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Die große Depression

Von Immanuel Wallerstein *



Die neue Weltwirtschaftskrise ist da. Zwar gibt es immer noch Journalisten, die Ökonomen ganz schüchtern fragen, ob es zu einem Konjunkturabschwung kommen könnte. Hören Sie gar nicht hin. Denn was wir tatsächlich erleben, ist schon der Beginn einer ausgewachsenen Weltwirtschaftskrise, die fast überall mit massiver Arbeitslosigkeit einhergehen wird. Vielleicht wächst sie sich zu einer nominellen Deflation im klassischen Sinne aus, mit den bekannten schlimmen Folgen für jedermann. Vielleicht, wenngleich weniger wahrscheinlich, kommt es aber auch zu einer unkontrollierten Inflation. Das wäre lediglich eine andere Form der Vermögensentwertung, die die einfachen Leute sogar noch schlimmer schädigen würde.

Natürlich treibt jedermann die Frage um, was diese Krise ausgelöst hat. Sind es die Derivate, die Warren Buffett als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnete? Oder sind es die subprime mortgages, die zweitklassigen Hypotheken? Oder die Ölspekulanten? Doch das ist ein Spiel mit Schuldzuweisungen, auf dessen Ergebnis es nicht wirklich ankommt. Fernand Braudel nannte so etwas, sich auf den Staub kurzlebiger Ereignisse zu konzentrieren. Wenn wir wirklich begreifen wollen, was jetzt passiert, müssen wir zwei andere Temporalien ins Auge fassen, die weit aufschlussreicher sind, nämlich zum einen die mittelfristigen Schwankungen der Konjunkturzyklen, zum anderen die langfristigen strukturellen Trends.

Die kapitalistische Weltwirtschaft kennt seit mehreren hundert Jahren zwei Hauptformen konjunktureller Schwankungen. Einmal die sogenannten Kondratjew-Zyklen, die im Verlauf der Geschichte jeweils etwa 50 bis 60 Jahre dauerten. Zum anderen handelt es sich um die Hegemonialzyklen, die viel länger anhalten.

Zwei Hauptformen konjunktureller Schwankungen

Im Hinblick auf die Hegemonialzyklen ist festzustellen, dass die Vereinigten Staaten bereits 1873 zu jenen Mächten gehörten, die nach Vorherrschaft strebten; 1945 erlangten sie eine voll ausgebildete Hegemonialstellung, während sie sich seit den 70er Jahren in einem allmählichen Niedergang befinden.

Die Torheiten des George W. Bush haben diesen allmählichen Niedergang absturzartig beschleunigt. Mittlerweile gibt es nicht einmal mehr den Anschein einer Hegemonialstellung der USA. Wir sind vielmehr in die Normalität einer multipolaren Welt eingetreten. Die Vereinigten Staaten bleiben eine starke Macht, vielleicht immer noch die stärkste, aber in den nächsten Jahrzehnten werden sie, verglichen mit anderen Mächten, weiter absteigen. Niemand kann daran viel ändern.

Die Kondratjew-Zyklen folgen anderen Zeitmustern. 1945 ließ die Welt die bislang letzte Kondratjew-B-Phase hinter sich, um danach die stärkste A-Phasen-Aufwärtsbewegung in der Geschichte des modernen Weltsystems zu verzeichnen. Ihren Höhepunkt erreichte sie etwa 1967-73, um danach den Abstieg anzutreten. Diese B-Phase hat viel länger angehalten als frühere B-Phasen, ja wir befinden uns bis heute in ihr.

Sinkende Profitraten

Die Eigenschaften einer Kondratjew-B-Phase sind wohlbekannt und entsprechen dem, was die Weltwirtschaft seit den 70er Jahren kennzeichnet. Im produktiven Bereich sinken die Profitraten, besonders in solchen Produktionszweigen, die zuvor am profitabelsten waren. Folglich wenden sich Kapitalisten, die ein Höchstmaß an Profit erzielen wollen, der Finanzarena zu, und zwar hauptsächlich spekulativen Geschäften. Wer sich weiter im produktiven Bereich betätigt, neigt dazu – damit diese Aktivitäten nicht zu unprofitabel werden – aus den Zentren des Weltsystems in andere Zonen abzuwandern und günstige Transaktionskosten gegen niedrigere Personalkosten einzutauschen. Deshalb sind aus Detroit, Essen und Nagoya Arbeitsplätze verschwunden, während in China, Indien und Brasilien neue Fabriken entstanden.

Was die Spekulationsblasen betrifft, so verdient stets eine Handvoll Leute eine Menge Geld an ihnen. Aber solche Blasen platzen immer, früher oder später. Und warum hat die gegenwärtige Kondratjew-B-Phase derart lange angehalten? Nun, weil die höheren Mächte – das US-Finanzministerium, die Federal Reserve Bank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und ihre Partner in Westeuropa und Japan – regelmäßig und wirkungsvoll in das Marktgeschehen eingegriffen haben, um die Weltwirtschaft zu stützen. Das war beim Börsensturz von 1987 so, 1989 bei der Sparkassenkrise, 1997 beim Finanzcrash in Ostasien wie auch 1998 beim Missmanagement bei Long-Term Capital Management und 2001-2002 im Fall Enron. Diese Institutionen hatten ihre Lektionen aus früheren Kondratjew-B-Phasen gelernt und dachten, sie hätten das System im Griff. Doch Stützungsmaßnahmen wie die genannten stoßen an systemimmanente Grenzen. Und diese haben wir, wie Henry Paulson und Ben Bernanke zu ihrem Ärger und wahrscheinlich auch zu ihrer Verblüffung erfahren müssen, jetzt erreicht. Diesmal wird es nicht so leicht, wahrscheinlich sogar unmöglich sein, das Schlimmste zu verhüten.

