Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"... setzt sich für die Versöhnung zwischen den verfeindeten Volksstämmen der Hutu und Tutsi in Ruanda ein"

Eugénie Musayidire erhält den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises 2007 - Begründung der Jury und ein Artikel

Die siebte Verleihung des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises - er wird seit 1995 alle zwei Jahre vergeben - fand am Sonntag, 30. September 2007, um 11.00 Uhr im Nürnberger Opernhaus statt. Ausgezeichnet wurde Eugénie Musayidire für ihre Versöhnungsarbeit zwischen den verfeindeten Volksstämmen der Hutu und Tutsi in Ruanda. Die Laudatio hielt Dr. Doudou Diène, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Fragen des Rassismus, der Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz.
Im Folgenden dokumentieren wir

  • einen Vorbericht aus der Tageszeitung "Neues Deutschland" und
  • die Begründung der Jury für ihre Wahl.



"Vielleicht werden sie wieder tanzen können ..."

Die Ruanderin Eugénie Musayidire erhält den internationalen Menschenrechtspreis

Von Georg Armbrüster *


Eugénie Musayidire verlor fast ihre ganze Familie während des Völkermords in Ruanda. Mit ihrem Verein »Hoffnung in Ruanda« bemüht sie sich dennoch um Aussöhnung. An diesem Sonntag erhält sie den Internationalen Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg.

Ihr Leben hat viele unerwartete Wendungen genommen. Die glücklichen Momente standen dabei vielfach im Schatten tragischer Ereignisse und tiefer Zäsuren. Dies gilt auch für die Würdigung, die Eugénie Musayidire am 30. September mit der Verleihung des Internationalen Menschenrechtspreises in Nürnberg erfährt. Die Geschichte, an deren Ende diese Auszeichnung steht, reicht weit zurück und ist unendlich schmerzlich. Und noch weiß niemand zu sagen, welchen weiteren Verlauf sie nehmen wird.

Mord und Verfolgung begleiten Lebensweg

1952 in Ruanda als Angehörige der Tutsi-Minderheit geboren, verlor Eugénie Musayidire bereits im Alter von sechs Jahren ihren Vater. Er war ermordet worden. Sie selbst sah sich 1973 gezwungen, in das Nachbarland Burundi zu fliehen, nachdem ihr Name auf einer Liste mit Tutsi aufgetaucht war, denen eine Verhaftung drohte. Es sollte ein langer Abschied von ihrem Heimatdorf Nyanza und ihrer Familie werden. Um einer weiteren Verfolgung zu entgehen, kam sie nach Deutschland, wo sie 1977 politisches Asyl erhielt. Schon bald fühlte sie sich heimisch. Eine berufliche Tätigkeit fand sie in der Migrationsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises an Sieg und Rhein. Hier wurde sie im Laufe der Jahre immer wieder von ihrer Mutter besucht. Wie im Sommer 1993. Es war ein letztes Wiedersehen.

Von Deutschland aus musste Eugénie Musayidire wenig später erleben, wie von April bis Juni 1994 ihre gesamte Familie ausgelöscht wurde. Die Erde Ruandas war in diesen Wochen vom Blut unzähliger Opfer getränkt, die von ihren Henkern auf grausamste Weise ermordet wurden. Der von langer Hand vorbereitete Völkermord an den Tutsi war in vollem Gange, ein in seiner Grausamkeit unvorstellbares Verbrechen. Über drei Viertel der in Ruanda beheimateten Tutsi und Tausende dissidierender Hutu fanden den Tod.

Dabei erschien es Eugénie Musayidire bis zuletzt undenkbar, dass auch ihrer Mutter etwas zustoßen könnte. Sie war die Älteste im Dorf, ein Mensch voller Lebensfreude und Güte, die liebe Oma von nebenan. Wer würde es wagen, ihr etwas anzutun? Eugénie Musayidire irrte. Die 76-jährige Suzanne Mukangwije wurde am Abend des 22. April 1994 von ihrem Nachbarn mit einer Axt erschlagen und in einem Massengrab am Dorfrand verscharrt, zusammen mit mehr als einem Dutzend anderer Frauen und Kinder. Später sollte Eugénie Musayidire erfahren, dass in diesen Tagen außerdem ihr Bruder David Ngarambe, dessen Frau und vier Kinder sowie weitere 22 Verwandte getötet worden waren.

Als sie vom Tod ihrer Familienangehörigen erfuhr, brach Eugénie Musayidire einen zusammen. Nur mit psychotherapeutischer Unterstützung gelang es ihr, das mit der Nachricht verbundene Trauma und ihre eigenen Schuldgefühle zu überwinden. Ein beredtes Zeugnis dieses schwierigen Prozesses ist ihr Buch »Mein Stein spricht«. Den Anstoß gab das Bruchstück eines Dachziegels. Ein US-amerikanischer Bekannter hatte es ihr aus dem völlig zerstörten Haus ihrer Eltern mitgebracht.

