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"Hinter der friedlichen Nutzung der Atomenergie verbirgt sich immer die Möglichkeit zum Bau der Atombombe"

IPPNW kritisiert IAEA und ihren Chef Mohammed El Baradei - Pressestimmen zur Verleihung des Friedensnobelpreises

Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2005 an die Internationale Atomenergiebehörde IAEO (bzw. IAEA) und ihren Chef El Baradei hat nicht nur Anerkennung, sondern auch viel Kritik und Widerspruch erfahren. Interessant dabei ist, dass Anerkennung und Widerspruch quer durch die verschiedenen politischen Lager kommen. Für einen Teil der Friedensbewegung hat die IPPNW eine sehr kritische Haltung eingenommen, die vor allem darauf beruht, dass mit der IAEO eine Organisation ausgezeichnet wurde, zu deren Auftrag die Förderung der "friedlichen" Nutzung der Atomenergie gehöre, deren Folgen für die Menschheit ebenfalls schädlich seien. Außerdem würden die Bemühungen um die Einhaltung des Nichtverbreitungsregimes von Atomwaffen durch die Förderung der zivilen Nutzung der Kernenergie "konterkariert". Gerechterweise muss aber auch gesagt werden, dass El Baradei sich dieses Problems durchaus bewusst ist und aus diesem Grund eine "Multilateralisierung zumindest der sensitiven Elemente nuklearer Brennstoffkreisläufe" vorgeschlagen hat. Das bedeutet, die Produktion neuen Spaltmaterials, aber auch die Kapazitäten zur Urananreicherung und Wiederaufbereitung von in Atomkraftwerken verbrannten Plutoniumbrennstäben sowie die Lagerung nuklearer Abfälle in international verwalteten Zentren zu managen. Ein weltweites Moratorium könnte die Zeit bis zu einer multilateralen Vereinbarung überbrücken. (Siehe hierzu den Artikel von Wolfgang Kötter auf unserer Seite: "Aktive Opposition gegen Atomwaffen".)
Im Folgenden dokumentieren wir die Pressemitteilung der IPPNW und im Anschluss daran Auszüge aus einer Reihe von Kommentaren, die in der Tagespresse vom 8. Oktober zu lesen waren (FAZ, SZ, FR, Standard, junge Welt, Berliner Zeitung).



Ausbau der Atomenergie bedroht Frieden

Kritik an Friedensnobelpreis für IAEO

IPPNW Presseinfo vom 7. Oktober 2005

Berlin, den 7. Oktober 2005: Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis 1985, kritisieren die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Internationale Atomenergiebehörde IAEO. „Eine Behörde, deren Ziel es ist, den Ausbau der Atomenergie weltweit zu beschleunigen und auszuweiten, trägt nicht zu einer friedlichen und gesunden Welt bei. Im Gegenteil. Hinter der friedlichen Nutzung der Atomenergie verbirgt sich immer die Möglichkeit zum Bau der Atombombe, wie das Beispiel Iran, Indien oder Pakistan zeigen.“ sagt Ute Watermann, Sprecherin der IPPNW. „Ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Risiken der Atomenergienutzung.“

Zwar begrüßt die IPPNW das persönliche Engagement des IAEO-Chefs El-Baradei gegen die Invasion des Iraks und gegen einen möglichen militärischen Angriff auf den Iran. „El-Baradei hat außerdem immer wieder international auf die Dringlichkeit des Atomwaffenproblems hingewiesen“, sagt Ute Watermann. Aber seine Bemühungen im Kampf gegen die Ausbreitung von Atomwaffen wird durch die Verbreitung der Technologien zur sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie konterkariert. Durch die Ausbreitung der Atomenergie sind jetzt schon 44 Länder prinzipiell in der Lage, eine Atombombe zu bauen, darunter auch Deutschland, Japan, Belgien und Kanada. Die IAEO möchte zwar verhindern, dass noch mehr Länder dazukommen, aber gleichzeitig zementiert sie die bisherige diskriminierende Situation.

