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Politik ist nicht alternativlos

Elmar Altvater und Raul Zelik haben die Utopie vermessen – Das latent Neue im Alten

Von Alexander Amberger *

Seit einigen Wochen beteiligen sich das ND und die Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Diskussion über das Parteiprogramm der LINKEN. Dabei geht es darum, wie eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft herbeigeführt und ausgestaltet werden kann. Dem gleichen Thema widmet sich das Protokoll eines langen Dialoges zwischen dem Lateinamerika-Experten Raul Zelik und dem marxistischen Politökonomen Elmar Altvater. Unter Utopie verstehen die beiden Autoren das Denken nach vorn, über den geschichtlichen Tellerrand hinaus, wie auch der Untertitel »Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft« verdeutlicht. ND-Probeabo

Ihre Utopie fußt in der Gegenwart, weshalb zunächst diese analysiert wird. Dabei werden die potenziellen Hemmnisse einer sozialistischen Transformation herausgearbeitet und Mittel und Wege skizziert. Es wird betont, dass Politik nicht alternativlos ist, wie von den Herrschenden gern behauptet wird. Vielmehr bestehe sehr wohl politischer Spielraum. Die Autoren stellen aber fest, dass dieser zur Zeit von den neoliberalen Eliten besetzt ist, die ihre Hegemonie in den letzten Jahrzehnten national und international institutionalisiert haben, z. B. in den EU-Verträgen. Eine linke Politik, selbst wenn sie in Regierungsverantwortung ist, müsse sich deshalb den neoliberalen Realitäten stellen. Sie müsse innerhalb des Systems agieren und trotzdem dessen Überwindung anstreben, also Nah- und Fernziele aufeinander abstimmen.

Die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens beschrieb schon Ernst Bloch. Es heißt bei ihm, dass ein bloßes utopisches Fernziel ohne Nahziele und die praktische Arbeit »in des Teufels Wirtshaus … null und nichtig, ein bloßer Schmarrn in abstraktester Ferne« ist. Wenn man aber nur Nahziele habe – also nur die politische Verwaltung des neoliberalen Status quo praktiziere – und diese nicht mit einem (sozialistischen) Fernziel verknüpfe, dann sei dies gar nichts, denn: »Es gibt keine Stufen, es gibt keine Sprossen außerhalb und unabhängig von einer Leiter.«

Nach diesem Prinzip versuchen auch Altvater und Zelik ihre Utopie prozesshaft und realisierbar zu gestalten. Altvater zeichnet die Krise des Kapitalismus verständlich nach. Zelik betont, dass es sich um mehrere Krisen zugleich handele: Zur Finanz- kommen Wirtschafts-, Klima- und Welthungerkrise. All dies bringe den Kapitalismus immer mehr in Bedrängnis. Altvater plädiert dafür, die Krisen und den Kapitalismus zugleich zu bekämpfen. Ein zukünftiger Sozialismus müsse im Hier und Heute, im Kapitalismus seinen Ursprung haben.

Die Autoren sehen die Utopie als Projekt, als Phase, in der das Alte noch existiert, das Neue aber latent vorhanden ist. Alt und Neu werden dialektisch in der noch offenen Zukunft aufgehoben. Das Neue müsse allerdings erkämpft werden, es komme nicht von selbst. Mit Marx formuliert: Der Mensch macht seine Geschichte immer noch selbst.

Für die Autoren kann und soll es aber auch kein Zurück zum Realsozialismus sowjetischen Typs geben. Dieser sei gescheitert, da er die menschliche Emanzipation nicht verwirklicht habe. Allerdings weist Altvater darauf hin, dass dieses System nicht so homogen und starr war, wie heute gern unterstellt wird. In den ersten Jahrzehnten habe es vielmehr eine erstaunliche Dynamik an den Tag gelegt und den westlichen Kapitalismus dabei ernsthaft in Bedrängnis gebracht. Erst 1968 wurden die Weichen endgültig gestellt: Der Westen band die subversiven Potenziale reformatorisch in das System ein, im Osten hingegen wurde der Prager Frühling, und mit ihm die Chance auf einen Erneuerungsschub, niedergeschlagen.

Wegen dieser (Lebens-) Erfahrung hält der Achtundsechziger Altvater auch die Überwindung des Kapitalismus durch Reformen für machbar. Zelik ergänzt, dass ein revolutionärer Gestus, wie ihn z. B. Hugo Chávez an den Tag lege, den reformatorischen Prozess unterstütze. Andererseits zeige Venezuela auch die Größe der Hindernisse für eine demokratische Transformation auf, denn obwohl die Regierung breite Teile der Bevölkerung hinter sich wisse, sei der Kampf gegen die etablierte alte Elite enorm schwer. Deshalb sei dort bisher auch noch keine andere Gesellschaft entstanden, sondern es konnte »nur« mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden.

Aus der Analyse des Bestehenden leiten Altvater und Zelik schließlich ihre eigene Utopie ab. Diese wird demnach reguliert sein müssen, um die Widersprüche zwischen Mensch und Natur in den Griff zu bekommen. Sie wird auch nicht konfliktfrei und statisch sein können, denn erst eine breite Diskussion setze emanzipatorische Potenziale frei. Es müsse eine Kombination von Marktmechanismen und Wirtschaftsplanung geben und das Eigentum auf viele Schultern verteilt werden.

Eine anregende Lektüre, nicht nur für die momentane Programmfindung der LINKEN.

Raul Zelik/Elmar Altvater: Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Blumenbar, München. 208 S., geb., 14,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2010


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