In dem schmalen Band geht sie der Frage nach, wie der Nachbar, mit dem ihre Familie ein Leben lang freundschaftlich verbunden war, der die Kühe ihrer Mutter gehütet und mit dem sie selbst als Kind gespielt hatte, zum Mörder ihrer Mutter werden konnte. Ihre Texte handeln daneben jedoch auch vom Versagen der Kirche, der europäischen Staaten und der Vereinten Nationen. Es ist, wie es in dem Geleitwort heißt, ein Buch »der Trauer, der Verzweiflung, des Zorns, ein Buch der Anklage und des Protests.«

Im Bemühen, sich dem unfassbaren Geschehen anzunähern, ging Eugénie Musayidire noch weiter. Sie ging bis an die Grenze dessen, was ein Mensch zu ertragen vermag. Sieben Jahre nach der Tat reiste sie Anfang 2001 nach Ruanda und »stellte« dort in einem Gefängnis den Mörder ihrer Mutter. Über Begegnung und Rückkehr in ihr Dorf ist eine bewegende Fernsehdokumentation entstanden.

Aussöhnung statt Rache

Die Erfahrungen, die sich für Eugénie Musayidire mit ihrem eigenen Schmerz, ihrer Verzweiflung und ihrer Wut verbanden, ließen in ihr immer stärker den Wunsch reifen, selbst zur Aussöhnung in Ruanda beizutragen, um dem Land eine friedliche Zukunft zu ermöglichen. Bei vielen, vor allem jungen Menschen, denen sie unter den verfeindeten Volksgruppen der Hutu und Tutsi begegnete, war zu spüren, wie hilflos sie waren und wie sehr sie unter den Folgen des Genozids litten. Wer, wenn nicht sie, sollte verstehen, wie es diesen Zeugen und Opfern der furchtbaren Geschehnisse erging?

Um diesen Menschen zu helfen, gründete Eugénie Musayidire im Juni 2001 den Verein »Hoffnung in Ruanda«. Sie hatte die Vision, in ihrer Heimat Orte der Begegnung und psychologischen Hilfe aufzubauen. Eine wichtige Rolle spielten hierbei ihre Beobachtungen bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland. Aus der breiten gesellschaftlichen Aufarbeitung gewann sie wichtige Impulse.

Im Januar 2003 gab sie ihre sichere Existenz in Deutschland auf und kehrte nach Ruanda zurück. Binnen weniger Monate errichtete sie in Nyanza als Mitarbeiterin des Evangelischen Entwicklungsdienstes das Jugendbegegnungs- und Therapiezentrum IZERE (Hoffnung). Seitdem finden junge Hutu und Tutsi hier ein Refugium. Es sind Überlebende, die körperlich versehrt sind oder die mit ansehen mussten, wie ihre nächsten Angehörigen ermordet wurden. Jugendliche, die erleben mussten, wie ihre Eltern zu Mördern wurden, Waisenkinder, ehemalige Kindersoldaten und Vergewaltigungsopfer. Sie leiden unter Depressionen, unter dem Bruch mit ihren Familien, unter schulischen Problemen, Aggressionen und Phobien.

In kreativ-therapeutischen Maßnahmen wie Gesang und Tanz, Malen, Schreiben und Märchenerzählen lernen die Betroffenen, ihr Schweigen zu brechen und über ihre Erinnerungen an die furchtbaren Erlebnisse zu sprechen. »Vielleicht werden sie wieder tanzen können«, hofft Eugénie Musayidire für die geschundenen Jugendlichen. Bei IZERE stehen ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten in einem Friseursalon, einer Schneiderwerkstätte und einem Fotostudio offen. Im Aufbau befindet sich derzeit gar eine Schule. Gleichzeitig organisiert man öffentliche Veranstaltungen und Radiosendungen über die Ursachen und Folgen des Genozids. Und in speziellen Seminaren werden Lehrer für die Probleme traumatisierter Jugendlicher sensibilisiert.

So leistet Eugénie Musayidire im Kleinen Wegweisendes für ein ganzes Land. In der Entscheidung der Jury heißt es, dass sie sich »mit bewundernswertem Mut und ungeachtet aller persönlichen Risiken für die Anerkennung der Menschenrechte und für die Versöhnung zwischen den beiden verfeindeten Volksstämmen der Hutu und Tutsi in Ruanda« einsetzt. Ihr Wirken verkörpere »in vorbildlicher Weise den Gedanken universeller Menschenrechte und der Versöhnung nach einem seit 1945 beispiellosen Verbrechen.«

Ihre Nominierung lenkt den Fokus auf ein Verbrechen, das das Gewissen der westlichen Welt auf erschreckende Weise kalt gelassen hat. Gab es wirklich keine Möglichkeit zur Rettung der Verfolgten? Es bleibt unfassbar, dass am Ende des 20. Jahrhunderts vor aller Augen innerhalb von nur 100 Tagen über 800 000 Menschen einem Völkermord zum Opfer fallen konnten. Wenn man Auschwitz als Bezug nimmt, so gehören die Unterlassungen der internationalen Staatengemeinschaft sicherlich zu den beschämendsten Erfahrungen seit Ende der NS-Diktatur.