Die IPPNW ist ebenso wie das Friedensnobelpreiskomitee der Meinung, dass „die Bedrohung durch Atomwaffen wieder zunimmt“. Der einzige Weg dieser Bedrohung zu entgehen, ist eine vollständige Abrüstung der schon existierenden Atomwaffen mittels einer Atomwaffenkonvention und die endgültige Aufgabe der friedlichen Nutzung der Atomenergie bzw. die Förderung erneuerbarer Energien.

Die IPPNW kritisiert außerdem die Rolle der IAEO bei den Untersuchungen zu den Langzeitfolgen von Tschernobyl. Trotzdem die eigenen Wissenschafter der IAEO in ihrer im September 2005 veröffentlichten Studie eine sehr kritische Bestandsaufnahme der Tschernobylfolgen vorgenommen haben und großangelegte Studien forderten, um überhaupt zu Ergebnissen zu kommen, hat die IAEO nach außen die Auffassung vertreten, dass maximal 4000 Menschen an den Folgen von Tschernobyl gestorben seien und es bis auf die Schilddrüsenerkrankten keine weiteren gesundheitlichen Konsequenzen gegeben hätte. Für den Ausbau der Atomenergie und die Verharmlosung der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat die IAEO die Studie ihrer eigenen Wissenschaftler.

Weitere Informationen Dr. med. Ute Watermann oder Xanthe Hall

Quelle: www.ippnw.de


Kommentare

Stefan Kornelius von der Süddeutschen Zeitung kritisiert die Auszeichnung, weil sie den Preisträger in eine exponierte politische Rolle bringt, die für seine Arbeit eher hinderlich sei. So sei jetzt zu befürchten, dass im Streit mit Iran die Wiener Atombehörde davor zurückschreckt, den Fall vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen.

(...) Das Nobelkomitee greift zu einem besonders delikaten Zeitpunkt in die Arbeit der Behörde und damit in komplizierte internationale Probleme ein. Sie ergreift Partei für den Schiedsrichter und schiebt einen Mann in den Vordergrund, der eigentlich im Hintergrund agieren muss, wenn er Erfolg haben möchte.
Auch diesmal versteckt sich hinter der Auszeichnung wieder eine Botschaft an die USA, die el-Baradei und seine Mannschaft in der Irak-Krise schmählich missbraucht haben. Aber selbst für Washington gehört diese Episode der Vergangenheit an. Das Verhältnis zwischen den USA und der IAEA normalisiert sich wieder, Washington erkennt den Wert der Inspektoren an, sonst hätte es vor wenigen Wochen keinem Deal mit Nordkorea zugestimmt, bei dem die Aufpasser aus Wien wieder ihre Rolle spielen dürfen. Seitdem der Belzebub der Atomkontrolle, John Bolton, von seinem Posten als US-Abrüstungs-Staatssekretär entfernt wurde, muss auch el-Baradei nicht mehr um seine Rolle fürchten.
Diese Rolle hätte erfordert, dass el-Baradei in wenigen Tagen eine Entscheidung mitbefördert, die für die Zukunft der Atomkontrolle und der nuklearen Bedrohung von elementarer Bedeutung ist: Soll sich Iran vor dem UN-Sicherheitsrat verantworten müssen weil es nach der Bombe strebt? Die Antwort lautet eindeutig: ja. (...)
Die IAEA hätte nach einer Befassung des Sicherheitsrats die Aufgabe, Iran ein Kontroll-Korsett zu verpassen, in dem sich das Land mit einem zivilen Atomprogramm bewegen könnte. Mit Hilfe der Inspektoren wäre Vertrauen gebildet worden. Dazu muss die Behörde als neutrale Institution akzeptiert werden. (...) Nun ist der Mann exponiert, zu Recht gewürdigt für die verdienstvolle und mutige Arbeit. Manche Ehrung kann aber auch zur Last werden, besonders wenn das Politische eigentlich unpolitisch sein muss.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 8. Oktober 2005


Ganz anders bewertet Gudrun Harrer in ihrem Kommentar im Wiener "Standard" die Rolle der IAEO. Sie scheint sich überdies darüber zu freuen, dass "es nun besonders jenseits des Atlantiks ein paar Leute geben (wird), die sich ärgern", und schreibt weiter:

