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"Sie demonstrieren bewusst, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Frieden möglich ist"

Carl–von–Ossietzky–Medaille an Bürgerkomitee des Dorfes Bil’in sowie an "Anarchisten gegen die Mauer" verliehen. Reden von Uri Avnery, Fanny Michaela Reisin u.a.

Am 7. Dezember 2008 wurde in Berlin die Carl–von–Ossietzky–Medaille 2008 verliehen.
Im Folgenden dokumentieren wir


Pressemitteilung vom 13. Oktober 2008

Das Kuratorium der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR) nominierte für die Carl–von–Ossietzky–Medaille 2008 zwei Gruppen, die wegen ihres mutigen Einsatzes für die Menschenrechte geehrt werden sollen:
  • die „Anarchisten gegen die Mauer“ aus Israel (Anarchists Against the Wall)
    http://www.awalls.org/about_aatw , http://www.awalls.org
  • das Bürgerkomitee des Dorfes Bil’in aus Palästina (Bil’in Popular Committee)
    http://www.bilin-village.org/english/, http://www.bilin-village.org/index.htm.
In der Presseerklärung der Internationalen Liga für Menschenrechte hieß es hierzu:

Am 4. Mai jährte sich zum 70. Mal der Todestag des Friedensnobelpreisträgers und Pazifisten Carl von Ossietzky, der wegen seines entschlossenen Widerstands gegen Militarismus, Krieg und Rassismus in das Konzentrationslager Sonnenburg (heute in der Stadt Slonsk in Polen) verschleppt und grausamer Folter ausgesetzt wurde. Vor diesem Hintergrund würdigt das Kuratorium die Zivilcourage der Organisationen, die - ganz im Sinne von Carl von Ossietzky – den wechselseitigen Feindseligkeiten, die in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft vorherrschen, den gemeinsamen Kampf für gemeinsame Anliegen entgegensetzen.

Die Carl–von–Ossietzky–Medaille

Carl von Ossietzky, engagierter Publizist der Weimarer Republik und Herausgeber der Zeitschrift “Weltbühne”, war seit 1920 Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte und bis 1933 ihr Vorsitzender. Als verantwortlicher Redakteur für einen die geheime Aufrüstung der Reichswehr enthüllenden Artikel wurde er 1931 wegen “Verrats militärischer Geheimnisse” zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Am Tag seines Haftantritts erklärte er: “Ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin.” Obwohl 1932 amnestiert, wurde er 1933 nach dem Reichstagsbrand wegen des gleichen Vorwurfs in Gestapo-Haft genommen. 1936 führte eine weltweite Kampagne zur Verleihung des Friedensnobelpreises an den im Konzentrationslager eingekerkerten Carl von Ossietzky. Er starb 1938 an den Folgen der in den Konzentrationslagern erlittenen Misshandlungen.
Seinem unkorrumpierbaren Geist und seinem Einsatz für Frieden und Menschenrechte fühlt sich die Internationale Liga für Menschenrechte verpflichtet. Seit 1962 verleiht sie jährlich die Carl-von-Ossietzky-Medaille an Personen und Gruppen, die sich um die Verteidigung der Menschenrechte besonders verdient gemacht haben.



Sie stehen beispielhaft für den gewaltfreien Widerstand gegen die von Israel errichtete Trennungsmauer auf palästinensischem Land sowie für Standhaftigkeit in vielfältigen Graswurzelaktionen von Palästinensern, Israelis und internationalen Unterstützerinnen und Unterstützern gegen die israelische Besatzung der Westbank und des Gazastreifens.
Sie praktizieren eine Kultur, die eine gemeinsame Zukunft ohne Ausgrenzung und Zerstörung vorwegnimmt und demonstrieren bewusst, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Frieden möglich ist.
Sie vertreten ihre Sache auch konsequent auf der internationalen Bühne: So hat das palästinensische Dorf Bil’in zwei kanadische Immobilienunternehmen vor dem Obersten Gerichtshof von Quebec wegen Beteiligung an Bauvorhaben in der Siedlung Modi’in Illit verklagt, die zu einem großen Teil auf dem Boden Bil’ins errichtet wurde.

Die Gruppen wurden von jungen Aktivisten und Aktivistinnen etwa zeitgleich gegründet:
  • Die „Anarchisten gegen die Mauer“ im Jahre 2003 als Antwort auf die israelische Errichtung der Mauer.
  • Das Bil’iner Bürgerkomitee entstand im Dezember 2004 als Reaktion auf den von Israel geplanten und inzwischen vollständig gebauten Sperrzaun, der das Dorf von 60 Prozent seiner Felder und Olivenhaine trennt.
Beide Organisationen verdanken ihre Wirkung in der Öffentlichkeit Israels und Palästinas ihrer parteipolitisch unabhängigen, selbstbestimmten, transparenten und gewaltfreien Praxis. Ihre gemeinsamen, vom Bil’iner Bürgerkomitee seit Februar 2005 ausnahmslos an jedem Freitag organisierten Demonstrationen am Sperrzaun von Bil’in, haben zur Entstehung eines breiten internationalen Solidaritäts- und Schutznetzwerks geführt. Israelische Grenzsoldaten feuern dort regelmäßig aus nächster Nähe Tränengas-, Gummi-ummantelten Stahl- und neuerdings mit Gestankgeschosse ab. Sie schrecken selbst nicht davor zurück, Demonstranten und Demonstrantinnen – zum Teil schwere – Körperverletzungen zuzufügen.

Das Kuratorium der Internationalen Liga für Menschenrechte verbindet mit der Nominierung der „Anarchisten gegen die Mauer“ sowie des „Bil’iner Bürgerkomitees“ die Überzeugung, dass die Zivilcourage, mit der sie Behinderungen und Gefahren im Interesse des gemeinsamen Engagements für eine lebenswerte Zukunft überwinden, für die universelle Verwirklichung der Ideale der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorbildlich und im Zeitalter der Globalisierung über die Grenzen Israels und Palästinas hinaus bedeutsam ist.


Ansprache von Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin)

Sehr verehrte Herren und Damen,

Am 4. Mai jährte sich zum siebzigsten Mal der Todestag Carl von Ossietzkys, jenes radikalen Pazifisten und mutigen Streiters gegen Obrigkeit und Ausgrenzung jeder Art. Er war Vorsitzender unserer Vorgänger-Liga und Herausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“ bis zum Machtantritt der Nazis in Deutschland. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes wurde Carl-von-Ossietzky mit anderen Mitgliedern des Ligavorstands festgenommen. Er starb bekanntlich unter Polizeiaufsicht in Berlin an den Folgen der Folter, die ihm erst im KZ Sonnenburg und danach in den Emsland-Lagern zugefügt worden waren.