Ruandas Befriedung ist oberflächlich

Bei alldem ist zu bedenken, dass die Situation in Ruanda von Experten bis in die Gegenwart als durchaus explosiv beschrieben wird. Die Nation ist zerrissen. Der Aussöhnungsprozess erscheint oftmals brüchig und oberflächlich. Zu vielen Betroffenen fehlt noch immer adäquate Hilfe. Eugénie Musayidires Auszeichnung stößt deshalb auf großes Interesse. Sie ist ein wichtiges Zeichen der Ermutigung, den schwierigen Weg der Verständigung in Ruanda fortzusetzen. Angesichts der Ausnahmesituation, in der sich das Land nach dem Genozid befindet, wo Leid und Schuld eine ganze Gesellschaft prägen, ist die Bedeutung für den Aussöhnungsprozess kaum hoch genug einzuschätzen. Folgerichtig ist die Regierung Ruandas längst auf das Projekt aufmerksam geworden. Dass Außenminister Charles Murigande bei dem Festakt in Nürnberg persönlich ein Grußwort sprechen wird, ist als Zeichen der Anerkennung zu verstehen. Denn mit Eugénie Musayidire wird eine außergewöhnliche Persönlichkeit geehrt, ein Mensch voller Wärme und Herzlichkeit, aber auch Stolz – und einem Gespür für das Wesentliche.

* Aus: Neues Deutschland, 28. September 2007


Preisträgerin 2007: Eugénie Musayidire

Die Begründung der Jury:

Eugénie Musayidire setzt sich mit bewundernswertem Mut und ungeachtet aller persönlichen Risiken für die Anerkennung der Menschenrechte und für die Versöhnung zwischen den beiden verfeindeten Volksstämmen der Hutu und Tutsi in Ruanda ein. Die Geschichte des Landes ist seit Jahrzehnten durch den Konflikt zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen geprägt. Wie zahlreiche andere Angehörige der Tutsi-Minderheit, so war auch Eugénie Musayidire 1973 gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, und erhielt schließlich politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. 1994 musste sie dann erfahren, dass viele ihrer Familienmitglieder und Verwandten dem Völkermord in Ruanda zum Opfer gefallen waren. Diese persönliche Tragödie ließ sie jedoch nicht resignieren, sondern motivierte sie dazu, in ihr Heimatland zurückzukehren und aktive Versöhnungsarbeit zu leisten. Die Begegnung mit zahlreichen Landsleuten, die unter den Folgen des Genozids litten, bestärkte sie in diesem Vorhaben. Um diesen Menschen zu helfen, gründete sie den Verein „Hoffnung für Ruanda“ mit dem Ziel, Orte der Begegnung aufzubauen und die Betroffenen durch therapeutische Angebote in die Lage zu versetzen, über ihre persönlichen Erinnerungen an die furchtbaren Geschehnisse zu sprechen. Mit öffentlichen Veranstaltungen, Seminaren und Radiosendungen unternimmt der Verein darüber hinaus große Anstrengungen, um die Auseinandersetzung in der ruandischen Gesellschaft mit den Ursachen und Folgen des Völkermords zu fördern und durch intensive Menschenrechtsbildung zu einem Zusammenleben der beiden Volksgruppen in Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit beizutragen. Inzwischen hat Eugénie Musayidire auch ein Jugendbegegnungs- und Therapiezentrum in Ruanda errichtet, in dem Kinder und Heranwachsende betreut werden, die durch ihre Erfahrungen während des Genozids noch immer traumatisiert sind.

Mit der Nominierung zur Preisträgerin des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises 2007 ehrt die Jury das Wirken von Eugénie Musayidire, das in vorbildlicher Weise den Gedanken universeller Menschenrechte und der Versöhnung nach einem seit 1945 beispiellosen Verbrechens verkörpert. Sie würdigt damit aber auch das Engagement unzähliger Menschen überall auf der Welt, die sich mutig und unter erheblichen persönlichen Risiken für die Menschenrechte einsetzen. Die Entscheidung der Jury ist gleichzeitig als Appell an die politisch Verantwortlichen in Ruanda zu verstehen, diese Rechte wirksam zu schützen und die Arbeit von Eugénie Musayidire nachdrücklich zu fördern. Und sie soll zur Ermutigung, zur Unterstützung und zum Schutz von Verteidigern der Menschenrechte beitragen.

Die Jury
Nürnberg, 15. Oktober 2006

Quelle: www.menschenrechte.nuernberg.de




Zurück zur Seite "Friedenspreise"

Zur Menschenrechts-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage