Europäisches Sozialforum in Florenz - ein anderes Europa ist möglich!
Von Matthias Jochheim (IPPNW)
Es fällt nicht leicht, über einen Kongreß zu berichten, an dem 60.000 Menschen
teilnahmen, die in über 400 Veranstaltungen und Versammlungen den Referaten und
Reden lauschten, und an den Diskussionen partizipierten. Und bei dem es um so
unterschiedliche Themen wie z.B. die Bekämpfung der Steuerflucht und der
Steueroasen, die Rolle Europas bei einem Krieg gegen den Irak, oder die
Bürgerrechte von Immigranten ging. Gewerkschafter, StudentInnen, Trotzkisten,
Basis-Christen, Pazifisten und selbst auch Esoteriker waren hier
zusammengekommen. Das Ereignis hatte auch den Charakter eines riesigen
Jahrmarkts der Ideen, der politischen Phantasie und der unterschiedlichsten
Projekte. War ich zunächst verwirrt von der Vielfalt und scheinbaren
Unübersichtlichkeit, so erreichte mich aber im Laufe der drei Tage, die wir in
der wunderschönen toskanischen Stadt verbrachten, die Begeisterung, die Euphorie
über ein außerordentliches Ereignis, das bei der Abschlußversammlung als eine
weitere historische Initialzündung für eine neue, machtvolle und von Beginn an
internationale Bewegung gefeiert wurde. Eine Bewegung, die unseren
Gesellschaften neue Entwicklungschancen hin zu einer besseren Zukunft eröffnen
kann. "Eine andere Welt ist möglich", diese Chance erschien greifbar im Konsens
der großen Versammlung: gegen eine Globalierung, die soziale Rechte immer weiter
abbaut, die Menschen dem "Terror der Ökonomie" eines entfesselten Kapitalismus
ausliefert. Gegen die zunehmende Tendenz, die politische und wirtschaftliche
Krise durch antidemokratische und rassistische Maßnahmen zur Machtabsicherung zu
beantworten. Und besonders, wohl das aktuell wichtigste Thema: gegen die
Globalisierung der bewaffneten Gewalt, gegen den unmittelbar drohenden
Irak-Krieg, der als weiterer Eskalationsschritt hin zu einem unbegrenzten, einem
permanenten globalen Kriegszustand analysiert wurde.
Wie der Name schon sagt: dies war ein internationales Forum mit auch sehr
unterschiedlichen Akteuren. Fausto Bertinotti, Vorsitzender der italienischen
"Rifundazione Communista", betonte die Bedeutung des Pluralismus in dieser neuen
Bewegung, und zeigte, dass offenbar die italienischen Kommunisten einiges dazu
gelernt haben: politische Parteien, so sein Votum, sollten in dieser Bewegung
mitwirken, aber ohne jeden Hegemonie-Anspruch.
Der Pluralismus wurde aber nicht zur Beliebigkeit: der große Konsens der sich
formierenden neuen Bewegung zielt auf eine Demokratie, die sich nicht in
Parlamentswahlen erschöpft, sondern direkte Partizipation der Bürger bei der
Gestaltung der Gesellschaft essenziell einbezieht; die den schonenden Umgang mit
den natürlichen Ressourcen endlich nachhaltig organisiert; und die vor allem den
kriegerischen "Rückfall in barbarische Staatsformen" verhindert, und eine
friedliche Welt ermöglicht. Denn, wie Rosanna Rossanda, die große alte Dame der
italienischen linken Publizistik konstatierte: "Wenn es eine sichere Methode
gibt, den Terrorismus zu verschärfen, ist es der Krieg". Sie trug auch die für
mich prägnanteste Definition der europäischen Rolle gegenüber den USA in der
gegenwärtigen Lage vor: es gehe jetzt auch darum, dass die US-Machtelite ihr
soziales und wirtschaftliches Modell ebenso wie ihre Kriegs- Strategie nach
Europa exportieren wolle. Demgegenüber werde die Verteidigung von sozialen und
Menschenrechten "nicht vom Himmel fallen". "Die große Neuheit ist aber, dass wir
nun (als Bewegung) die Politik in die Hand nehmen."
Das Europäische Sozialforum war nicht exclusiv und eurozentristisch; es wurde
die besondere Bedeutung der europäischen Entwicklungen auch für die
afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Nationen betont, z.B. die
Frage, ob aus Europa ein relevanter Widerstand und politisch wirksame
Alternativen zur rücksichtslosen Privatisierung, Deregulierung, Kapitalisierung
aller Lebensbereiche erwachsen kann.
Ein Faktor, warum dieses Forum so ermutigend auf seine Teilnehmer wirkte, war
die Dominanz der Jugend. Dies zeigte sich erst recht bei der großen
Demonstration am 9.11., die in erster Linie eine Friedensdemonstrastion gegen
den angedrohten Irak-Krieg war. 200.000 Demonstranten waren erwartet worden, es
kamen aber zwischen 500.000 (Poilzeiangaben) und 1.000.000 (Schätzung der
Organisatoren). Eine absolut friedliche, schier ozeanische Menge von fröhlichen,
musizierenden, tanzenden, und eben vor allem jungen Menschen bewegte sich durch
die Stadt. Vorher hatte die Berlusconi-Regierung Horror-Szenarien über den zu
erwartenden Einfall marodierender Horden entworfen, was eine Reihe von
Ladenbesitzern zum Bretter-Schutz ihrer Schaufenster veranlasste. Nun aber, im
Angesicht der friedlichen und fröhlichen Massen, winkten viele Anwohner den
Demonstranten zu, ließen improvisierte Transparente oder auch einfach weiße
Friedens-Tücher aus ihren Fenstern flattern. Die Marschierenden winkten zurück,
und riefen ihren Dank, dem wir deutschen Teilnehmer uns aus vollem Herzen
anschließen: "Grazie, Firenze!"
Nachtrag: Inzwischen ist die italienische Regierung zum Gegenangriff übergegangen:
19 italienische Aktivisten der globalisierungskritischen Bewegung wurden vor ein
paar Tagen festgenommen, weil sie gegen die Verfassung arbeiten würden!
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