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Lebenswerter Frieden ist der schwerste Schlag gegen den Terrorismus

Laudatio zum Aachener Friedenspreis 2002

Von Daniela Dahn (Berlin)

Kriege werden nicht von Völkern gewonnen. Nur von Regierungen. Eine Minderheit verdient dabei soviel, wie die Menge draufzahlt. Das war schon immer so. Warum lassen sich das die Menschen seit mehr als zwei Jahrtausenden gefallen?

Je länger man darüber nachdenkt, je weniger versteht man es. Weil Denken etwas ziemlich Rationales ist, Bekriegen aber etwas ziemlich Irrationales. Ohne die herrschende Paranoia, ohne die Mobilisierung von Haß und Rache, ohne die Lust auf Aggression und Tod, ohne den Mißbrauch religiöser Gefühle oder patriotischer Ideen, ohne Unwissen und Desinformation – kurzum ohne Unaufgeklärtheit, wäre soviel Vernichtungswille nicht nachvollziehbar. "Eins (irgendwann) müt doch de Jungfern da oben mal alle sen!", wundert sich ein mecklenburger Bauer über die anhaltende Zuversicht der Selbstmordattentäter. Alles beginnt mit dem Zweifel. Das war schon in der biblischen Geschichte so.

Doch Aufklärer sind die Minderheit der Minderheit geblieben. Denn in wohlig-taumeliger Verblendung werden Weckrufe als schmerzliche Störung empfunden. Aber Schmerz, das weiß man, ist ein hilfreiches Signal. So ist es mir eine große Freude, heute zwei solche aufklärerischen Zweifler würdigen zu dürfen: Die kalifornische Kongreßabgeordnete Barbara Lee, der das Abstimmungsergebnis zum Afghanistan-Krieg von 1: 420 zu verdanken ist und den Lehrer Bernhard Nolz, der mit seiner engagierten Friedensrede den Schulfrieden gestört hat.

Stein des Anstoßes*

Stein des Anstoßes war in beiden Fällen die ablehnende Antwort auf die Frage, ob ein Krieg gegen Afghanistan eine angemessene Reaktion auf die mörderischen Terroranschläge gegen die Menschen im World Trade Center, im Pentagon und in den entführten Flugzeugen sein könne. Für die einen Grund zur Empörung, war die Ablehnung für den Verein des Aachener Friedenspreises, der heute zum 15. Mal vergeben wird, Anstoß zur Auszeichnung.

"Ich spreche zu Ihnen schweren Herzens und voller Mitgefühl für die Opfer", hatte Barbara Lee in ihrer bewegenden Rede vor dem Repräsentantenhaus am 14. September 2001 gesagt. Zur Entscheidung stand die Resolution "Use-of-force", die Präsident Bush ermächtigen sollte, allein über Art und Umfang des Gegenschlages zu entscheiden. Der Senat hatte die Resolution bereits einstimmig beschlossen. "Ich weiß", sagte Barbara Lee, "daß die Resolution zur Ermächtigung militärischer Gewalt dieses Haus passieren wird... aber einige von uns müssen auf Zurückhaltung drängen. Es muß einige unter uns geben, die sagen: Laßt uns für einen Moment inne halten und die Folgen unserer Taten bedenken – laßt uns die Konsequenzen genau überlegen...Wir müssen aufpassen, daß wir nicht in einen endlosen Krieg ohne Ausstiegsszenario oder konkrete Zielvorgaben steuern. Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen."

Drei Tage später hat Bernhard Nolz auf einer Kundgebung vor 1500 Schülern in Siegen ganz ähnlich gesprochen. Er erzählte, was es bedeuten konnte, zu RAF-Zeiten an einer Demonstration teilgenommen zu haben – und sei es, wie in seinem Fall, auch nur für ein Schwimmbad: nämlich als Verfassungsfeind verfolgt zu werden. "Die Zeit der Verdächtigungen und Beschuldigungen, ein Terrorist zu sein, war furchtbar für mich. Ich möchte so etwas nicht wieder erleben. Deshalb wehre ich mich dagegen, daß zur Jagd auf Terroristen geblasen wird. Vielmehr sind Besonnenheit und Mäßigung gefragt, um die Spirale der Gewalt zu stoppen. Rachefeldzüge und Vergeltungsschläge machen alles nur noch schlimmer und sie treffen Unschuldige!"