Liebe Medaillenträger und Medaillenträgerinnen!

Wir ehren Sie heute, da Sie - ganz im Sinne Carl-von-Ossietzkys – aufgestanden sind, um hochragende Trennmauern und elektronisch aufgerüstete Trennzäune zu überwinden und gemeinsam und gewaltfrei zu kämpfen: für eine Zukunft ohne Ausgrenzung, Unterdrückung und Krieg. Diesen, Ihren mutigen und entschlossenen Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte wollen wir stärken!

Sie erwecken verschüttete Traditionen einer Jahrtausende alten Geschichte des Miteinanders unterschiedlichster Völker und vielfältiger Religionen in Palästina wieder zum Leben.

Gleichzeitig schlagen Sie ein völlig neues Kapitel dieser Geschichte auf: Das Kapitel einer Zukunft, in der das Buber’sche „Ich bin weil Du bist“ zum Allgemeingut und das Bil’iner „Ich schütze Dich, damit wir bleiben“ allgemeine Praxis sein wird.

In Israel und Palästina ist allerdings bis dahin noch viel zu tun. Zu viele Brandstellen lodern noch.

Gaza erstickt.

Drei Wochen dauert nun die vollständige Blockade der ohne schon seit Monaten belagerten Bevölkerung des Gazastreifens!
Israel gibt den Vollzug härtester Kollektivstrafen gegen die Gazaner sogar offen zu! Überdies wissen wir, dass die Bevölkerung gegen ihre demokratisch gewählte Hamasregierung aufgebracht und diese gestürzt werden soll.

Das Internationale Recht und das System der Menschenrechte verbieten beides: Sowohl Kollektivstrafen als auch die Einflussnahme auf die politische Selbstbestimmung eines Gemeinwesens.

Der Vorstand der Liga ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte empört darüber, dass die Bundesregierung durch ihr Stillschweigen die Geiselnahme von 1,5 Millionen Menschen billigt. Es müssen endlich Maßnahmen ergriffen werden, um Israel zur Einhaltung der UN-Charta, der Menschenrechte und der Humanitären Konventionen zu bewegen.

Gerade in diesen Tagen eröffnete sich eine große Chance für Bürgerinnen und Bürger Europas gegen die Blockade des Gazastreifens praktisch aktiv zu werden: Im Januar wird das Europäische Parlament über eine Erweiterung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel beraten.

Bitte nutzen Sie diese Zeit, um bei den Mitgliedern des Europäischen Parlaments die umgehende Beendigung der unmenschlichen Blockade des Gazastreifens zu fordern und endlich auch das Ende der Besatzung insgesamt.

Übrigens sollte über dieses Thema bereits am 4. Dezember der vergangenen Woche verhandelt werden – mehr oder minder heimlich hinter verschlossenen Türen. Das haben Abgeordnete der linken Fraktion unter dem Motto „Israel steht nicht über dem Recht“ (in Europa) verhindert und so einen neuen Termin möglich gemacht.

Über Parteigrenzen hinweg muss sich das Europäische Parlament jetzt an die Seite der Menschen in Gaza stellen, wie überhaupt an die Seite der Palästinenser unter Besatzung. Wir sollten unsere Europaabgeordneten umfassend unterstützen!

Angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die heute hier zur Sprache kommen werden, ist es ohnehin mehr als fragwürdig, ob bei Einhaltung der Europäischen Menschenrechtkonvention der Status Israels auf EU-Territorium aufgewertet werden kann.

Meine Damen und Herren!

Die Liga feiert den 60. Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 10. Dezember 1948 in Paris. Verfasst im Auftrage der Vereinten Nationen schreibt sie in 30 Artikeln die essentiellen Rechte fest, die jedem Menschen garantiert sein müssen, damit ein respektvolles, friedliches und würdiges Miteinander gewährleistet ist.

Und was wurde seit 1948 erreicht? Einiges gewiss! Die Grundrechte und politischen Freiheiten wurden gestärkt. Die Rechte der Frauen, der Kinder, der Minderheiten und endlich 2006 der Behinderten auch. Indes: Die Bilanz lässt weltweit viele Wünsche offen. In den 60 Jahren seit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung vermochte kein einziger Staat bisher allen 30 Artikel auf seinem Territorium rechtsverbindlich zu machen. Die G8 Staaten bilden hier bekanntlich keine Ausnahme.

Ein Blick auf unseren Kontinent und unser Land verdeutlicht dies: Tausende Tote vor den Küsten Europas sind Zeugen der bitteren und skandalösen Tatsache: Die EU und namentlich ihre legislative Kommission missachtet und verletzt systematisch alle Artikel (z. B. 6,13 und 14) der Allgemeinen Erklärung zu Flucht, Asyl und Migration. Diese schreiben doch unzweifelhaft fest: Menschenrechte sind universell und kennen keine Grenzen! Jeder Mensch hat Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson überall!

Kein Mensch ist illegal! Nirgendwo!

Erschreckende Zahlen belegen indes: Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen, ist der Kontinent versperrt. In den 20 Jahren seit 1988 wurden entlang der europäischen Grenzen 13 Tausend Tote aufgefunden. Das sind mindestens 6500 jährlich. Die große Mehrzahl der umgekommenen Flüchtlinge wurde im Mittelmeer oder im Atlantischen Ozean auf dem Weg nach Spanien ausgemacht. Nach UNO-Schätzungen müssten für jeden tot aufgefundenen Bootsflüchtling ungefähr 45 Verschollene beklagt werden. Das wären in zwei Jahrzehnten mehr als eine halbe Millionen. Niemand kennt genaue Zahlen. - Die EU setzt weiter auf Abweisung, Abschiebung und Abschreckung unerwünschter Migranten. Dabei gehört Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes und Illegalisierung der Zuwandernden zum Kalkül.

Tödliche Trennmauern und Trennzäune verunstalten schon längst auch auf dem europäischen Kontinent natürlich gewachsene Grenzlandschaften. Das Kommando beim „Grenzschutz“ und der Aussperrung von Flüchtlingen hat die Europäische Frontex-Agentur. Hiesige Flüchtlingsorganisationen werfen „Frontex“ vor, aktiv dazu beizutragen, dass Menschenrechte und Flüchtlingsschutz auf hoher See buchstäblich "untergehen".