(...) Jenen wird der Rücken gestärkt, die meinen, dass eine Krisensituation wie der derzeitige Atomstreit mit dem Iran in ein internationales Gremium gehört – und nicht etwa in die Büros der Militärplaner im Pentagon. Dass ElBaradei diese Position auch ganz klar vor dem Irakkrieg 2003 im UNO-Sicherheitsrat vertrat, musste er 2005 bezahlen, als die USA seine dritte Amtszeit als IAEO-Generaldirektor lange blockierten.
Der Preis ist auch ein Vertrauensbeweis für die IAEO als Instrument im Dienst der internationalen Non-Proliferation, der Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen. Da gibt es natürlich auch den Agency-kritischen Ansatz, dass eine Behörde, deren ureigenste Aufgabe es eigentlich ist, die Verbreitung der Atomtechnologie, wenn auch friedlicher, zu promoten – und die dadurch gute Beziehungen zur Atomindustrie hat –, indirekt auch verantwortlich dafür ist, wenn diese Atomtechnologie dann für militärische Zwecke verwendet wird. (...)

Der Standard, 8. Oktober 2005


Klaus-Dieter Frankenberger räumt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwar auch ein, dass die Preisvergabe eine unverhohlene Kritik an Washington darstelle, trotzdem sei die Entscheidung des Nobel-Komitees richtig und gut. Zumal es in der Sache keinen Unterschied zwischen Washington und der Wiener Behörde gebe:

(...) Daß El Baradei einen anderen Ton an den Tag legt und einen anderen Stil pflegt, hat dabei vermutlich weniger mit Gutgläubigkeit zu tun als mit dem institutionellen Interesse, sich den Zugang seiner Behörde zu verdächtigen iranischen Atomanlagen nicht zu verbauen und als wichtiger Akteur im Spiel zu bleiben. Das ist legitim; am Ende wird nur zählen, ob es gelungen ist, Iran von einer militärischen Nutzung der Atomenergie abzuhalten.
In diesem grundsätzlichen Sinne ist die Wahl des Komitees rundherum zu begrüßen. Es hat, wie zuvor der UN-Generalsekretär - und der wiederum als helles Echo auf Bush -, die Weiterverbreitung und Weitergabe von Massenvernichtungswaffen als eine Hauptbedrohung des 21. Jahrhunderts erkannt. Diese Bedrohung würde vollends zur Apokalypse, wenn Terroristen in den Besitz von Nuklearwaffen gelangten - dieses Szenarium wird jedenfalls von Fachleuten für möglich gehalten. Daß mit der Preiszuerkennung auch die ausdrückliche Wertschätzung internationaler Zusammenarbeit verbunden ist, versteht sich da von selbst. Die Mahnung, mit der Abrüstung nicht innezuhalten, sondern sie fortzusetzen, ist irgendwie auch selbstverständlich. Nicht nur aus der Sicht Oslos.

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Oktober 2005


Knut Mallenthin kritisiert in der "jungen Welt" dagegen den politischen "Opportunismus" des Preisträgers. El Baradei habe schon vor dem Irakkrieg zu lange geschwiegen, bis er dann im Januar 2003 verlautbaren ließ dass der Irak über keine Massenvernichtungswaffen verfüge. Das habe nichts mehr am US-Feldzug geändert, "den er zuvor durch äußerst zweideutige Formulierungen auf den Weg zu bringen half". Weiter heißt es in der "jungen Welt":

(...) ElBaradeis Rolle in der seit zwei Jahren eskalierenden Kampagne der USA und der Europäischen Union gegen Iran ist ähnlich opportunistisch. Der IAEA-Chef widersetzt sich zwar einer Verlagerung des Streits in den UN-Sicherheitsrat, der Sanktionen beschließen könnte. Der Ägypter fordert statt dessen eine »diplomatische Lösung«, kann sich darunter aber offenbar überhaupt nichts anderes vorstellen als ein Einlenken Teherans gegenüber den Maximalforderungen von USA und EU. Der Friedensnobelpreis zeichnet in diesem Sinne nicht nur bereits vollbrachte Leistungen aus, sondern dient auch dazu, ElBaradei und seiner Behörde für die bevorstehende Konfrontation mit Iran Friedensengel-Flügel zu verleihen.
Verständlicherweise enttäuscht äußerte sich Hidankyo, die Organisation der überlebenden Opfer der US-Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki, der in diesem Jahr große Aussichten auf den Preis eingeräumt worden waren. Die IAEA sei »keine Organisation, die Friedensaktivitäten durchgeführt hat«, sagte Hidankyos Generalsekretär Terumi Tanaka, selbst ein heute 75jähriges Atombombenopfer.
Kritik aus anderer Richtung kam von der deutschen Naturschutzorganisation BUND und den Internationalen Ärzten gegen den Atomkrieg, IPPNW. Ein BUND-Sprecher bezeichnete die IAEA als »geschickt aufgebaute Tarnorganisation der Nuklearindustrie«. IPPNW verwies darauf, daß sich hinter der friedlichen Nutzung der Atomenergie immer die Möglichkeit zum Bau der Atombombe verberge, wie Iran, Indien oder Pakistan zeigten. Dieser Kritik würde wohl auch die US-Regierung zustimmen.