Mit ihrer Haltung jenseits des Mainstreams bedingungslosen Mitmachens haben beide Preisträger heftige Kontroversen ausgelöst. Aber Angriffe sind bekanntlich kein Beweis dafür, daß man etwas falsch gemacht hat. Nur dafür, einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Den Sinn einer solchen Lobrede sehe ich vor allem darin, zu begründen, weshalb viele Menschen der Meinung sind, es war mutig, richtig und wichtig, wie Barbara Lee und Bernhard Nolz sich geäußert haben.

Afghanistan nach einem Jahr Krieg

Haben sich die Befürchtungen der beiden bestätigt? Ist nach einem Jahr "alles nur noch schlimmer"? Nachdem viele bezweifeln, ob das Hauptkriegsziel, nämlich die Zerschlagung des Al Qaida Netzes erreicht ist und jeder weiß, daß das Hauptpropagandaziel, nämlich die Festnahme von Osama Bin Laden und Taliban-Anführer Mohammed Omar mißlungen ist, wird der Krieg im nachhinein gern als humanitäre Intervention gerechtfertigt. Und damit lassen sich angesichts des erlösenden Endes der Schreckensherrschaft der Taliban gerade auch friedvolle Menschen beschwichtigen.

Aber Krieg ist immer Versagen von Politik. Wieviel ist von der Fähigkeit von Politikern zu halten, die das Recht, Musik zu hören und Mädchen in die Schule zu schicken nur herbeibomben können? Insbesondere seit man weiß, daß sie die Kultur- und Frauenfeinde durch jahrelange Unterstützung erst zu all den grauenvollen Menschenrechtsverletzungen ermutigt haben? In den 80er Jahren wurden an der Universität von Nebraska im Auftrag der CIA Schulbücher verfaßt, die afghanische Flüchtlingskinder zur nächsten Generation fanatischer Kämpfer erziehen halfen.[1] In der größten verdeckten Operation ihrer Geschichte rekrutierte und finanzierte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus den umliegenden islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion. Die Rechnung ging auf, aber den unumschränkten Zugriff auf Gas und Öl der Region wollten die Gotteskrieger nicht garantieren. Waren die Taliban, einst eine marginale Sekte, gegen die von den Vereinten Nationen in den Jahren 1999 und 2000 verhängten - inkonsequenten - Sanktionen nicht auch deshalb so resistent, weil die konkurrierenden Interessen der Großmächte eine konsequente internationale Koalition gegen den fundamentalistischen Terror wie in einem Nullsummenspiel blockierten?

Gegen die Verheerungen von einem Vierteljahrhundert Krieg und Verbrechen gab es keine einfache Lösung. Wer aber statt Besinnung, Demut und Menschlichkeit Krieg bevorzugt, muß sich am Ergebnis messen lassen. Sich ein realistisches Bild über den heutigen Alltag in Afghanistan zu machen, ist schwer. Das hiesige Fernsehen sendet fast täglich eine in entlegensten Regionen stattfindende "Expedition ins Tierreich", eine "Expedition ins Menschenreich" Afghanistan ist meines Wissens von den Sendern schon lange nicht mehr finanziert worden. Sammelt man die in der internationalen Presse verstreuten Berichte, verfolgt Einschätzungen von NGOs und Aussagen von Augenzeugen, rundet sich ein erschütterndes Bild: Nach dem Sturz der totalitären Taliban haben sich die Strukturen der Bürgerkriegszeit wieder etabliert. Außerhalb Kabuls sind die Warlords, die alten, brutalen Kombattanten, die wahren Herrscher, die dem zwischen allen Stühlen sitzenden Chef der Übergangsverwaltung, Hamid Karsei, oft feindlich gegenüber stehen. Denn der Krieg ist ja nicht zu Ende.