Der vor zwei Monaten in Paris verabschiedete Europäische Pakt zu Einwanderung, hätte eigentlich zu einem "Europa des Asyls" führen sollen. Versperrte Fluchtwege, Versagung von Rettung und Schutz selbst für gefährdete Kinder und schwangere Frauen auf dem Weg nach Europa sowie die Entrechtung der Zuwanderer weisen solche Pakte als Blasphemie aus. Eine im Sinne des Systems der Menschenrechte verantwortungsbewusste europäische Flüchtlingspolitik müsste Fluchtwege freihalten und sogar schaffen, um Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, großzügig Asyl zu gewähren.

Deutschland ist in der EU keine Ausnahme, Deutschland ist in der EU die Regel! In diesem zu Ende gehenden Jahr 2008 begingen wir den 15. Todestags des im Grundgesetzt verankerten Grundrechts auf politisches Asyl, das in der Bundesrepublik Deutschland bis zum 26. Mai 1993 ohne Vorbehalt bestanden hatte. Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, wurde drastisch eingeschränkt, in ein Ausnahmerecht verwandelt und faktisch aufgegeben.

Die damalige Ligapräsidentin Alisa Fuß gab das ihr vordem verliehene Bundesverdienstkreuz postwendend an den Bundespräsidenten zurück. Selbst im Alter von 16 Jahren zur Flucht aus Nazideutschland gezwungen, war sie bitter enttäuscht über die Verwässerung des Grundgesetzes. Sie sah voraus, dass das Asylrecht als Grundrecht faktisch abgeschafft worden war. Heute wissen wir: Das Ziel, die Verringerung der Zahl der Asylsuchende wurde übererfüllt. Seit nunmehr 15 Jahre verschließt sich Deutschland dem internationalen System des Flüchtlingsschutzes und missachtet relevante, auf Flucht- und Asyl-bezogenen Menschenrechten.

Im November 1993 konnte dann nachdem das Asylrecht den Verfassungsrang verloren hatte, das – Achtung jetzt kommt ein aus vier Worten zusammengesetztes Verordnungswort –: Asyl-Bewerber-Leistung-Gesetz verabschiedet werden, das den Lebensunterhalt von Asylsuchenden und anderen Flüchtlingen regelt. Ein Sonderrecht. Es sondert die Lebensbedingungen von Flüchtlingen auf sonderbar inhumane Weise von denen anderer Menschen auf deutschem Boden aus. So gibt es z. B. in Deutschland - kaum zu fassen - zwei verschiedene Existanzeminima: Eines für Empfänger des Arbeitslosengeldes II, das – knapp genug - mit 351,-- € bemessen ist und ein zweites für Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, das mit 184,--€ die Hälfte beträgt. Das ist staatlich verordneter Rassismus! Vielfach werden Flüchtlinge in abgelegenen Lager-ähnlichen Unterkünften, Baracken oder Heimen untergebracht. Im tiefsten Wald, um sie von der Wohnbevölkerung der jeweiligen Kreisstädte abzuschirmen. Ins Land der mörderischen KZ-Welten sind Isolations- und Straflager wieder zurückgekehrt. Nicht etwa als Ausnahme oder vorübergehend, sondern vorsätzlich per Gesetz und dauerhaft verordnet: Ein institutioneller Eingriff in die Würde des Menschen.

Staatliche Politikmaßnahmen gegen Rassismus sind doch unglaubwürdig, wenn Flüchtlinge und Zuwandernde per Gesetz ihrer Würde sowie ihrer Freiheiten und Rechte beraubt werden.

Auch die Grundrechte und politischen Freiheiten werden Schritt um Schritt ausgehöhlt In diesem Jahr wurden wir mit weiteren „Schäublichkeiten“ zur Einschränkungen der Bürgerrechte bedacht. Glücklicherweise konnte vieles für’s Erste abgewehrt werden.

Mit seinem Plan, die Bundeswehr regulär als nationale Sicherheitsreserve im Inland einsetzen zu können, ist Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gescheitert. Andererseits gibt die schleichende Militarisierung der „Inneren Sicherheit“ Anlass zu schlimmsten Befürchtungen. Der Innenminister will den Einsatz der Bundeswehr. Obwohl Polizei und Militär aus historischen Gründen und nach dem Grundgesetz strikt zu trennen sind. Einen Vorgeschmack auf künftige Militäreinsätze bekamen wir bereits beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm.

Seit dem 1. Januar werden bekanntlich alle Telekommunikations- und Standortdaten, also Daten aus Festnetz- und Mobile-Telefone sowie aus Email- und Internetverbindungen, offiziell sechs Monate lang auf Vorrat gespeichert. Ohne Verdacht. Nur, um sie bei Bedarf zur Strafverfolgung abrufen zu können. Mit Hilfe der gespeicherten hochsensiblen Daten der gesamten Bevölkerung lassen sich Bewegungsprofile von Bürgern erstellen sowie alle Kontakte rekonstruieren. Wie schnell wir in solche Gefahr kommen, zeigen die Missbrauchsfälle bei der Telekom, die diese Daten, quasi als Hilfspolizei des Staates, künftig vorrätig halten muss.

Am Tag des Inkrafttretens des Gesetztes zur Daten-Vorrats-Speicherung reichten 35.000 Menschen und viele Organisationen – darunter auch die Liga – eine Verfassungsbeschwerde gegen diesen Anschlag auf die freie Kommunikation und Meinungsäußerung ein. Im Eilverfahren konnte ein erster Teilsieg errungen werden: Die Vorratsdaten dürfen immerhin nur noch zur Ermittlung besonders schwerer Straftaten benutzt werden.

Der geplante Umbau des Bundeskriminalamtes zu einem zentralen deutschen FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur so genannten Vor-Feld!-Ausforschung – inklusive Großem Spähangriff in Wohnungen – erhielt Mitte der vergangenen Woche vom Bundesrat grünes Licht. Der Innenminister musste zwar hier und dort korrigieren, die Republik nun ihr FBI.

Eine positive Wendung demgegenüber betrifft unseren vorigen Präsidenten und jetzigen Vize Rolf Gössner: Seit Mitte November wird er nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht mehr geheimdienstlich beobachtet: Eine rekordverdächtige 38jährige Überwachungsära geht zu Ende. Mit Erleichterung nahm unser Vorstand zur Kenntnis, dass die Klage Gössners und die vielen Proteste endlich diesen bundesdeutschen Dauerskandals ein Ende setzen konnten. Wir fordern, dem Betroffenen die ihm bisher widerrechtlich vorenthaltenen Geheimdienstdaten offen zu legen!

