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Friedensnobelpreis für die Weiterverbreitung der Atomenergie?

Ein Kommentar von Uli Cremer

Der diesjährige Friedensnobelpreis geht zu gleichen Teilen an die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) und an deren Generaldirektor El-Baradei als Person. Das Letztere kann man so machen, das Erstere ist absolut unangemessen und kontraproduktiv. Warum kann man El-Baradei den Preis verleihen? Er ist gerade erst in seinem Amt bestätigt worden – gegen den Widerstand der US-Regierung. Schließlich hatte der Ägypter 2003 den US-Krieg gegen den Irak behindert und dafür gesorgt, dass die Atompläne des Irans bisher nicht im UN-Sicherheitsrat behandelt werden konnten.

Insofern konzentrierte sich die US-Außenministerin auf das Kontraproduktive und fand nur die Verleihung des Preises an die IAEO "wohlverdient". Denn die IAEO ist eine Organisation, die die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindern helfen soll. Das tut sie, indem sie einseitig die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages durch die Staaten überprüft, die über keine Atomwaffen verfügen dürfen. Konkret ging es in den letzten Jahren insbesondere um Kontrollregimes gegen Irak, Iran und Nordkorea. Um den anderen wichtigen Aspekt des Vertrages, die atomare Abrüstung der Atommächte, kümmert sich die IAEO dagegen nicht. Deswegen ist sie z.B. für die US-Regierung eines zweckmäßige Organisation.

Die russische Anti-Atom-Organisation Ecodefense urteilte andererseits, das Nobelkomitee habe "den größten Fehler seiner Geschichte" begangen, und verwies auf die üble Rolle, die die IAEO beim Atomunfall von Tschernobyl gespielt habe. Weitere Kritik kam von anderen Organisationen, die gegen die Atomkraft arbeiten, z.B. von der IPPNW, dem BUND oder Greenpeace. Schließlich will die IAEO gemäß Artikel 2 ihrer Satzung "den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum Wohlstand ... beschleunigen und ... steigern."

Nun könnte man meinen, die Atomkraft-Anhänger würden vor diesem Hintergrund den Nobelpreis für die IAEO kräftig feiern und den Bau neuer AKWs verlangen – auch anlässlich des hohen Ölpreises und mit Verweis auf den Klimaschutz. Bisher haben die entsprechenden Verbände in Deutschland jedoch nicht einmal eine Presseerklärung oder ein Glückwunschschreiben an die IAEO veröffentlicht. Auch die Erklärung der Atomparteien CDU und CSU klingt recht verhalten. Diese sehen "die kontinuierliche und beharrliche Arbeit der IAEO auf dem Gebiet der sicheren friedlichen Nutzung der Kernenergie sowie vor allem als Hüterin des Nichtverbreitungsvertrages (NVV)" gewürdigt. Insofern haben die AKW-KritikerInnen die öffentliche Deutungshoheit über den verliehenen Friedensnobelpreis erlangt. Dadurch ist eine gewisse Schadensbegrenzung eingetreten.

Allerdings bedarf die an der IAEO geäußerte Kritik – gerade in Deutschland – einiger historischer Ergänzungen, die sich zuallererst auf den Atomwaffensperrvertrag beziehen, den die IAEO ja überwachen soll. Wie der Name nahe legt, enthält der Atomwaffensperrvertrag (NPT = Non-Proliferation Treaty = Nicht-Weiterverbreitungs-Vertrag) erst einmal Bestimmungen, die die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindern sollen. Genau das war das ursprüngliche Anliegen des Vertrages.

In seiner Endfassung wurde der Vertrag jedoch um einen Artikel 4 angereichert. Dieser legt fest, wie Weiterverbreitung der Atomenergie bewerkstelligt werden soll. Insofern tritt die IAEO einerseits als "Feuerwehr" auf und soll Feuer löschen. Andererseits hat sie den Auftrag, Förderungsprogramme für Brandstifter durchzuführen. Denn die Weiterverbreitung der "friedlichen" Nutzung der Atomenergie befähigt Nicht-Atomwaffen-Staaten dazu, das Know-how zum Bau von Atomwaffen zu erwerben. Sie werden "Atommacht im Wartestand" und suchen nach der passenden Gelegenheit, den letzten Schritt zu gehen. Der (Un-)Geist des Vertrages verpflichtet geradezu die USA, Frankreich, Deutschland oder Russland, dem Iran oder Nordkorea beim Aufbau einer AKW-Industrie zu helfen.

Den unseligen Artikel 4 hat in den 1960er Jahren an vorderster Front die damalige Bundesregierung durchgesetzt. 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war der westdeutsche Teilstaat durchaus wieder mächtig genug, internationale Akzente zu setzen. Die Bundesrepublik war keine US-amerikanische Schachfigur.