Zwar beginnt die Ausgangssperre in Kabul inzwischen erst um 23 Uhr, aber schon zwei Stunden vorher sind die Straßen leer. Die großzügig mit amerikanischen Handys ausgestatteten Warlords mißbrauchen die US-Forces für ihre eigenen Rivalitäten. Sie rufen bei den Militärs an und behaupten, Al Qaida-Leute seien in diesem oder jenem Dorf, und schon werden Unschuldige bombardiert.[2] Oft folgt dann ein Trupp amerikanischer Soldaten, besessen von der Idee, endlich Terroristenführer dingfest zu machen.

Im Dorf Hajibirgit wurden im Mai 2002 bei einem solchen Überfall die als Sympathisanten verdächtigten Bewohner mißhandelt, die Frauen gefesselt und Granaten in die Häuser geworfen, in denen man verschanzte Kämpfer vermutete. Dabei starben die dreijährige Zarguna und der 85 jährige Bauer Haji Birgit Khan, weitere Bewohner wurden verletzt. Alle Männer wurden in Handschellen und mit verbundenen Augen abtransportiert. Als sie Tage später nach schikanösen Verhören, die nichts ergaben, zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser von Banditen geplündert und zerstört, die Familien in die Berge gejagt. Die im Geisterdorf gefundenen Granaten der Amerikaner trugen den Prägestempel der Hamburger Firma Nico-Pyrotechnik und das Herstellungsdatum März 2002.[3]

Ein Karsai-Soldat versucht das amerikanische Verhalten zu erklären: "Wenn wir in ein Dorf kommen und sehen einen Bauern mit einem Bart, dann sehen wir einen afghanischen Bauern mit einem Bart. Wenn Amerikaner in ein Dorf kommen und sehen einen Bauern mit einem Bart, dann sehen sie Osama bin Laden."

Wie dieser Krieg geführt wird, ist ein einziger Verstoß gegen geltendes Völkerrecht: Immer wieder kommt es vor, daß amerikanische Piloten auf dem Rückflug von Einsätzen, wahllos Bomben abwerfen, um leichter landen zu können. Ob der Kajakai-Staudamm oder das Krankenhaus in Kandahar, Moscheen oder Rot-Kreuz-Unterkünfte, Büros für Minenräumung oder ein Lebensmittellager für 55000 Menschen - alles ist bombardiert worden. Die um Tora Bora zur Explosion gebrachten Benzinbomben haben im Umkreis von Kilometern jedes Lebewesen durch Verbrennung der Atemluft erstickt und Waldbrände entfacht, die lange nicht unter Kontrolle waren.

Ob die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung durch abgereichertes Uran in Munition besteht, wurde bisher nicht untersucht. Ärzte beschreiben Sterbesymptome, die dafür sprechen. Die flächendeckend verstreuten, noch nicht explodierten Cluster-Bomben, lassen - zusammen mit den Landminen früherer Kriege - jede Feldarbeit für die Bauern noch auf unabsehbare Zeit zum Himmelfahrtskommando werden. Jeden Monat sollen mehr als 300 Menschen durch diese Minen verletzt oder getötet werden.

Die Zwecklüge, Krieg sei beherrschbar, wird durch die zivilen Todesopfer immer wieder ad absurdum geführt. Inzwischen geht man von 5.000 aus.[4] Die Verkrüppelten und Traumatisierten bleiben ungezählt. Alles bettelarme Menschen, die oft nicht einmal wußten, was am 11. September überhaupt passiert war. Die meisten Männer und fast alle Frauen sind Analphabeten. Millionen Menschen hungern und frieren in Höhlen und Ruinen. Strom gibt es gelegentlich in den privilegierten Stadtvierteln Kabuls, wo auch alle vier Tage für zwei Stunden Wasser fließt. Kaum beschädigte Häuser werden zu überhöhten Preisen an ausländische Geschäftsleute und Hilfsorganisationen vermietet. Dabei beschränkt sich der Wiederaufbau vorerst auf einige Prestigeobjekte. Die auf der "Geberkonferenz" im Januar in Tokio zugesagte Gabe von fünf Milliarden Dollar liegt auf Eis, bis absehbar ist, was nach der Loya Jirga, der Großen Ratsversammlung, kommen wird.