Meine Damen und Herren,

Einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise noch zum Schluss

Nach den Durstjahren der Agenda 2010, jener Schredder-Anleitung, die zur Anlockung finanzkräftiger Investoren die meisten Sozialsicherungen in Deutschland eingerissen hatte, bedachte uns die große Koalition mit dem Abbau des nationalen Schuldenbergs. Nun stehen wir mitten in der Krise und blicken angstvoll auf die drohende Rezession. Vielleicht erinnert sich mancher, an unsere dringende Mahnung auf dem Festakt der Medaillenverleihung an Madjiguène Cissé und die Kollektifs de Sans Papier vor zehn Jahren. Der Sozialstaat wurde von jenen global players als „Exzess der Demokratie“ diskreditiert. Wir riefen auf, diesen, trotz seiner Unzulänglichkeit zu verteidigen! Zehn Jahre „De-Regulierung“ und „sozialer Umbau“ fegten unzählige Errungenschaften der europäischen sozialen Bewegungen hinweg und haben die Republik entscheidend verändert. Übrig gebliebenen ist der Rest eines einmal gewesenen Sozial- und Wohlfahrtstaats – ein Torso nur noch.

Die gegenwärtige Finanzkrise hat eine Qualität und Dynamik erreicht, die ohne massive staatliche Interventionen wohl nicht einzudämmen ist. Die Regierungen müssen intervenieren und retten, was zu retten ist. Scheinbar sitzen wir wieder alle im selben Boot.

Wir aber fordern: Die Bedingungen der Rettungsmaßnahmen sind von allen, die die Rechnung bezahlen sollen, gleichberechtigt zu gestalten. Die Lösch- und Rettungsaktionen, die bisher unvorstellbare Summen aus Steuergeldern verschlingen, sind nur zu rechtfertigen, wenn EntscheidungsprozessE transparent werden und die öffentliche Kontrollen der Finanzwirtschaft auf eine Basis gestellt werden, die einer demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft angemessen ist.

Die Debatte der Neuregulierung muss deshalb eröffnet werden. Verstaatlichung und Verzicht auf Entschädigung von Bankaktionäre dürfen nicht länger Tabu-Themen sein. Artikel 56 des Vertrages von Lissabon, der politische Korrekturen des Kapitalverkehrs in der EU als Eingriff in die Freiheitsrechte rigoros verbietet, andererseits aber dem Kapital eine wesentliche Handhabe gibt, etwa Arbeitsrechte nach Gusto zu diktieren, gehört abgeschafft!

Der „Umbau“ muss auf einem demokratischen Prozess beruhen. Nur so könnte gewährleistet werden, dass die Leitlinien der Wirtschaftstätigkeit demokratisch geplant und nach sozialen Bedürfnissen beschlossen werden.

Die Welt braucht eine Gegenbewegung, die sich gleich der Graswurzelbewegung, der sich unsere diesjährigen Medaillenträger und –trägerinnen zuordnen, jenseits nationaler Grenzen assoziiert, Menschenrechtsaktivisten und –aktivistinnen, die ihre Lebensinteressen von den staatlichen Krisenverwaltern NICHT vorgeben lassen und sich jeder sozialen und ethnischen Ausgrenzung widersetzen.

Die Menschheit müsste also wieder anfangen, neu zu lernen und die verschollene Botschaft einer Hymne aus einer anderen historischen Etappe ausgraben: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.“ Wir müssen uns eben selber aus dem Elend erlösen und wir können und sollten dies auch tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Wie die Berliner Mauer!

Uri Avnery

Liebe Freunde aus Bil’in,
Liebe Anarchisten gegen die Mauer,

Ich bin es nicht gewöhnt, euch mit trocknen Augen zu begegnen. Wenn wir uns sonst getroffen haben, flossen Tränen wie Wasser.
Nicht Tränen der Trauer, nicht Tränen der Rührung. Es sind unfreiwillige Tränen, denn unsere Treffen fanden immer in einer Wolke von Tränengas statt.

Es ist schwer, in dieser ruhigen Stadt, sich die Kämpfe in Bil’in vorzustellen. Die Schreie, die Explosionen der Gasgranaten, die Salven der mit Gummi überzogenen Stahlkugeln, den Strahl der Wasserkanonen, den Staub, die Steine.

Und doch haben Bil’in und Berlin etwas gemeinsam: die Mauer. Die Berliner Mauer ist auch heute noch ein Symbol - auch für uns. Die Schlacht von Bil’in ist gegen eine neue andere Mauer. Die Parole dort ist, wie damals hier: „die Mauer must fallen“.

Ihr, liebe Freunde, habt diese Medaille ehrlich verdient. Nicht nur wegen eures Mutes, eurer Bereitschaft, jeden Freitag verwundet oder verhaftet zu werden, sondern auch – und besonders – wegen der vier Merkmale des Dramas von Bil’in.

Erstens, das Ziel.

Die Mauer in Palästina ist ein Schandmal. Sie wird als ein Mittel für Sicherheit getarnt und als solches wird sie in der Welt verkauft. Aber gerade in Bil’in ist es vollkommen offensichtlich, dass es um etwas ganz anderes geht : um die Annexion von palästinensischen Gebieten an das israelische Staatsgebiet, um die Erweiterung der schändlichen Siedlungen, und – auch das muss gesagt werden – um die Bereicherung israelischer und ausländischer Immobiliengesellschaften, die das gestohlene Land als Grundstücke verkaufen und dabei Millionen verdienen. Dieses Schandmal darf nicht von der Tagesordnung verschwinden. Jede Woche muss daran erinnert werden. Diese Aufgabe habt ihr übernommen. Danke.

Zweitens, die Gewaltlosigkeit.

Auch in dieser Beziehung ist euer Kampf einzigartig. Es ist nicht leicht, mit bloßen Händen gegen schwer bewaffnete Soldaten und Grenzpolizisten anzutreten. Ich habe euch gesehen, und euren Mut bewundert.

Gewaltlosigkeit ist ein Ideal, eine Idee, ein Prinzip. Man kann leicht darüber sprechen, aber vor Ort, im aktuellen Kampf, ist es oft schwer, sehr schwer, sich daran zu halten. Ihr habt es getan, schöpferisch, mit Dutzenden origineller Einfälle - ja einmal sogar mit einem Klavier und einem Pianisten aus Holland …

Ich möchte hier ein Wort über die Medien einfügen. Die Medien lieben die Gewalt. Gewalt macht im Fernsehen gute Bilder. Über gewaltlose Demonstrationen wird im Prinzip nicht berichtet. Leider macht nur Gewalt Schlagzeilen. Diese Berichterstattung schürt aber die Gewalt in der ganzen Welt, ja, ermutigt die Terroristen, wie vor ein paar Tagen in Bombay. Es ist nicht leicht, unter diesen Bedingungen an Gewaltlosigkeit festzuhalten. Ihr habt es geschafft. Danke.

