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Chinas Führung sieht sich und den Preis geschmäht

Wieder eine "sehr kontroverse Entscheidung": Friedensnobelpreis 2010 geht an Liu Xiaobo / Norwegens Regierungschef um Schadensbegrenzung bemüht

Von Detlef D. Pries *

»Eine sehr kontroverse Entscheidung« hatte der Präsident des Norwegischen Nobel-Komitees, Thorbjörn Jagland, am Freitagmorgen angekündigt. Die Wahl des Komitees werde »eindeutig« ähnlich umstritten sein wie die Vergabe des Friedensnobelpreises an USA-Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr, sagte Jagland kurz vor der offiziellen Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers in Oslo in einem Interview mit dem norwegischen Fernsehsender TV2.

Als Komiteevorsitzender eigentlich zur Geheimhaltung verpflichtet, hatte der Sozialdemokrat Thorbjörn Jagland, der bereits Regierungschef, Außenminister und Parlamentspräsident seines Landes war, schon vorher die Gerüchteküche kräftig angeheizt. »Wenn wir den Preis an eine Person vergeben, dann muss die oder der Betreffende für etwas eingestanden, persönliche Belastungen auf sich genommen und einen Kampf durchgestanden haben«, erläuterte Jagland der Zeitung »Drammens Tidende«. Es gehe nicht um »Friedensarbeit vom Schreibtisch«.

Damit waren die Chancen für Altbundeskanzler Helmut Kohl, der ebenfalls auf der Liste der 237 Kandidaten stand, deutlich gesunken. Norwegische Fernsehsender meldeten denn auch schon am Donnerstagabend, »wahrscheinlichster« Preisträger sei »ein in China inhaftierter Dissident«. Anschließend zeigte TV2 einen langen Bericht über den Fall Liu Xiaobo. Druck aus Peking provozierte

Prompt trat Jagland am Freitag (8. Okt.) um 11 Uhr in Oslo vor die Presse und verkündete, das Nobel-Komitee zeichne den 54-Jährigen Liu für »seinen langen und gewaltlosen Kampf für fundamentale Menschenrechte in China« aus. Das Komitee habe immer daran geglaubt, »dass es eine enge Verbindung zwischen Menschenrechten und Frieden gibt«. China verstoße gegen die Einhaltung einiger internationaler Abkommen, die es selbst unterzeichnet habe, und missachte auch »eigene Vorschriften bezüglich politischer Rechte«, fügte Jagland erklärend hinzu.

Bekannt war, dass chinesische Diplomaten schon vorher Druck ausgeübt hatten, den Preis nicht an Liu oder einen anderen chinesischen Dissidenten zu vergeben. Dies werde Auswirkungen auf die zwischenstaatlichen Beziehungen haben. Erwartungsgemäß sah sich das Nobel-Komitee dadurch jedoch geradezu provoziert, seine »Unabhängigkeit« zu demonstrieren.

Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg freilich bemühte sich am Freitag (8. Okt.,) um Schadensbegrenzung, indem er Oslos »sehr gute und umfassende Zusammenarbeit mit China« hervorhob. Seit langem gebe es Beziehungen beider Länder »in allen Bereichen«. Dazu gehöre auch die Diskussion über die Menschenrechte.

Was Peking allerdings nicht befriedigte. Nachdem eine Vertreterin des dortigen Außenministeriums zunächst nur lakonisch erklärt hatte, die Entscheidung des Nobel-Komitees sei »zur Kenntnis« genommen worden, schob ihr Ministerium später eine Erklärung nach, in der Liu Xiaobo als Krimineller bezeichnet wird, der wegen Gesetzesverstößen durch chinesische Justizorgane verurteilt wurde. Die Ehrung »solcher Leute widerspricht völlig dem Ziel des Preises«, hieß es weiter, es sei »eine Schmähung« des Friedensnobelpreises und werde den chinesisch-norwegischen Beziehungen schaden.

Was ist bekannt über den Mann, der zur Zeit im Gefängnis von Jin-zhou in der nordostchinesischen Provinz Liaoning eine 30 Quadratmeter große Zelle mit fünf weiteren Gefangenen teilt?

Liu Xiaobo wurde am 28. Dezember 1955 in der Provinzhauptstadt Changchun im Nordosten geboren. Während Mao Zedongs »proletarischer Kulturevolution« wurde er Anfang der 70er Jahre gemeinsam mit seinem Vater als »versklavtes Individuum« – wie er es selbst beschrieb – zur Arbeit aufs Land geschickt. Dieses Schicksal, das er mit vielen Chinesen seiner Generation teilt, hat ihn offenbar traumatisch geprägt.

Vom Tiananmen-Platz bis zur »Charta 08«

Zu Beginn der Studentenproteste des Jahres 1989 befand sich Liu, inzwischen immerhin als Literaturkritiker und Philosophiedozent bekannt, auf einer Forschungsreise in den USA. Er kehrte vorzeitig von dort zurück, schloss sich den Studenten auf dem Tiananmen-Platz an und beteiligte sich an deren letztem Hungerstreik. Zusammen mit anderen Dozenten soll er noch in der Nacht zum 4. Juni mit der Militärführung über einen friedlichen Abzug der Studenten verhandelt haben. Tatsächlich verließen die Platzbesetzer das Areal, doch kam es an den Zufahrtstraßen des Militärs zu blutigen Zusammenstößen mit zahlreichen Toten auf beiden Seiten.