Natürlich sind die ersten Wiederbelebungsversuche von Demokratie ermutigend. Aber die meisten Afghanen erfahren nichts davon. Sie können nicht lesen. Und das "friendly fire" der Amerikaner hat die beiden Kabuler Übertragungsstationen für Radio und Fernsehen zerstört; auch sind 15 der 22 Transmitter im Land in die Luft gesprengt worden. So gibt es kein Telefonnetz mehr, und, mit Ausnahme von Kurzwellenradio, auch keine Anlagen für Massenmedien. "Ich habe keine Möglichkeit, mit meinem Volk zu kommunizieren", räumte Hamid Karzai gegenüber der BBC resigniert ein.

Um so erfreulicher, daß Mädchen nun wieder zur Schule und Frauen zur Arbeit gehen dürfen. Aber die meisten können davon keinen Gebrauch machen. Viele Eltern können sich nicht einmal das Paßfoto zur Schulregistrierung ihrer Kinder leisten. "Wir haben jetzt die Freiheit zu betteln", hört man verbittert. Eine Vertreterin des Hilfswerks terre des hommes hat beobachtet, daß 95 Prozent der Frauen in Kabul ihre Quartiere weiterhin nicht verlassen.[5] Selbst wenn ihre Männer es ihnen erlaubten, fehlt das Geld für Busse oder Dreirad-Taxen. Damit sind sie auch von den Resten medizinischer Versorgung ausgeschlossen. Afghanistan hat nach wie vor die höchste Kinder- und Müttersterblichkeit der Welt.

Vor ausländischen Kameras wurden medienwirksam die Burghas abgelegt, aber im wirklichen Leben wagen besonders die jüngeren Frauen auf der Straße aus Angst vor Säuregüssen ins Gesicht, vor Vergewaltigung und Prügel, die ungeschriebene Vorschrift des Vollschleiers nicht zu durchbrechen. Selbst bei 40 Grad im Schatten hängen sie sich immer noch die demütigenden Säcke um. Gäbe es Fernsehen, Sängerinnen dürften auch heute dort nicht auftreten, weil es als unislamisch gilt, klagt die junge Schauspielerin Zamzama. Einen Paß bekommen Frauen weiterhin nur, wenn ein männlicher Verwandter mit auf die Reise geht. Die erste Frauenministerin Sima Samar wurde abgesetzt, nachdem sie es gewagt hatte, das Tabuthema Geburtenkontrolle anzusprechen.[6]

Kriegsdienstverweigerer oder "Terroristenfreund"?

Die Akzeptanz westlicher Werte läßt sich eben schlecht herbeibomben. War es zwangsläufig, daß diejenigen, die dies rechtzeitig vorausgesagt haben, soviel Anfeindung auf sich zogen?

In seiner Gedenkrede zum 11. September hat Bernhard Nolz den Schülern Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4 des Grundgesetzes empfohlen. Legal war das sowieso, aber gemessen an den beschriebenen Folgen des Krieges war es auch legitim und weitsichtig. Daß dies und seine kritische Sicht auf amerikanische Gewaltpolitik Diskussionen auslösen würde, war erwünscht. Jedenfalls vom Lehrer Bernhard Nolz, seit Jahren ehrenamtlicher Geschäftsführer des Zentrums für Friedenskultur in Siegen. Denn Meinungsverschiedenheiten nicht vertuschen, sondern darüber reden, auch streiten, gehört zur Friedenskultur. Aber die Leitung seiner - ausgerechnet nach der Pazifistin Bertha von Suttner benannten - Gesamtschule sah das anders. Man beklagte, daß das Klima an der Schule durch "Unruhe, Unsicherheit und Auseinandersetzungen" geprägt sei – was doch die einzig normale Reaktion auf ein so unnormales Ereignis ist. Doch Nolz wurde in der Lokalpresse plötzlich schon wieder als Verfassungsfeind und Terroristenfreund verdächtigt.