Drittens, die Ausdauer.

Seit drei Jahren seid ihr dabei. Jeden Freitag, wenn das Gebet in der Moschee im Zentrum des Dorfes beendet war, bildete sich der Demonstrationszug und marschierte in Richtung der Mauer, den Soldaten entgegen.

Jeden Freitag. Woche um Woche. Monat um Monat. Jahr um Jahr. Das ist nicht nur außergewöhnlich - es ist heldenhaft. Danke.

Viertens, die Zusammenarbeit.

Nirgendwo anders in unserem Lande besteht so eine andauernde, systematische Zusammenarbeit zwischen Palästinensern und Israelis wie in Bil’in. Jede Woche macht ihr gemeinsam eine Aktion: Palästinenser, Israelis und internationale Friedensaktivisten.

Während anderswo Menschen an der Zusammenarbeit verzweifeln, hier geht sie weiter. Das hat einen ungeheuren – ich möchte beinahe sagen: historischen – Wert. Denn das Ziel ist Frieden, Frieden zwischen unseren beiden Völkern. Und Frieden kann nur ins Leben gerufen werden, wenn die Söhne und Töchter beider Völker in der Tat beweisen, dass sie zusammen handeln und zusammen kämpfen können, zusammen verwundet und verhaftet werden.

Über die Form des Friedens kann man diskutieren. Meine Ansichten darüber sind weit entfernt von denen der Anarchisten. Ich bestehe darauf, dass der einzig mögliche Frieden der mit einer Zweistaaten-Lösung ist, der Staat Israel und der Staat Palästina, zwei Nachbarn, die im Frieden nebeneinander und miteinander leben. Die Anarchisten sind

gegen jeden Staat, gegen beide Staaten. Sie haben andere Vorstellungen. Aber wie immer auch die Lösung aussehen wird, sie muss auf der friedlichen Zusammenarbeit beider Völker basieren. Der Kampf von Bil’in ist das Vorbild dafür. Und auch darum: Danke.

Rachel und ich sind stolz darauf, an manchen dieser Demonstrationen teilgenommen zu haben. Rachel trägt noch immer an ihrem Körper ein Andenken an die Gasgranate, die ihr Bein getroffen hat. Wir haben dort oft Europäer, und auch Deutsche, getroffen.

Einmal habe ich einen kleinen Stein aus Berlin mitgebracht. Ich habe ihn hier für drei Euro erworben – ein Stein der Berliner Mauer, ob er echt ist oder nicht, spielt jetzt keine Rolle. Ich habe ihn meinen Freunden in Bil’in gezeigt und gesagt: auch diese Mauer wird eines Tages fallen.

Wer von Ihnen hier im Saal hat je daran geglaubt, den Fall der Berliner Mauer noch zu seinen Lebzeiten zu erleben? Einer? – Keiner!! Aber es ist passiert. Und so werden auch wir, Palästinenser und Israelis, eines Tages den Fall „unserer“ Mauer feiern.

Der Kampf von Bil’in wird dazu beitragen. Er ist das Symbol, das Vorbild. Karl von Ossietzky könnte sich keine besseren Nachfolger wünschen. Jeder von uns muss sich mit diesem kleinen, heroischen Dorf identifizieren.

Nicht weit von hier hat vor vielen Jahren Präsident Kennedy ausgerufen: „Ich bin ein Berliner!“

Jeder von uns sollte heute rufen: „Ich bin ein Bil’iner!“


Bürgerkomitee des Dorfes Bil’in aus Palästina

Verehrte Anwesende, sehr geehrte Vertreter der Preisträger,

vor einem Jahr saßen wir zu fünft hier als VertreterInnen für den Anwaltsnotdienst anlässlich der Durchführung des Weltwirtschaftsgipfels im Juni 2007 in Heiligendamm bei Rostock. Drei RechtsanwältInnen, die zusammen mit mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen ein Büro organisiert haben, rechtlichen Rat erteilten, bei Anhörungen vor Gericht vertreten haben, mit Polizei und Justiz Tag und Nacht diskutiert haben und zwei Frauen aus den Ermittlungsausschüssen stellvertretend für die Vielzahl von Männern und Frauen, die Tag und Nacht im Einsatz waren, um die Hilferufe und Anfragen der Globalisierungskritiker entgegen zu nehmen, zu beruhigen, Hilfe zu organisieren und Daten für die Anwälte zusammenzustellen. Wir wurden als „Streetworker für das Recht“ bezeichnet.

Wir saßen im Publikum aufgeregt, erwartungsvoll und auch ein wenig stolz. Gefühle, die Sie jetzt sicherlich genauso erleben.

Heute werden stellvertretend für die beteiligten Rechtsanwälte Frau Dr. Anna Luczak und ich die Laudatio halten.

Anna hat ihre Wahlstation in Israel bei der Organisation ACRI (association for civil rights in Israel) abgeleistet. Ich konnte während meiner Schulzeit dreieinhalb Wochen im Oktober 1981 Leben und Arbeit im Kibbuz Mishmar Hasharon kennenlernen. Noch deutlich erinnerbar, weil das Attentat auf Anwar as Sadat in diese Zeit fiel und seine Bemühungen um den Frieden in der Region beendeten. Frau Dr. Luczak wird beginnen mit der Laudatio für die heute auszuzeichnenden Anarchists against the wall und ich werde für das Bürgerkomitee Bil’in sprechen.

Bil’in ist ein Dorf in Palästina. Etwa 2.000 Menschen leben hier. Die meisten erzielen ihren Lebensunterhalt aus der Landwirtschaft. Einige haben Arbeitsstellen bei der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Stadt Ramallah - weitaus bekannter - liegt 12 km entfernt. Alles in der Westbank.

Bil’in liegt hinter dem von Israel errichteten Sperrzaun. Diese Barriere hat das Dorf von ca. 60 % ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche getrennt. In diese Flächen wurde eine israelische Siedlung errichtet, das Land besetzt.

