Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

„Dann ziehen Sie doch weg!“

Deutschland ist nicht sicher: Amadeu-Antonio-Stiftung veröffentlicht Report über rechte Alltagsgewalt und ignorante Behörden

Von Sebastian Carlens *

Im Januar 2012 verhandelt das Verwaltungsgericht Chemnitz den Fall eines Asylbewerbers, der zum Opfer neofaschistischer Gewalttäter wurde. Die Richter ordnen die Abschiebung des Mannes an. Begründung: Deutschland sei offenkundig für den Asylsuchenden zu unsicher. Eine Provinzgroteske, nur ein besonders bizarres Beispiel für eine bürokratisierte Justiz? Nein: Deutsche Normalität, vielerorts. Diese und etliche weitere wahre Geschichten aus dem Alltag derjenigen, die zur Zielscheibe von Neonazis werden, hat die Amadeu-Antonio-Stiftung in ihrem neuen Report »Das Kartell der Verharmloser« gesammelt, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Die Erfahrungen eines Gastronomen, der – nur zufällig ebenfalls in Chemnitz – ein koscheres Restaurant namens »Schalom« betreibt, sind ebenso bezeichnend für die übliche Umkehr der Täter-Opfer-Rolle wie der Asylbewerber, der zu seinem eigenen Schutz abgeschoben wurde: Mehr als 40000 Euro Schaden hat der Wirt des »Schalom« bisher zu verbuchen; dazu zählen eingeschmissene Scheiben, regelmäßige Hakenkreuzschmierereien und Schweinsköpfe vor seinem Geschäft – und die Attacken nehmen kein Ende. Mittlerweile weigert sich die Versicherung, für weitere Sachschäden aufzukommen. Die Polizei konnte keinen einzigen Täter fassen. »Wenn Sie ein Unternehmen mit so einem Logo führen, müssen Sie sich über so eine Aufmerksamkeit nicht wundern«, beschied ein Beamter dem Restaurantbetreiber lapidar. Schuld sind also nicht die alten und neuen Nazis, die durch alltäglichen Terror ganze Regionen zu »national befreiten Zonen«, zu »No-Go-Areas« für Andersdenkende und -aussehende machen. Schuld sind diejenigen, die sich der rechten Hegemonie nicht unterordnen können oder wollen, die das »falsche« Aussehen, die »falsche« Religion haben. Die staatliche Ordnungsmacht, überfordert oder blind gegenüber der Gefahr von rechts, rät in solchen Situationen immer wieder zur Flucht: Eine Familie ist zur Zielscheibe neofaschistischer Gewalttäter geworden? »Dann ziehen Sie doch einfach weg!« Gelegentlich sind es auch die Polizisten selbst, die – nach einem Notruf bedrängter Menschen – einen »Türkenwitz« reißen. Oder die Neonazibande, die sich vor einem alternativen Wohnprojekt zusammengerottet hat, per Handschlag begrüßen.

Das Eingeständnis des Scheiterns der Freizügigkeit, die jedem Menschen in Deutschland durch das Grundgesetz zugesichert wird, als Konsequenz aus Neonaziterror? Über ein halbes Jahr nach der Selbstenttarnung des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU), der eine Blutspur des Terrors durch Deutschland zog, ist von den großen Vorhaben der Regierung nicht mehr viel zu spüren. »Wir alle sind gefordert zu handeln – überall dort, wo Rechtsextremisten versuchen, gesellschaftlichen Boden zu gewinnen«, hieß es in einem gemeinsamen Entschließungsantrag sämtlicher Bundestagsfraktionen vom 22. November 2011, wenige Wochen nach Auffliegen des NSU. Doch das Muster, das auf öffentliches Entsetzen über neofaschistische Straftaten folgt, gleicht sich seit vielen Jahren, und auch der Fall der NSU-Zelle scheint diesen Bahnen zu gehorchen: Als 1992 und 1993 die Asylbewerberheime brannten, in Rostock, Solingen und Mölln Menschen in den Flammen starben, zogen sich Lichterketten gegen rechte Gewalt durch das Land. Gleichzeitig nutzte die Politik die rassistischen Anschläge, um das Asylrecht de facto abzuschaffen. Als im Jahr 2000 ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt wurde, rief der damalige Kanzler Gerhard Schröder zum »Aufstand der Anständigen« auf; die Bundesregierung strengte ein NPD-Verbotsverfahren an. Ohne Erfolg: Wegen des Verdachts auf Fremdsteuerung der Nazipartei durch staatlich gedungene Einflußagenten stellte das Bundesverfassungsgericht das Verfahren im Jahr 2003 ein. Die NPD ist durch die V-Mann-Praxis der deutschen Behörden praktisch unverbietbar geworden.