Aus "Fürsorgepflicht gegenüber der Schule" hat dann die Bezirksregierung Arnsberg "dringend und unabweisbar geboten", Bernhard Nolz an eine von Siegen 50 Kilometer entfernte Schule zu versetzen, auch wenn der Personalrat für Lehrer an Gesamtschulen dem nicht zugestimmt hat. In Siegen aber gibt es Rüstungsindustrie, da war mit Kriegsakzeptanz zu rechnen. Der Kreisvorstand Hanau der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft war besorgt: "Der Verdacht drängt sich auf, daß es weniger um die Person Bernhard Nolz geht, als um die Abschreckung aller Lehrerinnen und Lehrer, die den Krieg in Afghanistan anders beurteilen als die Bundesregierung." Ein deutscher Beamter hat nicht zu kritisieren, und schon gar nicht die USA. Schließlich mußten sich auch die Mitarbeiter von Bild und Welt vertraglich zu positiver USA-Berichterstattung verpflichten.[7] Da wundert es schon kaum noch, wenn Kreisschulrat Mubatsch nach dem 11. September in einer Information des Schulamtes Prignitz die ihm unterstellten Lehrer entmündigt: "Es ist ihre Aufgabe, konsequent die Einschätzung der Landes- und Bundesregierung zu übermitteln. Die Freiheit der Lehrkraft geht keineswegs so weit, die eigene politische Einstellung in die Erziehungsarbeit einzubringen."

Solch dreiste Gefolgschafts-Forderungen verdeutlichen das Ausmaß an Zivilcourage von Bernhard Nolz. Als Bundesvorsitzender der Vereinigung "Pädagogen für den Frieden" verteidigt er zum Preis erheblicher persönlicher Repressionen unser aller Freiraum, abweichende Meinungen halbwegs unbeschadet vortragen zu können. Daß ihm heute der Aachener Friedenspreis verliehen wird ist Ausdruck dafür, daß Bürger dies zu schätzen wissen und ihn nicht allein lassen.

Barbara Lee: "Verräterin an der amerikanischen Sache"

Gleiches gilt für die unbeugsame Barbara Lee, deren Alleingang für sie noch dramatischere Folgen hatte. Dabei hatte sie schon Erfahrung als Außenseiterin: Ihre innenpolitischen Schwerpunkte als Abgeordnete sind der Kampf gegen die Armut, die Ausgrenzung von Minderheiten und Frauen, verbesserte Umweltstandards, außenpolitisch hat sie sich neben der globalen Hilfe für Aids-Kranke immer für Gewaltprävention stark gemacht. Schon 1998 und 1999 stand sie ganz allein auf weiter Kongreß-Flur, als sie gegen die Bombardierung Iraks und Jugoslawiens stimmte, was ihr nicht nur Sympathien einbrachte. Doch im Klima patriotischen Vergeltungswillens nach dem 11. September wurden alle Kritiker des Krieges gegen Afghanistan unamerikanischer Umtriebe verdächtigt. Barbara Lee galt als "Verräterin an der amerikanischen Sache". Auf dem Anrufbeantworter ihres Büros ertönten nur noch furchterweckende Beschimpfungen und ihr Faxgerät spuckte endlos Haßtiraden aus. Nach mehrfachen Morddrohungen mußte ihr e-mail-Zugang gesperrt und sie selbst unter Polizeischutz gestellt werden.

Verständlich, wenn auch traurig, daß unter diesen Umständen auch viele Intellektuelle die seit McCharthy nicht mehr gekannte Angst ergriff, eine politisch nicht als korrekt geltende Meinung zu äußern. Das hat in Europa viele schockiert. Um so mehr sind wir angewiesen auf die Brücke, die Barbara Lee uns zum anderen Amerika gebaut hat. Ein Amerika, das für die Entwicklung des demokratischen Gedankens große Verdienste erworben hat und auf das wir unsere Hoffnungen setzen. In dem wir Menschen wissen, die unsere Ansichten teilen und die auf unsere Ermutigung genauso angewiesen sind wie wir auf ihre.

