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G20 üben sich im Stillstand

Auf dem Gipfel in Los Cabos bleiben gemeinsame Strategien gegen die Krisen aus

Von Martin Ling *

Die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer G20 übten sich bei ihrem Gipfel im mexikanischen Los Cabos in gegenseitiger Kritik und Stillstand. Gemeinsame konkrete Maßnahmen fehlten.

Christine Lagarde hatte gute Laune. Erfolgreich hatte die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Geld eingesammelt: Dem IWF stehen nun statt 430 sogar 456 Milliarden US-Dollar zur Krisenabwehr zu Verfügung. Das macht offenbar optimistisch, denn Lagarde, die noch vor dem Gipfel einen Zeitraum von maximal drei Monaten für die Euro-Rettung an die Wand gemalt hatte, zeigte sich am Ende optimistisch, dass der von den Staats- und Regierungschefs »gelegte Samen« aufgehen werde. Die europäischen Gipfelteilnehmer hätten sich verpflichtet, »alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Integrität und Stabilität der Eurozone zu sichern«.

Unter anderem fassen die Europäer die Schaffung einer Bankenunion ins Auge. Das geht aus der Abschlusserklärung des Gipfels hervor, die vom mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón in Los Cabos verlesen wurde. Darin wird das Ziel einer »integrierteren Finanzarchitektur« in der Eurozone genannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bei dem Gipfel unter anderem die Bedeutung einer europäischen Bankenaufsicht betont. Konkrete Schritte wollen die EU-Staaten Ende kommender Woche vereinbaren.

Nicht zur Sprache kam, wie den extremen Handelsungleichgewichten innerhalb der Eurozone zu Leibe gerückt werden soll, obwohl die Überschüsse der einen - allen voran Deutschlands - die Schulden der anderen Volkswirtschaften wie Griechenlands entscheidend mitbegründen.

Nach dem Schlagabtausch mit viel Kritik am europäischen Krisenmanagement zum Auftakt zeigte sich US-Präsident Barack Obama am Dienstag (Ortszeit) letztlich versöhnlich: »Ich bin zuversichtlich, dass sie (die Europäer) diese Prüfungen bestehen können. Wenn die Leute ein Gefühl dafür haben, wohin es geht, kann das Vertrauen schaffen.«

Wenig Vertrauen in die Zusagen der G20, im Kampf gegen den Hunger aktiver zu werden, haben Nichtregierungsorganisationen. Christina Weller von der katholischen britischen Entwicklungsorganisation CAFOD bescheinigte den G20 »einen Mangel an konkretem Engagement und einen noch größeren Mangel an Taten«. Die Aktivisten beklagten auch, dass die Probleme mit Agrosprit als Treiber von Nahrungsmittelpreisen ausgeklammert worden seien.

Rund eine Milliarde Menschen hungern heute schon. Mehr als Appelle, die Produktion von Nahrungsmitteln erheblich auszuweiten, baben die G20-Staaten nicht zu bieten - der Zugang zu Boden wie Verteilungsfragen generell bleiben ausgeklammert. Mehr als die Hälfte der Ärmsten der Welt lebt in G20-Ländern, da dort auch Indien und China vertreten sind. Doch für Armutsbekämpfung wurden keine neuen Finanzmittel zugesagt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. Juni 2012

G20 verspielen Kredit

Von Martin Ling **

Der Schock ist vergessen, die Strukturprobleme bleiben unangetastet. Kurz nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 konnte man bei den G20-Gipfeln 2009 in London und Pittsburgh halbwegs den Eindruck gewinnen, dass die Staats- und Regierungschefs gemeinsam an einer Bändigung der außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte arbeiten. »Kein Akteur, kein Produkt, kein Markt« sollte künftig mehr ohne Aufsicht sein. Doch das kurze Zeitfenster, als die Weltwirtschaft durch den drohenden Zusammenbruch der Finanzmärkte direkt vor dem Abgrund stand, ist längst wieder geschlossen. Statt gemeinsam die Wirtschaftspolitik zu koordinieren und die Finanzmärkte zu reregulieren, obsiegen nationalstaatliche Interessen ohne Rücksicht auf Verluste - ob auf den Finanzmärkten oder im Handel.

Es ist frech, dass sich die G20 im mexikanischen Los Cabos »tief besorgt über zunehmende Fälle von Protektionismus rund um den Globus« zeigen, wobei eine gerade vorgelegte Studie der unabhängigen Wissenschaftlergruppe »Global Trade Alert« den Nachweis erbracht hat, dass seit Krisenbeginn ausgerechnet die G20 die meisten Handelsbarrieren errichtet haben. Die G20 sind gerade dabei, den Kredit zu verspielen, den sie sich unmittelbar nach Krisenbeginn durch eine größtenteils abgestimmte Feuerwehrpolitik erworben haben. Inzwischen spielen die G20 mit dem Feuer: Die Gefahr, dass sich die Eurokrise zum globalen Flächenbrand entwickelt, ist nach Los Cabos nicht ansatzweise gebannt.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. Juni 2012 (Kommentar)


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