Was sind die Lehren aus dem Terrorfeldzug des NSU? Initiativen gegen rechts werden mit Distanzierungserklärungen »gegen jede Form von Extremismus« schikaniert, ohne deren Unterzeichnung sie keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten. Die Reform der Sicherheitsapparate ist drauf und dran, das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten durch die Hintertür aufheben – und damit den Sumpf, aus dem der NSU entstand, geradewegs zu stärken. Zwanzig Jahre nach den Brandanschlägen von Rostock ist Deutschlands Osten heute »weiß«, beinahe migrantenfrei. Wie wird dieses Land zwanzig Jahre nach Ende des NSU aussehen?

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. August 2012


Mauer aus Ignoranz

Eine Studie zeigt, wie Rechtsextremismus von Behörden kleingeredet wird

Von Christin Odoj **


Das Bild ist düster: Im Kampf gegen Rechtsextremismus werden zivilgesellschaftliche Organisationen auch nach dem Auffliegen der Neonazi-Terrorzelle immer noch weitgehend allein gelassen.

»Dann ziehen Sie doch einfach weg.« Diesen Satz hat Politikwissenschaftlerin und Autorin Marion Kraske während ihrer Recherchen für die Studie »Das Kartell der Verharmloser«, die sie für die Amadeu Antonio Stiftung verfasste, oft genug gehört. Opfer rechter Gewalt werden, so erzählt sie, von Polizei und Behörden systematisch als die eigentlich Schuldigen dargestellt. Eindrücklich beschreibt Kraske in der Untersuchung die Geschichte des Restaurantbesitzers Uwe Dziuballa, der im sächsischen Chemnitz das koschere Restaurant »Schalom« betreibt. Seit Jahren wird seine Gaststätte mit Hakenkreuzen beschmiert, sogar ein Schweinskopf lag eines Tages vor der Tür. Die Sachschäden belaufen sich mittlerweile auf über 40 000 Euro, die Versicherung will nicht mehr zahlen, und die Täter sind immer noch nicht gefunden. Und die Behörden? Dziuballa solle sich über eine so geartete Aufmerksamkeit nicht wundern, wenn er ein derartiges Unternehmen führe, soll ein Beamter auf einen wiederholten Anruf bei der Polizei geantwortet haben. »Im Beamtenapparat fehlt es ganz eindeutig an interkultureller Kompetenz«, sagt Kraske.

Das »Schalom« ist bei weitem kein Einzelfall, wie aus der Studie hervorgeht. Die Untersuchung, für die Kraske monatelang in Deutschland unterwegs war und in der sie auch Erfahrungen aus früheren Recherchearbeiten einfließen ließ, listet zahlreiche Fälle auf, die alle ein beklemmendes Bild des alltäglichen Rassismus in Deutschland zeichnen. »Oft reagieren Behörden auf rechtsextreme Übergriffe erst, wenn sich eine Opferberatung einmischt«, erzählt Christine Büttner von »ezra«, einer mobilen Beratungsstelle aus Thüringen. In vielen ländlichen Gegenden gelten Organisationen, die sich gegen Rechts engagieren, gar als »Nestbeschmutzer«, sagt Büttner.

Im sächsischen Limbach-Oberfrohna wurde dem Verein »Soziale und politische Bildungsvereinigung« etwa unterstellt, die rechtsextremistischen Schmierereien selbst gesprüht zu haben. Trotz offensichtlicher Belagerung des Vereinsheims und Bedrohungen von Neonazis bezeichnete der örtliche Polizeichef die Lage in der sächsischen Kleinstadt als »ruhig«. Rechtsextremismus ist jedoch kein rein ostdeutsches Phänomen, wie die Studie betont. Im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld haben Neonazis ein rechtes Zentrum aufgebaut, in dem Kameradschaftsabende stattfinden, auch einer der Köpfe der »Autonomen Nationalisten« wohnt hier und betreibt einen Internet-Versand. Die Dortmunder Szene soll außerdem Kontakte zum NSU unterhalten haben. Seit ein paar Monaten gibt es nun die erste Opferberatung in ganz Nordrhein-Westfalen. »Jahrelang ist im Westen nichts passiert. Erst seit den NSU-Morden haben wir das Gefühl, wir wären auch erwünscht«, sagt Claudia Luzar, Leiterin von Back Up. Momentan sind vier Teilzeitkräfte angestellt, die aus landes- und kommunalen Mitteln finanziert werden - für ganz NRW.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 15. August 2012


Zurück zur Gewalt-Seite

Zur Seite "Rassismus, Fremdenhass, Rechtsradikalismus"

Zurück zur Homepage