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"Präsident im freien Fall"

Nach Agentenaffäre im Kosovo: Scharfe Kritik an BND-Chef Uhrlau aus den eigenen Reihen. Geheimdienst bespitzelte auch Entwicklungshelfer in Afghanistan

Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) steht nach der Affäre von drei seiner Agenten im Kosovo mit dem Rücken zur Wand. Hohe Beamte des Bundeskanzleramtes sprachen am Sonntag in Berlin vom »Präsidenten im freien Fall«. Es habe sich wieder einmal gezeigt, daß Ernst Uhrlau »seinen Laden einfach nicht im Griff« habe. Als möglicher Nachfolger ist der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche (CSU), im Gespräch.

Uhrlau werden angesichts der neuen Negativschlagzeilen über das ungeschickte Vorgehen seiner drei Agenten in der kosovarischen Hauptstadt Pristina von Insidern in der Regierung in Berlin und im Bundestag »so gut wie keine Chancen gegeben, daß er sich noch halten kann«. In dem Geheimdiensteklat mit dem Kosovo wird Uhrlau »totales Versagen« vorgeworfen.

Die höchst peinlichen Verwicklungen mit der kosovarischen Regierung hätten vermieden werden können, wenn Uhrlau »auf Posten gewesen wäre«, urteilte ein Beamter im Kanzleramt. Nachdem einer der Agenten am 14. November das durch einen Bombenanschlag beschädigte EU-Gebäude observiert hatte, wurde er von der kosovarischen Polizei in Gewahrsam genommen und erkennungsdienstlich behandelt, aber wieder freigelassen. Noch am selben Abend schickten die Agenten einen verschlüsselten Hilferuf in die Zentrale nach Berlin. Er blieb tagelang liegen. Wäre die Nachricht gelesen worden, hätte Uhrlau die drei Männer sofort zurückzubeordern können, sagte ein Geheimdienstexperte der Nachrichtenagentur ddp.

Nach Angaben mehrerer Zeitungen war Uhrlau jedoch bis zur Verhaftung seiner Agenten am 19. November nicht über die Vorgänge in Pristina informiert. Von der Verurteilung der Gruppe am 22. November zu 30 Tagen Untersuchungshaft soll das Kanzleramt erst am nächsten Tag aus den Medien erfahren haben.

Die BNDler wurden am 28. November wieder freigelassen. Die stellvertretende Außenministerin des Kosovo, Vlora Çitaku, erklärte dazu am Wochenende: »Die BND-Affäre tut uns leid«. Man könne sich aber nicht für eine Sache entschuldigen, »mit der wir nichts zu tun haben«, sagte sie der Welt am Sonntag. Den BND-Männern war zunächst vorgeworfen worden, in den Bombenanschlag verwickelt gewesen zu sein.

Unterdessen berichtet der Spiegel in seiner heutigen Ausgabe, der BND habe jahrelang ein Büro der Deutschen Welthungerhilfe in Afghanistan überwacht. Der BND habe den Entwicklungshelfern gegenüber selbst offenbart, daß er von Oktober 2005 bis April 2008 den E-Mail-Verkehr des von der Welthungerhilfe geleiteten Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) teilweise mitgelesen habe. Gegenüber der Nachrichtenagentur AP bestätigte Welthungerhilfe-Sprecherin Marion Aberle den Bericht. Der BND schrieb der Welthungerhilfe laut Spiegel, die Aktion sei »zur Erkennung und Begegnung internationaler terroristischer Anschläge« erfolgt. Mittlerweile stufe der Geheimdienst selbst die Kommunikation in dem Büro als »grundrechtlich geschützt« ein. Derzeit werde geprüft, ob die Abhöraktion rechtswidrig war.

Im Frühjahr hatten zahlreiche Politiker eine bessere Kontrolle der Geheimdienste gefordert, nachdem bekannt geworden war, daß der BND eine Spiegel-Journalistin in Afghanistan bespitzelt hatte. Bereits zu diesem Zeitpunkt war Uhrlaus Absetzung gefordert worden.

(ddp/AP/jW)

* Aus: junge Welt, 8. Dezember 2008


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