Wir erinnern uns: Als 1968 der Vertrag geschlossen wurde, regierte in Bonn eine Große Koalition. Die Atomparteien SPD/CDU/CSU sorgten dafür, dass der Atomwaffensperrvertrag mit dem deutschen Atomprogramm kompatibel war und höhlten damit das Vertragswerk aus. Gerade die SPD hatte auf die "friedliche" Nutzung der Atomenergie gepocht. In einer SPD-Presseerklärung versprach der damalige SPD-Kanzlerkandidat und spätere Friedensnobelpreisträger, Willy Brandt, eine SPD-geführte Regierung werde, "'unter Wahrung der berechtigten deutschen Sicherheitsinteressen' ein internationales NPT-Abkommen fördern und sich zugleich ‚mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die deutsche Industrie nicht Schaden leidet, sondern dass auch Deutschland seinen Beitrag zur modernen Forschung und friedlichen Nutzung der Atomenergie leisten kann." (SPD-Pressemitteilung vom 20.8.65)[1]

Auch andere Verwässerungen des Vertrages hatten ihren Ursprung in Bonn: So sorgte die Bundesregierung auch dafür, dass der Aufbau einen europäischen Atomstreitmacht, an der Deutschland teilnehmen könnte, mit dem Vertrag zusammenpasste.[2] Trotzdem stimmten 1975 immerhin 90 CDU/CSU-Abgeordnete im Bundestag gegen die Ratifizierung, darunter übrigens auch der spätere NATO-Generalsekretär Wörner.

Noch 1996 wurde in bundesdeutschen Think Tanks darüber sinniert, ob nicht Deutschland doch den Status einer Atommacht anstreben sollte. Erwin Häckel, Atomwaffenstratege des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), rief in Erinnerung: "Bei Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages (1969/1975) hinterlegte die Bundesregierung eine Liste von Vorbehalten, von denen manche obsolet geworden, wenigstens zwei aber heute noch relevant sind: die Bindung an die NATO-Mitgliedschaft und die sogenannte 'Europäische Option' – womit die Möglichkeit der nuklearen Bewaffnung eines europäischen Bundesstaates unter Einschluss Deutschlands gemeint ist. Diese Vorbehalte wurden zwar anlässlich der Vereinigung 1990 nicht ausdrücklich für das vereinte Deutschland erneuert, müssen aber weiterhin als rechtsgültig angesehen werden."[3]

Und in einer früheren Veröffentlichung des Strategen heißt es: "Man muss jedoch sehen, dass der deutsche Kernwaffenverzicht zwar ohne Vorbehalt ausgesprochen wurde, aber nicht vorbehaltlos gemeint sein kann. Er wurde ausgesprochen im Namen eines Staates, der seit seinen Anfängen als kernwaffenloser Staat in einem kollektiven Verteidigungssystem durch die Kernwaffen seiner Verbündeten geschützt ist. Zur fortdauernden Hinnahme der nuklearen Wehrlosigkeit durch die Deutschen gehört die fortdauernde Hinnahme einer Mitverantwortung für die Sicherheit der Deutschen durch ihre nuklear bewaffneten Verbündeten. Dies auszusprechen, heißt nicht, heimlichen Gelüsten nach Kernwaffen für die Bundesrepublik das Wort zu reden. Eine nationale Kernwaffenrüstung Deutschlands wäre unter keinen denkbaren Umständen zu wünschen. Es heißt vielmehr, dass die Bundesrepublik einen legitimen Anspruch hat (und ihn auch geltend machen sollte), in einem internationalen System, in dem Kernwaffen existieren, nicht allein gelassen zu werden. Erst wenn dieser Anspruch auf Dauer ignoriert wird, könnte Deutschland als Proliferationsherd relevant werden."[4]

Mit anderen Worten: Würde Deutschland auf Dauer die Mitverfügung über Atomwaffen nicht zugestanden, wurde noch 1996 mit einem nuklearen Alleingang, damit dem Bruch des Atomwaffensperrvertrages, gedroht.

Die riesengroßen Lücken und Widersprüche im Atomwaffensperrvertrag, die sich heute Proliferationsherde wie Iran zu Nutze machen, sind also von Deutschland verursacht worden. Und die deutsche politische Elite müsste dies eigentlich wissen. Es wäre ein notwendiger Akt der politischen Hygiene, wenn heutige Bundesregierungen auf die historischen Fehltritte Deutschlands einmal hinweisen würden. Auch der konsequent betriebene Ausstieg aus der Atomenergie würde Deutschlands Non-Proliferations-Glaubwürdigkeit erhöhen. Diese wäre für eine politische Initiative, den Atomwaffensperrvertrag zu einem wirklichen Non-Proliferationsinstrument weiterzuentwickeln, sehr hilfreich. Das ist nämlich bitter nötig, denn der gegenwärtige Vertrag ist ungeeignet, die Weiterverbreitung der Atomwaffen aufzuhalten.

Wenn der Friedensnobelpreis für die IAEO eine politische Debatte in diese Richtung in Gang brächte, wäre diese Wahl des Nobelpreiskomitees vielleicht doch nicht so kontraproduktiv.

Fußnoten:
  • Zitiert nach: Matthias Küntzel: Bonn und die Bombe, Frankfurt/M und New York 1992, S. 124.
  • Details dazu finden sich im Standardwerk von M. Küntzel (Anm. 1).
  • Erwin Häckel: Die Nicht-Verbreitungspolitik im außenpolitischen Interessengefüge des vereinten Deutschland, in: Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. 3: Interessen und Strategien (Herausgegeben von Karl Kaiser und Joachim Krause), München 1996, Fußnote S. 257.
  • Erwin Häckel/Karl Kaiser: Kernwaffenbesitz und Kernwafffenabrüstung: Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa?, in: Joachim Krause (Hrsg.): Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden-Baden 1994, S. 540. Uli Cremer hat 2005 im "Schwarzbuch Rot-Grün" eine Bilanz der rot-grünen Außenpolitik veröffentlicht. Er ist Mitglied der GRÜNEN, war Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative 1999 und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN.

    (12.10.2005) Website "Sozialismus" (News vom 14.10.2005): www.sozialismus.de


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