Im Jahr 2002 begann Israel mit dem Bau eines Sicherheitszaunes. Dieser Zaun sollte die israelische Zivilbevölkerung besser vor terroristischen Übergriffen schützen. Man hoffte, die auf 720 km Länge geplante Anlage werde potentielle Selbstmordattentäter fernhalten. Faktisch sollte der Sperrzaun die israelische Bevölkerung von den Palästinensern klar physisch trennen und so eine Grenzziehung zwischen Israel und einem zukünftigen Staat Palästina vorwegnehmen. Anfangs bestand dieser Zaun größtenteils aus Stacheldraht oder mehreren parallel verlaufenden Zäunen mit einer Gesamtbreite von 60 m, in denen regelmäßig Militärpatrouillen wachten. Die Passierstellen, die eingerichtet wurden, sollten den Zugang zu den landwirtschaftlichen Nutzflächen ermöglichen und auch den Austausch der Arbeitskräfte. Längst ist der Stacheldraht in Teilen durch 8 m hohe Betonmauern ersetzt.

Aus den Medien kennen wir die Bilder von den Passierstellen. Wer nicht selber dort in der Warteschlange stand, wird sich kaum vorstellen können, was dort geschieht. Niemand kann wissen, ob er auf die andere Seite kommen wird. Die Durchgänge sind häufig über Tage oder Wochen verschlossen. Werden sie dann wieder geöffnet, dann vielleicht nur für zweimal am Tag für eine halbe Stunde. Wartezeiten von Tagen müssen in Kauf genommen werden. Dramatische Szenen spielen sich ab. Kinder werden geboren. Ihre Überlebenschancen sind gering. Kranke bleiben unversorgt.

Arbeiter erreichen ihre Arbeitsstellen nicht und können kein Einkommen zur Versorgung ihrer Familien erzielen. Felder bleiben unbestellt, weil die Zeit nicht ausreicht für die Arbeit. In den letzten Wochen konnten wir an den Bildschirmen beobachten, dass die Sperrungen zu dramatischen Versorgungsengpässen führten. Die Menschen leiden Not.

Am 09.07.2004 hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschieden: Die Errichtung dieses Sperrzaunes oder der Mauer ist völkerrechtswidrig. Israel wurde aufgefordert, die Bauarbeiten zu stoppen, bereits gebaute Teile wieder abzureißen und die entstandenen Schäden zu kompensieren. Dieser Aufforderung ist Israel nicht gefolgt. Auch der oberste israelische Gerichtshof hat sich längst mit der Problematik befasst und zumindest den Verlauf des Sperrzaunes für teilweise rechtswidrig befunden.

Wir haben es in Heiligendamm erlebt. Es genügt nicht, seine Anträge, Bedürfnisse und Belange auf dem Rechtsweg geltend zu machen. Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat umfasst viel mehr. Um Meinungen und Ansichten zu ändern, braucht es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Das Bürgerkomitee Bil’in ringt um diese Aufmerksamkeit.

Was zeichnet Bil’in aus und warum zeichnen wir heute das Bürgerkomitee Bil’in aus? Die Bürger und Bürgerinnen von Bil’in setzen sich zur Wehr. Sie wehren sich gegen den Sperrzaun, sie wehren sich gegen die Besatzung, sie wehren sich gegen die Inbesitznahme ihrer Flächen, wehren sich gegen ihre Ausgrenzung. Aber sie schießen nicht, sie schicken keine Raketen nach Israel, sie verletzten nicht, sie töten nicht. Sie kommen Freitag für Freitag immer wieder auf die Straße und demonstrieren friedlich und gewaltfrei gegen den Sperrzaun. Ihre Aktionen sind bunt und vielfältig, aufrüttelnd und international.

Ihnen begegnet Gewalt. Sie werden verletzt. Sie werden verhaftet. Sie riskieren ihre Gesundheit und ihr Leben. Jeden Freitag wieder.

Sie sind nicht allein. Sie haben Kontakte geknüpft zu israelischen Friedensaktivisten und zu Bürgerrechtsgruppen in der ganzen Welt. Diese Partnerschaft ist nicht für schönes Wetter. Diese Partner kommen zu ihnen und stehen mit ihnen in den Tränengaswolken und riskieren, ebenso mit gummiummantelten Stahlkugeln beschossen zu werden. Bil’in steht für den Traum, dass Menschen Brüder sein können. Israelis und Palästinenser wollen gemeinsam ihren Wunsch nach Frieden verwirklichen.

Das Bürgerkomitee von Bil’in steht für Gewaltlosigkeit. Sie folgen Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Auf die Frage „Hat ihr gewaltfreier Widerstand denn überhaupt eine Chance? In den globalen Medien ist der Nahe Osten doch fast nur, wenn es um Gewalt geht.“ antwortet Mohammed Khatib, ein Mitglied des Bürgerkomitees: „Es stimmt, dass eine gewaltfreie Demo in Bil’in oder anderswo keine Meldung wert ist, wenn anderswo geschossen wird. Das hohe Gewaltniveau führt auch dazu, dass viele nicht an Gewaltfreiheit glauben – wie sollten sie auch? Aber durch den gewaltfreien Widerstand haben sich die Schwarzen in Südafrika befreit. Auch in Indien war er erfolgreich. In Palästina brauchen wir dafür die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.“

Die Internationale Liga für Menschenrechte zeichnet heute das Bürgerkomitee von Bil’in mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille genau hierfür aus. Für ihre Standhaftigkeit, für die Solidarität und für die Gewaltlosigkeit, mit der auf die ungerechte Landnahme gezeigt wird, auf die ungerechte Trennung der Bevölkerung, auf die Ausgrenzung.

Mut, Standhaftigkeit und der Verzicht auf Gewalt diese Eigenschaften bewundern an Carl von Ossietzky , diese Eigenschaften bewundern wir an den Mitgliedern des Bürgerkomitees von Bil’in. Ich wünsche Ihnen weiterhin Kraft auszuhalten und Mut den Weg, den Sie aufgenommen haben weiterzugehen. Mit dieser Auszeichnung möchten wir Sie dabei begleiten.

Palästina und Israel brauchen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, um zu einem Frieden zu kommen.

Mohammed Khatib sagt weiter: „Sie, die Israelis, werden früher oder später verstehen, dass sie sich mit der Mauer in einem Gefängnis selbst eingemauert haben.“

Die Auszeichnung wird in Berlin übergeben, ein Ort, an dem schon verstanden worden ist, dass Mohammed Khatib mit diesem Satz recht hat, ein Ort, der als Symbol für so vieles steht. Ich hoffe, wir haben noch Gelegenheit, uns über all diese Dinge auszutauschen und wünsche uns, dass wir bald in Bil’in den Fall der Mauer gemeinsam feiern können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Anna Luczak

Gruppen, die für ihre Verdienste um die Menschenrechte ausgezeichnet werden, haben so viele Gesichter wie menschliche Gesellschaften und Konflikte. Aber sie haben eins gemeinsam: der Kampf für die Menschenrechte, seien es die eigenen oder die anderer Menschen, beinhaltet immer mehr als nur die Ebene des Rechts und weist darüber hinaus. Wer für die Idee der Menschenrechte kämpft, kämpft immer auch für eine bessere Welt.