Früher gelang es der Weltwirtschaft nach den Verwüstungen der Krise auf der Grundlage technischer Neuerungen, die eine Zeit lang quasi monopolisiert werden konnten, wieder in Fahrt zu kommen. Von dieser Erfahrung gehen die Leute aus, wenn sie meinen, die Aktienmärkte würden schon wieder aufblühen wie früher auch, nachdem überall in der Welt so viele Menschen zu Schaden kamen. Möglicherweise kommt es, in einigen Jahren, wirklich wieder so.

Aus dem Gleichgewicht

Diesmal gibt es allerdings etwas Neues, das diesem hübschen Zyklus-Muster, nach dem das kapitalistische System gut 500 Jahre funktioniert hat, in die Quere kommen könnte. Strukturelle Trends könnten die zyklischen Muster beeinträchtigen. Die strukturellen Grundeigenschaften des Kapitalismus als Weltsystem schlagen sich in bestimmten Regeln nieder, die sich in einem Schaubild als aufsteigendes Gleichgewicht darstellen lassen. Das Problem besteht – wie bei sämtlichen strukturellen Gleichgewichten in allen Systemen – darin, dass sich die Verlaufskurven mit der Zeit weit vom Gleichgewichtszustand entfernen und es unmöglich wird, diesen wiederherzustellen.

Was hat das System dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht? Kurz gesagt die Tatsache, dass im Laufe von 500 Jahren die drei wesentlichen Kostenfaktoren der kapitalistischen Produktion – Personal, Inputs und Besteuerung – in ihrem prozentualen Verhältnis zu den erzielbaren Verkaufserlösen stetig zugenommen haben. Diese Entwicklung hat ein Stadium erreicht, in welchem sich jene durch eine quasi-monopolistische Produktion erreichten Profitraten, die stets als Grundlage relevanter Kapitalakkumulation gedient haben, nicht mehr erzielen lassen. Das liegt nicht etwa daran, dass der Kapitalismus nicht mehr das leistet, was er am besten kann. Nein, eben weil er darin so gut war, hat er letztendlich selbst die Grundlagen weiterer Akkumulation untergraben. Das Ringen um ein neues System

Was geschieht, wenn wir diesen Punkt erreichen? Das System gabelt sich (in der Sprache der Komplexitätsforschung ausgedrückt). Die unmittelbare Folge besteht in hochgradig chaotischen Turbulenzen, wie sie unser Weltsystem gegenwärtig durchmacht – und vielleicht weitere 20 bis 50 Jahre lang wird ertragen müssen. Während alle zunächst auseinanderstreben und ein jeder in die Richtung drängt, von der er sich selbst kurzfristig das Beste verspricht, wird sich aus dem Chaos heraus – auf ein oder zwei alternativen, höchst unterschiedlichen Entwicklungspfaden – eine neue Ordnung bilden.

Wir können zuversichtlich davon ausgehen, dass das gegenwärtige System keine Zukunft hat. Doch welche neue Ordnung als Ersatz ausgewählt werden wird, können wir nicht voraussagen, denn diese Entscheidung erwächst aus dem Gegeneinander einer unendlichen Vielzahl von Einzelbestrebungen. Früher oder später aber wird ein neues System installiert. Das wird kein kapitalistisches System sein. Es wird jedoch möglicherweise weitaus schlimmer (noch polarisierender und noch hierarchischer) oder auch viel besser (nämlich relativ demokratisch, relativ egalitär) sein als ein solches. Das Ringen um die Auswahl eines neuen Systems ist jetzt die wichtigste, weltweit ausgetragene Auseinandersetzung unserer Zeit.

Was unsere kurzfristigen Aussichten betrifft, so liegt auf der Hand, was sich überall abspielen wird. Wir sind in eine protektionistische Welt eingetreten (die sogenannte Globalisierung kann man getrost vergessen). Wir haben es jetzt mit einer Situation zu tun, in der der Staat viel tiefer und unmittelbarer in die Produktion eingreifen wird als bisher. Selbst die Vereinigten Staaten und Großbritannien gehen zu Teilverstaatlichungen der Banken und der sterbenden Großindustrien über. Wir stehen vor populistischen Umverteilungsmaßnahmen staatlicherseits, die links von der Mitte angesiedelte, sozialdemokratische Formen oder stark rechtslastige, autoritäre Formen annehmen können. Und wir stehen vor scharfen innerstaatlichen Sozialkonflikten, da alle miteinander über ihren Anteil an dem kleiner gewordenen Kuchen streiten werden. Die nächste Zukunft bietet also im Großen und Ganzen kein sonderlich schönes Bild.

* Immanuel Wallerstein, geb. 1930 in New York; PhD, Professor em. für Soziologie an der Yale University


Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2008, S. 5-7

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