) in Seattle im Jahr 1999. Damit hatte die globalisierungskritische Bewegung die Weltbühne betreten und diese Parole sagt, von welcher Art die "andere Welt" sein soll, die wir für möglich halten:
Wirtschaften nicht gegen die Konkurrenz, sondern für Bedürfnisbefriedigung der Menschen - ein Ziel, das über viele Wege und Treppenstufen erreicht werden kann, wenn Menschen überall auf der Welt und international vernetzt unter ihren jeweils konkreten Bedingungen darum ringen.

Binnenmärkte stärken, faire Handelsbeziehungen entwickeln, alle Einkommen gerecht besteuern, die öffentliche Nachfrage erweitern und Reichtum zum gesellschaftlichen Wohlstand nutzen, ökologisch umbauen, Sozialsysteme ausbauen, würdige Arbeitsplätze schaffen, Abrüsten und Rüstungsexporte verhindern … das sind Ziele und Forderungen, für die wir uns hier einsetzen, um zu einer anderen Welt beizutragen.

Wenn die Friedensbewegung, die Globalisierungskritiker und die Gewerkschaften ihre Kämpfe verbinden, kann richtig Sand ins neoliberale Globalisierungsgetriebe kommen - dann ist es mögliche, die Richtung zu ändern.

Ich möchte euch aufrufen, nicht nur jetzt beim Ostermarsch dabei zu sein, sondern auch am 1. Mai und zusammen mit Attac und vielen anderen Gruppen gegen den bevorstehenden G-8-Gipfel Anfang Juni in Evian zu protestieren. (www.attac.de/Evian) Dort werden die mächtigsten Männer über die Zurichtung der Welt nach ihrem Geschmack beraten - wir wollen ihnen in die Suppe spucken!

In der Bevölkerung hat sich ein erstaunlich klares Bewusstsein über die wahren Gründe für den Irak-Krieg gebildet. Die US-Regierung hat in den letzten Monaten mehr zur politischen Bildung beigetragen, als es jahrelange Schulungen in Politökonomie gekonnt hätten. Jeder Tankwart und jede Taxifahrerin und die meisten SchülerInnen wissen heute, dass es den USA weder um Menschenrechte, um Massenvernichtungswaffen, oder die Bekämpfung des Terrorismus zu tun ist, sondern dass es hauptsächlich um Erdöl und geostrategische Vorteile gegenüber dem "Rest der Welt" geht. An dieses Bewusstsein sollten wir gilt es anzuknüpfen.

Wir sollten die Teileinsichten der Bevölkerung in globale ökonomische und ökologische Zusammenhänge nutzen, um praktikable Alternativen zu diesem verschwenderischen und zerstörerischen Kapitalismus zu diskutieren.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Albert Einstein. Es stammt aus seinem Briefwechsel mit Siegmund Freud, veröffentlicht unter dem Titel "Warum Krieg?":
"Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn die die Kräfte, die ein Krieg entfesselt, für den Aufbau einsetzten! Ein Zehntel der Energien, die die Krieg führenden Nationen im Krieg verbrauchen, ein Bruchteil des Geldes, das sie mit Handgranaten und Giftgasen verpulvert haben, wäre hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen sowie die Katastrophe der Arbeitslosigkeit in der Welt zu verhindern. (...) Es gäbe genug Geld, genug Arbeit, genug zu essen, wenn wir die Reichtümer der Welt richtig verteilen würden, statt uns zu Sklaven starrer Wirtschaftsdoktrinen oder -traditionen zu machen."

In diesem Sinne - lasst uns entschlossen und gemeinsam die Menschenrechte auf Frieden, Selbstbestimmung, Nahrung, Bildung, Arbeit und gesunde Lebensbedingungen der Weltmarkt-Macht- und Profitgier entgegen stellen!


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