Bei aller Verschiedenheit gleichen sich darin der letztjährige Preisträger, der Anwaltliche Notdienst bei den G8-Protesten in Heiligendamm, und die Anarchists against the Wall, die neben dem Bil'in Committee dieses Jahr ausgezeichnet werden.

Beide setzen sich ganz konkret für die Rechte anderer ein. Der Notdienst hat die Rechte von Protestierenden verteidigt, die aufgrund ihrer politischen Aktivität mit dem Staat in Konflikt geraten waren. Die Anarchists against the Wall kämpfen für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung auf freien Zugang zu ihrem Land und zu ihren Ressourcen, für deren Recht auf freie Bewegung genauso wie deren freie Meinungsäußerung.

Gemeinsam haben beide Gruppen interessanterweise auch den Kristallisationspunkt ihrer Aktivitäten. In Deutschland, in Heiligendamm, war das der Zaun um den Tagungsort der politisch Mächtigen, in Israel ist es die Sperranlage, die Mauer um die Westbank.

Der Zaun in Heiligendamm war dabei allerdings eher ein Zeichen, eine Metapher für die Exklusivität der „großen Politik“ und den Ausschluss der Menschen davon. Dagegen hat die Mauer in Israel eine ganz unmittelbare Wirkung. Der Verlauf der Mauer und das Grenzregime beeinflussen das Leben der Menschen und die politische Lage direkt.

Gebaut als „Sicherheits-Wall“, bestehend hauptsächlich aus 8 Meter hohen massiven Betonteilen, führt die Mauer um die Westbank zu einer künstlichen Trennung von Palästina und Israel. Ob eine derartige Barriere überhaupt zu mehr Sicherheit führen kann, steht in den Sternen. Die Raketen-Angriffe auf israelische Städte vom Gaza-Streifen aus, der schon lang von einer Sperranlage umgeben ist, sprechen dagegen.

Die Mauer um die Westbank verläuft an vielen Stellen nicht auf der Grenze zwischen den beiden Territorien, die im Waffenstillstandsabkommen von 1949 festgelegt wurde, der so genannten green line. Sie schliesst auf dem ursprünglich palästinensischen Gebiet gebaute israelische Siedlungen und die Zufahrten dazu ein. Die räumliche Verbundenheit der dazwischen in der Westbank gelegenen, zum Teil sehr alten arabischen Städte und Dörfer wird vom Mauerverlauf hingegen nicht aufgenommen, sondern an vielen Stellen ignoriert. Der westliche Teil der Westbank wird dadurch gleichsam zu einem Flickenteppich.

Die Trennung durch die Mauer steht an sich der Idee einer Koexistenz entgegen. Die Mauer zerstört und behindert, was an wirtschaftlicher und sozialer Verwobenheit da war. Bewohner und Bewohnerinnen der Orte hinter der Mauer können ihre auf israelischem Gebiet gelegenen Arbeitsstellen und Ausbildungsstätten kaum noch erreichen. Sie können wegen der Mauer auch ihre zwar auf West-Bank-Territorium gelegenen, aber durch den Verlauf der Mauer abgetrennten Felder nicht bestellen und die dortigen Gewächshäuser nicht benutzen. Und die Produkte der Felder, die noch erreichbar sind, die Oliven und Tomaten, können sie nicht in Israel verkaufen. Sie kommen nicht an viele ihrer Wasserstellen und sind von medizinischer Versorgung in Israel abgeschnitten.

Das alles wird meine Kollegin Verina Speckin noch genauer beschreiben. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten vom 9. Juli 2007 die Folgen der Mauer deutlich verurteilt: The Barrier route along with the associated regime of permits gravely infringes a number of rights of Palestinians residing in the territory occupied by Israel.

Allerdings zeigt gerade das die Beschränktheit der Ebene des Rechts - dem Gutachten des IGH zum Trotz wird weiter gebaut und weiter der Zugang beschränkt. So war und ist die Tätigkeit der Anarchists against the Wall von immenser Bedeutung.

Einer der größten Verdienste der Anarchists against the Wall ist die Informationsarbeit in der israelischen Gesellschaft. Sie halten die Öffentlichkeit über ihre Internetseite auf dem Laufenden, sie unterrichten die Presse und sie machen Aktionen auch in Israel.

Die Anarchists against the Wall haben bereits mehrfach auf israelischem Gebiet eigene Sperranlagen errichtet, sozusagen das Grenzregime in die israelische Gesellschaft hineingetragen. Sie haben zum Beispiel Stacheldrahtrollen aus der Westbank in der Innenstadt von Tel Aviv über die Straße gelegt und damit den Verkehr zum Erliegen gebracht.

Die Öffentlichkeitsarbeit in Israel ist so wichtig, weil die israelische Gesellschaft ausblendet, wie die Situation der Trennung sich auswirkt und was überhaupt los ist in der Westbank. Viele Israelis fahren überhaupt nicht mehr in die Westbank, sondern nehmen lieber große Umwege in Kauf. Oder sie leben zwar in einem Stadtteil Jerusalems, der eigentlich zu Palästina gehört, aber wissen es noch nicht einmal.

Ein gutes Beispiel dafür, wie die Situation und sogar die Mauer selbst ausgeblendet werden, biete der vornehmlich von Israelis bewohnte Jerusalemer Stadtteil Gilo. Gilo liegt nach der Grenze von 49 auf palästinensischem Gebiet. Nach Schüssen von dem auf dem gegenüberliegenden Dorfhang gelegenen arabischen Dorf Beit Yalla wurden in Gilo bereits im Jahr 2000 einzelne Mauerbetonteile aufgestellt. Diese Betonteile wurden dann auf der von Gilo aus zu sehenden Seite bemalt, weil sie das Stadtbild nicht zu sehr verschandeln sollten. Dafür wurden aber nicht irgendwelche Motive ausgewählt - es wurden nach Foto-Vorlagen naturgetreue Bilder von der Landschaft und eben dem Dorf Beit Yalla auf die Mauer kopiert. Wer in Gilo spazieren geht, sieht also das, was hinter der Mauer verschlossen ist.

Was für ein großer Verdienst der Anarchists against the Wall es ist, über die Mauer und deren Folgen in Israel aufzuklären, kann aus externer Sicht kaum ermessen werden.