Aus: junge Welt, 8. Oktober 2005


Mehr Kritik als Lob auch in der Frankfurter Rundschau. Karl Grobe kommentiert:

(...) Keine Frage: El Baradei hat den Mut aufgebracht, zwei Weltmächten das Argument aus der Hand zu schlagen, Irak betreibe ein Atomwaffenprogramm. Auf den Erfolg der IAEO-Inspektionen bei der Unterbindung früherer Programme konnte er verwiesen. Den Krieg hat das jedoch nicht verhindert, dem Völkerrecht hat es nicht zur Geltung verholfen.
Zu den Aufgaben der Behörde gehört die Kontrolle darüber, ob der Atomwaffensperrvertrag eingehalten und dass die Nuklearenergie nicht militärisch verwendet wird. Den Aufstieg - wenn es denn einer ist - Pakistans und Indiens in den Kreis der Atomwaffenbesitzer hat sie nicht verhindert, die Entwicklungen dahin ebenso wenig kontrolliert wie die Bemühungen Israels; Nordkorea hat sich zeitweilig aus dem Sperrvertrag verabschiedet; Iran zieht unter anderem wegen der früheren Partnerschaft mit einem pakistanischen Fachmann für das Illegale und wegen der Tarnung und des Verschweigens mancher Projekte Misstrauen auf sich. (...)
Inspizieren und kontrollieren kann sie nur, wenn der zu kontrollierende Staat Sperrvertragspartner ist. Das macht im Zweifelsfall die Waffe der Inspektion so wirkungslos wie Aspirin gegen Tsunami. Aktive Opposition? Schön wäre es.
Bleibt die Aufgabe, die Sicherheit der zivilen Atomenergie zu gewährleisten. Von Three Miles Island über Tschernobyl bis Sellafield hat das nicht recht geklappt. Das Bemühen, nachher, war da. Es steht im Pflichtenheft. Darin steht aber auch, gegen das Unterlaufen des Sperrvertrags aufzutreten, wie es von nicht etablierten und von etablierten Atomwaffenmächten betrieben wird. Von lautem Aufbegehren gegen die neue Atompolitik Washingtons von 2001 ist indes wenig bekannt. Das mag ja noch kommen, der Nobelpreis mag den nötigen Mut verleihen; dann wäre er nachträglich gerechtfertigt.

Aus: Frankfurter Rundschau, 8. Oktober 2005


Roland Heine (Berliner Zeitung) geht in seinem Kommentar auf die Kritik der Anti-Atom-Bewegung an der Nobelpreis-Entscheidung ein - und weist sie zurück:

(...) Die Friedensnobelpreis 2005 gilt erklärtermaßen dem Einsatz der Preisträger für Nichtweiterverbreitung und für atomare Abrüstung. Auf diesem Gebiet ist die IAEO unverzichtbar, auch wenn sich ihre bisherigen Erfolge in Grenzen halten. Und: die Auszeichnung der multilateral arbeitenden IAEO ist eine wichtige Stellungnahme des renommierten Nobelkomitees gegen Alleingänge der Supermacht USA. Davon können ja bekanntlich auch die Umweltschützer ein Lied singen. Man denke nur an die Absage Washingtons an das Kyoto-Protokoll.

Aus: Berliner Zeitung, 8. Oktober 2005


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