Krieg ist die exzessivste Form von Terrorismus. Ich sage dies nicht als Pazifistin. Ich akzeptiere Kapitel VII, Art. 42 der UNO-Charta: Wer angegriffen wird, muß sich verteidigen dürfen und Verbündete hinzuziehen können. Ich weiß, dass dieser Punkt in der Bürgerinitiative zum Aachener Friedenspreis nicht unumstritten ist. Doch die Charta erhebt sehr, sehr strenge Voraussetzungen für die Anwendung von Waffengewalt, wohl wissend, daß Begriffe wie Angriff und Verteidigung, Diktator und Freiheitskämpfer, Gut und Böse, Siegerdefinitionen sind. Alle präventiven, zivilen, diplomatischen Lösungsmöglichkeiten müssen ausgeschöpft sein, es muß einen gemeinsamen Plan für den auf militärische Ziele beschränkten Einsatz zugelassener Waffen geben. All das ist bisher in keinem einzigen Fall eingehalten worden.

„Militärische Zwangsmaßnahmen“, wie sie die UNO-Charta unter strengen Auflagen erlaubt, dürfen nicht in Kriege ausarten. Verteidigung ist Notwehr und nicht gestaltende Politik. Auch Verteidiger sind an das Kriegsvölkerecht gebunden. Bei Verstoß dagegen ist die unbedingte Haftbarkeit unterschiedslos aller an dem Einsatz Beteiligten zu verlangen. Deshalb sollten nur solche Staaten in eine UNO-Mandatierung einbezogen werden, die sich der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes und des Internationalen Strafgerichtshofes unterworfen haben. Staaten, die den zu heilenden Konflikt zuvor selbst mit geschürt haben, müssen unter allen Umständen von der UNO-Mandatierung ausgeschlossen werden. Großmächte sollen wissen, daß es sich nicht lohnt, demokratisch gewählte Regierungen zu stürzen und Diktatoren zu stützen, weil sie später keine Chance haben werden, unter dem Vorwand der Friedensstiftung ihre Interessen militärisch durchzusetzen.

Gleiches gilt für den Fall, daß der Weltfrieden nachweislich in Gefahr ist. Für den opferreichen Kampf der Alliierten im Zweiten Weltkrieg haben gerade wir Deutschen noch heute dankbar zu sein. Dennoch ist es verfehlt, diesen Kampf als rechtfertigende Parallele für den Afghanistan-Krieg zu mißbrauchen. Bei aller Einigkeit darüber, daß es für Terrorismus keine moralische Rechtfertigung gibt und bei allem Mitgefühl für die Opfer, kann man den Überfall auf halb Europa doch nicht mit dem Überfall auf zwei Hochhäuser gleichsetzen. Aber wichtiger noch: Weder hatten die Alliierten die Nazis zuvor finanziert und ausgebildet, noch gab es den geringsten Zweifel an der Täterschaft und einem einmaligen Ausmaß an Schuld der Nazis.

Im "Friedensgutachten 2002", erstellt von den fünf deutschen Friedensforschungsinstituten, heißt es: "Das militärische Vorgehen der USA war nur gerechtfertigt, falls die USA über einen sicheren Nachweis verfügen, daß Al Qaida die Urheberin der Anschläge war. Der Öffentlichkeit ist ein solcher Nachweis bisher nicht vorgelegt worden." Alles, was wir haben, sind dubiose, schwer verständliche Videos, bei denen verfälschende Übersetzungsfehler nachgewiesen wurden. Außerdem haben Techniker im Fernsehen demonstriert, wie man heute, hat man als Ton eine Stimme und als Bild ein sprechendes Gesicht, per Computer jede Mundbewegung und jedes Wort simulieren kann, das man haben will.

Ein Selbstverteidigungsrecht auf Verdacht gibt es nicht. Auch kein Auslieferungsrecht auf Verdacht. Krieg ist kein Mittel der Strafverfolgung, die nämlich kollektive Todesstrafe nicht kennt. Die Höchststrafe für Nichttäter ist durch keinerlei allgemeinen Nutzen gedeckt. Auch nicht den der Vergeltung. Dies wäre ein Rückfall in archaische Racherituale. Dem Islam wurde in jüngster Zeit oft nachgesagt, er sei im Mittelalter stehen geblieben und habe die Aufklärung noch vor sich. Doch was man aus den USA in letzter Zeit hört, fällt noch zurück hinter das Alte Testament, das mit seinem Auge um Auge und Zahn um Zahn immerhin ein Maß setzte, das nicht überschritten werden durfte.