Neben der Wirkung in der israelischen Gesellschaft ist an Wichtigkeit kaum zu unterschätzen, dass und wie die Anarchists against the Wall mit palästinensischen Gruppen zusammenarbeiten.

Ursprung der Gruppe war ganz einfach ein Zeltlager, das im zweiten Jahr des Mauerbaus 2003, als die Umsetzung der Planungen verstärkt verfolgt wurde, in Mas'ha errichtet wurde, genau an der Stelle, an der dort die Mauer verlaufen sollte. Die Mauer, die hier - übrigens weit östlich von der Grenze von 49 auf palästinensischen Gebiet - das arabische Dorf Mas'ha von der israelischen Siedlung Elkana trennt, mit dem es zuvor in friedlicher Koexistenz gelebt hat. Den Ansatz, vor Ort mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten, haben die Anarchists against the Wall beibehalten, so unter anderem in Bil'in mit dem Bil'in Committee, das wir heute auch ehren.

Die Anarchists against the Wall bieten den einheimischen Aktivisten und Aktivistinnen Schutz. Zum einen dadurch, dass sie beobachten, was passiert und das öffentlich machen, und dadurch dass sie die Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen suchen, mit den Befehlshabern des einzelnen Einsatzes genauso wie mit denen in Politik und Gesellschaft.

Zum anderen und vor allem bieten sie auch ganz praktisch Schutz:
Nachdem es zu Beginn der gemeinschaftlichen Proteste zu schwer wiegenden Verletzungen auch von israelischen Protestierenden gekommen war, muss nun das israelische Militär beim Umgang mit gemeinsamen Demonstrationen andere Vorgaben beachten. Es darf zum Beispiel keine scharfe Munition verwendet werden, wenn auch Israelis vor Ort sind. Das Demonstrieren bleibt natürlich trotzdem gefährlich, denn auch gummiummantelte Geschosse haben schon zu tödlichen Verletzungen geführt. Aber jedenfalls sind wegen des gemeinsamschaftlichen Agierens einmal Palästinenserinnen und Palästinenser „nur“ demselben Risiko ausgesetzt sind wie Israelis.

In der geteilten Gefahr, in den gemeinsamen Protesten mit gemeinsamem Ziel liegt das Außergewöhnliche an den Gruppierungen, die im Jahr 2008 die Carl-von-Ossietzky-Medaille erhalten. Ihre Tätigkeit beinhaltet die Utopie einer Lösung des Konflikts: Dass die Menschen die Künstlichkeit von Grenzen und ihre Verwobenheit erkennen und daraufhin das Gemeinsame versuchen. Der Kampf der Anarchists against the Wall für die Rechte der Palästinenser und Palästinenserinnen führt so über sich selbst hinaus und eröffnet einen Weg in eine bessere Welt in Frieden und Freiheit.


Anarchisten gegen die Mauer

Hallo!

Ich möchte gern aufrichtig sein - ich stehe hier auf diesem Podium, jedoch als ein Anarchist, obwohl diese Situation in mir und meinen Kameraden sehr gemischte Gefühle hervorruft. Wir sträuben uns eigentlich dagegen mit Preisen für politischen Aktivismus ausgezeichnet zu werden. Wir würden es vorziehen, nicht uns zum Ruhme hervorgehoben zu werden und dafür Dank zu empfangen, dass wir tun, was wir für unsere Pflicht halten. Trotz unserer anarchistischen Bedenken, die unter normalen Umständen die Oberhand behalten hätten, sind wir als Israelis - Nutznießer der ungerechten Taten unseres Landes gegenüber den Palästinensern - sehr dankbar für Ihre Unterstützung des palästinensischen Kampfes gegen die israelische Apartheid.

Hier auf diesem Podium, ebenso wie in den Oliven-Hainen im West-Ufer-Gebiet des Jordans ist es nicht unsere wesentlichste moralische Pflicht, ideologische Reinheit zu bewahren, weitaus wichtiger ist es, den Palästinensern in ihrem Widerstand gegen Unterdrückung beizustehen. Wir sind uns der Bedeutung des Sammelns internationaler Unterstützung für den noch andauernden Kampf bewusst und der großen Bedeutung dieser Auszeichnung hierbei. Wir glauben, hier zu stehen ist, unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage, eine direkte Fortsetzung unseres Blockierens der Bulldozer, unseres Beistands an der Seite der Steinewerfer oder unseres Flüchtens vor Tränengas gemeinsam mit jungen und älteren Protestlern.

Hier, ebenso wie in den Oliven-Hainen, möchte ich jedoch betonen, dass wir keine gleichrangigen Partner sind, sondern eher Besetzer, die sich den Besetzten in deren Kampf angeschlossen haben. Uns ist klar, viele verstehen die Beteiligung von Israelis an einem palästinensischen Kampf wie ein Siegel der Zustimmung; in unseren Augen jedoch geht es in dieser Partnerschaft nicht darum dem palästinensischen Kampf seine Legitimität zu verschaffen - denn die hat er, mit oder ohne uns - sie bietet uns eher eine Gelegenheit, mit Aktionen eher als mit Worten, die Schranken nationaler Zugehörigkeit zu überwinden.

In den vergangenen vier Jahren und durch über 200 Demonstrationen ist Bil’in zu einem Symbol geworden, zu einem besonderen Brennpunkt für die Bewegung gegen Israels Mauer - eine Bewegung, die in den vergangenen sechs Jahren Tausende in den lokal organisierten bürgerlichen (Graswurzel-) Widerstand gebracht und einen noch nie da gewesenen gemeinsamen palästinensisch-israelischen Kampf geschmiedet hat.

Die Tatsache, dass es sich um eine unbewaffnete Bewegung von Zivilisten handelt, beweist nur das Ausmaß der exzessiven und ungerechten Gewalt der Armee. Tausende sind verletzt worden. Hunderte wurden inhaftiert und für sehr lange Zeiten eingekerkert. 15 wurden umgebracht, 10 von ihnen waren Kinder und Jugendliche. Wir möchten diese Medaille gerne den letzten zwei Opfern in diesem Kampf widmen: dem zehnjährigen Ahmad Mousa und dem siebzehn Jahre alten Youssef Amirah, die vor vier Monaten von Grenzpolizisten bei deren Versuch, eine durch die Trennmauer entstandene Empörung militärisch niederzuschlagen, ermordet wurden. Wir danken Ihnen noch einmal für die Unterstützung des gemeinsamen bürgerlichen Kampfes!

Die Anarchisten gegen die Mauer

Quelle: Website der Internationalen Liga für Menschenrechte; www.ilmr.de


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