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"Europa darf nicht den Irrweg forcierter militärischer Aufrüstung gehen"

Rede von Jürgen Peters, Erster Vorsitzender der IG Metall, am 3. April in Köln

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters auf der Großkundgebung gegen Sozialabbau am 3. April in Köln gehalten hat.


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

Hunderttausende sind heute auf der Strasse, auf den Marktplätzen. In Deutschland! In Europa! Eine breite Bürgerbewegung! Eine Bürgerbewegung für eine solidarische Erneuerung unseres Landes. Eine Bürgerbewegung für ein soziales und gerechtes Europa!

Unsere Botschaft: Es reicht!
Wir haben genug von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, von stagnierenden Löhnen und explodierenden Managergehältern!
Und wir haben die Nase voll von angeblichen Reformen, die wir bezahlen und die den anderen nutzen!

Seit Jahren die gleiche Leier:
Es muss erst schlechter werden, damit es besser werden kann! Erst müssen wir durch ein Tal der Tränen, damit dann wieder die Sonne scheint!
So ein Blödsinn!
Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird Politik nach dieser Melodie gemacht.
Die Folgen:
  • Weniger Arbeitslosengeld!
  • Jetzt Eintrittsgeld beim Arzt!
  • Steigende Zuzahlung bei Medikamenten!
  • Einschnitte bei der Rente!
Und auf der anderen Seite:
  • Steuerentlastungen in Milliardenhöhe.
  • Kürzung betrieblicher Sozialleistungen.
  • Und Abbau von Arbeitnehmerrechten.
Die Managergehälter explodieren, auch wenn die Betriebe am Boden liegen.

Ja, Kolleginnen und Kollegen, so denken sich das Einige: Für uns die Tränen und für die anderen den Sonnenschein. Sie predigen Wasser und saufen selbst den Wein. Nicht mit uns!
Es muss endlich Schluss sein mit einer Politik,
  • die Arbeitslose abstraft statt Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
  • die den Sozialstaat demontiert statt den sozial Schwachen unter die Arme zu greifen
  • und die Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte attackiert statt die wirklichen Reformbremser zu benennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde.

Diese Politik ist nicht nur sozial ungerecht. Sie ist auch wirtschaftlich unsinnig. Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt! Über 4 Millionen Menschen sind arbeitslos gemeldet, gut 7 Millionen suchen einen Arbeitsplatz. 7 Millionen Menschen, die arbeiten wollen, denen man bezahlte Arbeit verweigert! Europaweit sind es über 14 Millionen Menschen. Immer weniger Jugendliche finden einen Ausbildungsplatz! In Deutschland wie in anderen Ländern der Europäischen Union. Die Schere zwischen Arm und Reich reißt immer weiter auseinander! Viele Arbeitslose, Kranke, Alleinerziehende und kinderreiche Familien wissen kaum mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.

Und eine kleine Schicht von Super-Reichen weiß nicht wohin mit den Millionen, die sie durch Steuerprivilegien, Aktiengewinnen oder Vermögenszinsen kassieren.

Der Staat kürzt soziale Leistungen und öffentliche Investitionen, um zu sparen. Aber Stagnation und Arbeitslosigkeit reißen immer größerer Löcher in die öffentlichen Haushalte. Und in Kindergärten, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser zieht’s durch alle Ritzen und regnet es durch die Decke.

Kolleginnen und Kollegen,
Freundinnen und Freunde.

Das ist doch Irrsinn. Damit muss Schluss sein. Diese Politik löst keine Probleme, sie verschärft sie. Sie führt Wirtschaft und Gesellschaft nicht aus der Krise heraus, sondern weiter hinein.

Wir erwarten, ja wir verlangen: Macht endlich Schluss mit dieser Politik!

