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G 20: Jeder für sich

Bei den Gipfeltreffen in Kanada prallen Interessengegensätze der weltgrößten Kapitalfraktionen aufeinander. Eine gemeinsame Krisenbekämpfung wird es nicht geben

Von Klaus Fischer *

Sigmar Gabriel hat sich auf die Seite der USA geschlagen. »Sparen« allein helfe der Wirtschaft nicht, dozierte der SPD-Chef am Freitag in der Financial Times Deutschland. Nötig seien neue Staatsausgaben zur Ankurbelung der Konjunktur. Also: Weiter Schulden machen, um am Jahresende ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) melden zu können? Das ist die Forderung der Regierung Barack Obamas, die – wie ihre Vorgängerin – auf »Deficit spending« setzt und den britischen Ökonomen John M. Keynes zum Kronzeugen ihrer Politik macht. Gabriel schlägt in dieselbe Kerbe– als wären schleppender Binnenkonsum und Lohndumping in Deutschland nicht hauptsächlich auf Hartz IV, die Aufgabe des Solidargedankens bei der gesetzlichen Sozialversicherung oder die massenweise Einführung der Leiharbeit zurückzuführen. Das ist alles aber SPD-Grünen-Erbe, genauso wie eine drastische Förderung der Vermögenden per Steuergeschenken und wie die Freifahrtscheine für Finanzzocker.

Der SPD-Vorsitzende tut so, als gehe es bei dem Streit zwischen Washington und EU darum, wer der Welt den besten Weg aus der Krise weisen kann. Die Auseinandersetzung im Vorfeld der Gipfeltreffen in Kanada (Freitag: G8; Sonnabend: G20), denn er weist auf die Interessenunterschiede zwischen Washington und Westeuropa hin. Genau deshalb kann keine Rede davon sein, daß G8, oder G20 um ein gemeinsames Konzept zur Krisenbewältigung ringen. Den Staats- und Regierungschefs geht es um ihre Eigeninteressen. Sie wollen sich selbst retten – wenn nötig, auf Kosten der anderen.

Beispiel USA: Seit dem Zusammenbruch ihres einheimischen Immobilienmarktes Mitte 2007, vor allem aber seit dem offenen Ausbruch der Finanzkrise im Herst 2008 laufen Politiker und Notenbanker dort ökonomisch Amok. Gigantische Schulden wurden vom Staat aufgenommen, um die bröckelnden Strukturen des Finanzkapitals zu stabilisieren. Die Notenbank warf gewaltige Geldmengen in den Wirtschaftskreislauf. Motto: Wir brauchen die Dollars, also drucken wir welche.

Unabhängig von politischem Willen, privater Profitgier oder medialer Camouflage – diesem »Geld« steht in der Realität nichts gegenüber als die künftigen Steuereinnahmen. Und es wirkt nicht stabilisierend. Denn es fließt größtenteils in die Spekulation, verschärft also die ökonomischen Ungleichgewichte– allerdings nicht zum Nachteil derer, die sich des Systems bedienen. Die sogenannte Finanzindustrie war in den vergangenen Jahrzehnten Hauptquell des temporären Wohlstandes der US-Bürger und entscheidend für eine gigantische Akkumulation von Vermögen der Reichen. Diese »Industrie« ist parasitär, produziert nichts. Sie bietet allenfalls Dienstleistungen, die im Resultat anderswo erzielten Mehrwert systematisch absaugen. Und weil das nicht ausreicht, den Profitdrang der Beteiligten zu befriedigen, eignen sich diese Leute mit Hilfe der Regierenden bereits heute die Steuern von morgen an. Das Anwachsen der privaten Milliardenvermögen ist im Grunde nichts als eine Seite der großen Bilanz. Auf der anderen steht eine exorbitante Verschuldung der Allgemeinheit. Die energische Forderung des US-Präsidenten an seine »Partnerstaaten«, weiter die Kredithähne zu öffnen, entspringt dem simplen Wunsch nach einem »Weiter so«. Übersetzt heißt das, der Rest der Welt möge doch bitte auch für »Amerikas Schulden« geradestehen.

Das durchzusetzen ist schwieriger geworden. Zehn Prozent offizielle Arbeitslosigkeit zehren am Mythos des »American way of life«. Die Wirtschaft stagniert. Die veröffentlichten Plus-Zahlen resultieren nach Ansicht seriöser nichtstaatlicher Analysten aus erneuter Blasenbildung der Finanzmärkte. Zwei von drei Säulen der US-Supermacht wanken: Das Militär – eine 1000-Milliarden-Dollar-Veranstaltung pro Jahr– schien bisher die Durchsetzung der eigenen Spielregeln zu garantieren. Ein paar verlorene Kriege und Differenzen zwischen Militär und politischer Führung reduzieren die Armed Forces gegenwärtig auf einen gigantischen Kostenfaktor. Auch Hollywood und die gesamte Meinungsindustrie schwächeln. Nach wie vor sieht Umfragen zufolge eine Mehrheit der US-Bürger in den »Bankstern« die Ursache der aktuellen Misere – und nicht in sparwütigen Europäern, wild exportierenden Chinesen oder gar bösartigen Terroristen.

Die Attacken auf den Euro haben viele US-»Verbündete« in Europa aufmerken lassen. Die westeuropäische Gemeinschaftswährung ist zwar zum Teil eine Fehlkonstruktion, dennoch substantiell stabiler als der marode US-Dollar. Die Griechenland-Pleite hätte es wohl auch ohne das globale Krisenszenario gegeben. Als allerdings die US-dominierten Finanzmärkte EU-Länder zu Spekulationsobjekten machten, kam die Reak­tion. Hohe Staatsverschuldung bietet den Finanzheuschrecken Angriffsfläche. Also soll diese nun zurückgefahren werden. Dafür machten sich vor allem jene Regierungen stark, deren Volkswirtschaften schwerpunktmäßig auf Warenproduktion setzten, statt zu »postindustriellen Dienstleistungsgesellschaften« zu degenerieren.

Natürlich bedeutet »sparen« nicht sparen, sondern eine Umverteilung zu Ungunsten der wirtschaftlich schwächeren Bürger. Das sieht man am Merkel-Westerwelle-Konzept. Deshalb wird eine Konsolidierung der Staatsfinanzen zu Lasten der wichtigsten Massenkonsumenten nicht funktionieren.

Auf die Stärkung der Produktionssphäre und den Massenkonsum setzen dagegen auch zahlreiche erstarkende Schwellenländer. Für die ist Staatsverschuldung derzeit ebensowenig ein Thema wie Rezession. Deshalb werden deren Repräsentanten wohl mit stillem Genuß die Kontroversers zwischen Washington und Europa verfolgen, ohne Partei zu ergreifen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juni 2010


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