Liu wurde noch im Juni 1989 für rund 18 Monate in Haft genommen. Später wurde er noch einmal für drei Jahre in ein Straflager eingewiesen, weil er sich für die Freilassung gefangener Teilnehmer an den Tiananmen-Unruhen eingesetzt und eine Anklage gegen den damaligen Präsidenten Jiang Zemin gefordert hatte.

Seit 1997 mit der Dichterin Liu Xa verheiratet, wurde der Vater eines Sohnes aus erster Ehe, der von Kollegen auch als impulsiv beschrieben wird, am 8. Dezember 2008 abermals verhaftet und am 25. Dezember 2009 von einem Gericht in Peking zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Richter befanden ihn für schuldig, die Staatsgewalt untergraben zu haben. Zur Begründung wurde unter anderem seine Rolle als Mitverfasser und Koordinator der 2008, im Jahr der Olympischen Spiele in Peking, veröffentlichten »Charta 08« angeführt.

Die 303 Erstunterzeichner dieses Papiers, dessen Titel unverkennbar auf die tschechische »Charta 77« anspielt, forderten die Regierung zu politischen Reformen auf. Verlangt wurden Demokratie, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, Bildung eines föderalen Staates, die Einrichtung einer Wahrheitskommission – und die Streichung des Vorwurfs der Untergrabung der Staatsgewalt aus dem chinesischen Strafgesetzbuch. Kritiker der Charta werfen den Autoren vor, sie missachteten die sozialen Probleme der Bevölkerung, die von ihnen geforderte Privatisierung schaffe neue Konflikte.

Die Nachrichtenagentur dpa zitierte Lius Ehefrau am Freitag mit den Worten: »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er den Nobelpreis gewinnen würde. Deswegen ist es umso schwerer, mir vorzustellen, wie sich alles entwickeln wird, nachdem er ihn bekommen hat.«

In der Tat ist dies schwer vorauszusehen. Das Nobel-Komitee hofft, dass China »im Gespräch bleibt und demokratischer wird«. Wer allerdings die erstmalige Vergabe eines Friedensnobelpreises nach China als eine »Ohrfeige« für die Pekinger Führung feiert, wie es Kommentatoren im Westen tun, dem ist eine ernsthafte Absicht zum Gespräch nicht abzunehmen. Hat etwa die Verleihung des Preises an den Dalai Lama 1989 Gespräche über Tibet befördert? Asiaten ist es stets wichtig, das Gesicht zu wahren. Auf »Ohrfeigen« reagieren sie in der Regel mit frostiger Abwendung. Und die Frage, wie das Riesenland China mit 1,3 Milliarden Einwohnern seine unzweifelhaft immensen Probleme lösen kann, bleibt unbeantwortet.

Lexikon: Friedensnobelpreis

Der Stifter der Nobelpreise, der schwedische Dynamit-Erfinder Alfred Nobel (1833-1896), hatte in seinem Testament das norwegische Parlament beauftragt, jährlich bis zu drei Personen oder Organisationen für ihre Verdienste um eine friedliche Welt auszuzeichnen. Die Preisträger sollten demnach »den besten oder größten Einsatz für Brüderlichkeit zwischen Staaten, für die Abschaffung oder Abrüstung von stehenden Heeren sowie für die Organisation und Förderung von Friedenskonferenzen« gezeigt haben.

Ein fünfköpfiges Komitee, für jeweils sechs Jahre vom norwegischen Parlament (Storting), ernannt, wählt die zu Ehrenden aus oft mehr als 100 Vorschlägen aus. Bei der Verleihung des Preises am Todestag Nobels, dem 10. Dezember, erhalten sie in Oslo eine Medaille, eine Urkunde und ein Preisgeld in Höhe von zehn Millionen Schwedische Kronen (gut eine Million Euro).

Erstmals wurde der Friedensnobelpreis 1901 an den Gründer des Roten Kreuzes, Henri Dunant (1828-1910), und den französischen Humanisten und Politiker Frederic Passy (1822-1912) vergeben. In der Liste der seither Geehrten spiegeln sich deutlich die politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Zeit. Sie umfasst unumstrittene Friedensaktivisten wie auch Personen, deren Leistungen wenig mit der von Nobel verfolgten Absicht zu tun haben. Zu Zeiten des Kalten Krieges wie in jüngster Vergangenheit diente die Preisverleihung wiederholt als politische Waffe im Kampf für oder gegen ein bestimmtes System.

Preisträger der vergangenen fünf Jahre waren 2009 USA-Präsident Barack Obama, der sein Amt gerade erst angetreten hatte, 2008 Finnlands Altpräsident Martti Ahtisaari, 2007 der vormalige USA-Vizepräsident Al Gore und der UN-Klimarat, 2006 der Ökonom Muhammad Yunus (Bangladesch) und seine Grameen Bank und 2005 die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit ihrem Direktor Mohammed el Baradei.



* Aus: Neues Deutschland, 9. Oktober 2010

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