Ja, auch wir wollen Veränderungen. Aber nach vorne und nicht zurück in den ungezügelten Frühkapitalismus des 19 Jahrhunderts. Wir wollen Reformen, die den Namen verdienen. Reformen heißen Reformen, wenn es besser wird! Reformen müssen die Sorgen und Ängste der Menschen aufgreifen und Lösungen anbieten. Lösungen, die gerecht sind und an der sich alle gesellschaftlichen Gruppen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beteiligen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

wir brauchen eine Perspektive für eine solidarische und soziale Zukunft. In Deutschland und Europa! Im Zentrum einer solchen Politik muss die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stehen. Wir brauchen mehr Beschäftigung, wir brauchen mehr Arbeitsplätze!
Arbeitsplätze
  • mit Einkommen, die zum Leben reichen;
  • mit Arbeitnehmerrechten
  • und mit sozialem Schutz.
  • Arbeitsplätze, an denen die Menschen ihr Wissen und ihre Kreativität einbringen können.
Ungeschützte Dienstbotenjobs mit Mini-Löhnen, ohne tariflichen und sozialen Schutz und ohne Perspektive sind der falsche Weg. Wir wollen Arbeit mit Einkommen, mit denen die Menschen auch auskommen. Wir wollen Arbeit, die die Würde der Menschen achtet. Das sind wir dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes schuldig, und alle Male den betroffenen Menschen! Das rufen wir Rot-Grün zu!

Aber das gilt noch mehr in Richtung Opposition und Arbeitgeberlager. Wir haben die Agenda 2010 mit klaren Worten kritisiert. Weil sie
  • die Konjunktur bremst
  • die soziale Schieflage verschärft
  • und die Gesellschaft spaltet.
Aber was uns da von dieser unheiligen Allianz aus Arbeitgebern und CDU/CSU und FDP aufgetischt wird, das übertrifft alle Befürchtungen. Das ist kein Irrweg, dass ist ein Amoklauf. Ein Amoklauf gegen den Sozialstaat, gegen die Gewerkschaften, gegen die sozial Schwachen.

Aus diesen Konzepten spricht kein Mut für eine bessere Zukunft, jedenfalls nicht für uns. Daraus spricht marktradikaler Fundamentalismus in Reinkultur. Ideologisch verbohrt und den Reichen und Einflussreichen zu Diensten.

Da soll die Tarifautonomie ausgehebelt, der Kündigungsschutz kassiert, Leistungen für Arbeitslose noch weiter abgesenkt und die Vergütungen für Auszubildende gesetzlich herab gesetzt werden. Und was dem Fass den Boden ausschlägt: Was den Millionären an Steuern geschenkt wird, soll wieder rein geholt werden bei Pendlern und Schichtarbeitern, beim Fernfahrer und bei der Krankenschwester.

Das sind die Zukunftsvisionen von Westerwelle, Stoiber, Merz und Merkel. Kein Wunder: Das findet den ungeteilten Beifall und die tatkräftige Unterstützung von Rogowski, Hundt und Co. Kein Argument ist zu blöd, und keine Maßnahme zu absurd, um sie nicht auf die Tagesordnung zu setzen. Hier erlebt der marktradikale Fundamentalismus eine Sternstunde.

Ja, Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

es ist nur noch mit ideologischer Verblendung zu erklären, wenn angesichts von 7 Millionen Arbeitssuchenden allgemeine Arbeitszeitverlängerung propagiert wird. Ob im Öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft, ob in Bayern oder anderswo in der Republik. Dabei sagt uns nicht nur der wirtschaftliche Sachverstand, sondern bereits der gesunde Menschenverstand: Wenn die Arbeitszeiten der Beschäftigten ausgeweitet werden, sinken die Arbeitsplatzchancen derer, die vor den Büros und Werkshallen stehen.

Damit werden ihnen keine Türen in die Erwerbsarbeit geöffnet. Im Gegenteil: damit werden ihnen die Chancen auf einen Arbeitsplatz zusätzlich verbaut. Und das können wir nicht , das wollen wir nicht, das werden wir nicht mitmachen! Wir kritisieren nicht die Unvernunft der Agenda 2010, um diesem Frontalangriff gegen den Sozialstaat einfach hinzunehmen. Wir wollen den Belzebub austreiben und nicht mit dem Teufel einen Pakt schließen.

Wir wollen eine Politik für die Mehrheit der Bevölkerung.
Wir wollen eine Politik die sich dem Volke verpflichtet fühlt und nicht kleinen Eliten.
Ich sage dies auch an die Adresse des Kandidaten, den FDP und Union in das höchste deutsche Amt wählen wollen. Wir brauchen keinen Bundespräsidenten, der einseitig Partei ergreift. Wir brauchen keinen Bundespräsidenten, der eine Arbeitszeitverlängerung lauthals begrüßt, aber nicht einmal an die denkt, die Arbeit suchen.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

Damit ich nicht missverstanden werde: Wir wollen keinen Bundespräsidenten der Gewerkschaften. Aber auch keinen irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe oder politischen Partei. Wir wollen einen Bundespräsidenten, der die gesamte Gesellschaft repräsentiert. Innovativ und - für meinethalben - streitbar, aber unabhängig und fair. Und deshalb sage ich: Herr Köhler, sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie die Macht des Geldes repräsentieren oder die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes? Eines ist gewiss: Ein Bundespräsident, der sich auf die Seite der Mächtigen und Reichen schlägt, wird niemals einer der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

wir brauchen einen grundlegenden Wechsel in der Politik, wir brauchen mehr Beschäftigung, mehr Arbeit. Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit. Wir haben Alternativen aufgezeigt. Statt arbeitsplatzvernichtender Arbeitszeitverlängerung wollen wir beschäftigungsfördernde Investitionen. In Kindergärten, Schulen und Universitäten, in Krankenhäusern und dem öffentlichen Nahverkehr. Das setzt an den wirklichen Bedarfen der Menschen an, das schafft Arbeitsplätze und steigert den Lebensstandard. Das sind Investitionen in die Zukunft.

Wir brauchen eine bildungspolitische Initiative. Die PISA-Studie hat gezeigt: In der Bildungspolitik ist längst die Klassenspaltung vergangener Jahre zurück gekehrt. In keinem hochentwickelten Land hängen Bildungschancen so stark von der sozialen Herkunft der Menschen ab wie in Deutschland. Bildung droht wieder zum Privileg gesellschaftlicher Eliten zu werden. Das ist der Skandal.
Und deshalb sage ich: Wir brauchen keine Elite-Uni’s für Wenige, sondern gute, öffentliche Bildungseinrichtungen für Alle. Redet nicht immer nur über Bildung und Wissensgesellschaft, sondern gebt den jungen Menschen endlich eine faire Chance.

Auch in der beruflichen Ausbildung. Von Jahr zu Jahr vertrösten uns Konservative, Liberale und Arbeitgebervertreter. Immer mehr wird ausgegeben für Hochglanzbroschüren, in denen über Humankapital philosophiert wird. Aber immer weniger wird in den Betrieben in Ausbildung und Weiterbildung investiert. Nichts als hohle Worte und leere Versprechungen. Damit muss jetzt Schluss sein.
Im letzten Jahr waren wieder über 35.000 junge Menschen ohne Ausbildungsplatz. Weniger als 25 % der Betriebe bilden überhaupt noch aus. Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Das heißt im Klartext: Die Unternehmen kommen ihrer Ausbildungsverpflichtung nicht nach. Sie verweigern den jungen Menschen eine berufliche Perspektive. Ein Skandal sondergleichen. Damit schädigen sie den Standort, bremsen Innovationen und das wirtschaftliche Wachstum. Uns reicht’s. Wir wollen keine weiteren Versprechungen , wir wollen endlich eine Ausbildungsplatzumlage. Wer nicht ausbildet, soll wenigstens zahlen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde.

Wir haben Alternativen, Alternativen zum perspektivlosen Sozialabbau! Wir wollen einen aktiven, einen solidarischen Staat. Wir wollen keinen liberalen Nachtwächterstaat, der die Privilegien der Reichen und Super-Reichen fördert. Wir brauchen einen aktiven Staat, der das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nimmt. Einen Staat der seine Gemeinschaftsaufgaben erfüllt.

Wir haben Vorschläge gemacht. Wieder und wieder. Wir haben JA gesagt zu einer solidarischen Gesundheitsreform. Einer Reform, die Wirtschaftlichkeitsreserven im System erschließt, und die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert. Einer Reform, die den Konflikt mit den Ärzte- und Pharmakartellen wagt, um die Leistungen für Versicherte und Kranke zu verbessern. Wir wollen eine Erwerbstätigenversicherung. Eine Sozialversicherung, in der alle versichert sind. Und in die alle entsprechend ihrer wirtschaftlichen Kraft einzahlen. In der alle füreinander einstehen. Die Jungen für die Alten, die Reichen für die Armen, die Gesunden für die Kranken.

Das ist machbar, das ist gerecht und das ist zumutbar.

Und deshalb sage ich: Wer Versicherte und Kranke abkassiert, weil er den Konflikt mit den Mächtigen im Gesundheitswesen scheut, wird auch in Zukunft auf unseren Widerstand treffen.

Aber wer rangeht an die wirklichen Probleme, wer Einkommens- und Machtprivilegien ernsthaft in Frage stellt, der wird uns an seiner Seite finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

nicht nur in Deutschland sagen immer mehr Menschen NEIN zu Deregulierung und Sozialabbau und JA zu einer solidarischen Weiterentwicklung von Gesellschaft und Sozialstaat. In vielen Ländern regt sich Widerstand. Die Menschen wollen keinen Stillstand, sie wollen eine Wende hin zum Besseren. In den Nationalstaaten und in Europa.

Auch wir wollen die europäische Einigung. Aber wir wollen kein Europa der Banken, Konzerne und Bürokraten. Wir wollen ein Europa der Menschen. Diesseits und Jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Ein Europa, dass offen ist für die Nöte seiner Menschen. Ein Europa, dass sich nicht als Wohlstandsfestung gegen den Rest der Welt abschottet.

Wir befürworten die Osterweiterung Europas. Wir sagen den Menschen, die am 1. Mai der EU beitreten: Seid uns herzlich willkommen! Wir wollen mit ihnen gemeinsam für faire Entwicklungschancen und sozialen Fortschritt , für gesicherte Arbeitnehmerrechte und verbindliche Sozialstandards in Europa kämpfen.

Doch dazu muss Europa seine Entwicklungsrichtung ändern. Die Integration von Märkten mag sinnvoll sein, aber sie kann Europa keine Identität verleihen. Nicht der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen, sondern das Wohl der Menschen gehört ins Zentrum der europäischen Entwicklung.

Dazu brauchen wir ein solidarisches Entwicklungsmodell. Ein Modell, in dem die Finanz-, Wirtschafts- und Geldpolitik Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsförderung verpflichtet ist. In dem die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und die Weiterentwicklung des Systems der Sozialen Sicherheit höchste Priorität genießen. Das steht in der Tradition des europäischen Sozialmodells, und das muss in der Europäischen Verfassung verankert werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

Europa ist unsere Zukunft. Wir wollen ein offenes, ein soziales, aber wir wollen auch ein friedliches Europa. Europa darf nicht den Irrweg forcierter militärischer Aufrüstung gehen. Uns ist das Glück vergönnt, länger als ein halbes Jahrhundert in Frieden zu leben. Wir haben historische Feindschaften überwunden und Formen friedlicher Konfliktlösung gefunden.
Deshalb: Nicht militärische Großmacht, sondern zivile Friedensmacht soll Europa sein und bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

unsere heutige Demonstration ist ein Signal. Ein Signal, gegen die neo-liberalen Irrwege und für eine solidarische Zukunft in Europa. Diese Demonstration ist eine machtvolle Bewegung aus sehr unterschiedlichen Initiativen und Organisationen. Aus Jungen und Alten. Aus Menschen unterschiedlichster Herkunft. Uns mag manches trennen, aber uns eint ein starkes Band:
Der Wille für ein besseres Europa.

Wir wollen eine Zukunft, in der Gerechtigkeit, Solidarität und Menschlichkeit auf der politischen Agenda stehen. Ich lade alle ein, mit uns gemeinsamen diesen Weg in eine bessere Zukunft zu gehen.

Quelle: www.dgb.de


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