US-Intellektuelle für "gerechten Krieg"

Führende Politiker und Intellektuelle der USA machen sich inzwischen lustig über die Rechtsgläubigkeit der Europäer. Der Experte für US-Außenpolitik Robert Kagan spricht von "Europas neuem Idealismus", vom "postmodernen Evangelium", das in der "Entdeckung des ewigen Friedens" bestehe und in Amerika als "nervtötend, irrelevant, naiv und undankbar" empfunden wird. "Die Europäer wünschen sich heute ...eine Welt, in der das einseitige Vorgehen von Supermächten untersagt ist und in der sich alle Staaten, ganz gleich wie mächtig sie sind, an vereinbarte Verfahrensregeln halten... Wer machtpolitisch in der Lage ist, Unilaterismus zu praktizieren, für den ist er zwangsläufig attraktiver als für andere."[8]

Und der Philosoph Michael Walzer behauptet, wir seien "mit einer abgespeckten, also minimalistischen Lesart der Menschenrechte am besten bedient: sobald menschliches Leben und menschliche Freiheit auf dem Spiel stehen." Dann "sollte jeder helfen, der helfen kann. Das klingt wie eine plausible Maxime für humanitär begründetes Eingreifen: Wer kann, der sollte."[9] Das ist deutlich genug. Aber dieser einzige soll auch noch "nach Maßgabe der eigenen Bewertung" handeln. Das ist eine unreflektierte Apologetik von Naturrecht, die gewachsene Rechtskultur um Jahrhunderte zurückwirft.

Gerade angesichts des angekündigten Krieges gegen Irak muß wieder davor gewarnt werden, Vernunft durch Moral zu ersetzen, also Gesetze, Verträge, Charten - durch Empörung. Denn die Moral ist per Definitionshoheit aufs Angenehmste immer auf der eigenen Seite. Ausnahmslos alle Kriege haben mit einer moralischen Legende begonnen. Gesponnen aus Propaganda, Desinformation und Delegation des Übels an einen Sündenbock.

Eben um die Gewähr zu haben, nicht wieder im Chaos der "gerechten Kriege" zu versinken, ist die aus den Erfahrungen zweier Weltkriege leidvoll erworbene Moral der Völker geronnen im modernen Völkerrecht. Ein gleiches Recht konsensgebundener Subjekte, mit dem Ziel, Gewalt- und Herrschaftsstrukturen in den internationalen Beziehungen zu nivellieren, also zu demokratisieren. Was eine ständige, kollektive Weiterentwicklung dieses Rechts nicht nur einschließt, sondern voraussetzt.

Helfen, sobald Freiheit und Leben auf dem Spiel stehen? Was für ein Hohn! Jährlich sterben mehr als 50 Millionen Menschen an Unterernährung, Seuchen und heilbaren Krankheiten. Das heißt, jedes Jahr kostet die Menschheit etwa so viel Opfer wie der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren. Hier könnte Michael Walzer doch, nach eigener Maßgabe helfend, seine Autorität ins Spiel bringen. Etwa mit dem Hinweis, daß 40 Milliarden Dollar pro Jahr reichen würden, um die schlimmste Armut auf der Welt zu beseitigen. Wer kann, der sollte? Statt dessen wird das Zwanzigfache für Rüstung ausgegeben. Die USA sind stolz auf den höchsten Rüstungsetat ihrer Geschichte, und auch die Bundesrepublik gibt derzeit siebenmal mehr für Rüstung aus als für Entwicklungshilfe. Eine teuer erkaufte Freiheit vom Elend der Welt.

Max van der Stoel, Hoher Kommissar der OSZE: "Es ist meine feste Überzeugung, daß Kapital, das in Konfliktverhütung investiert wird (und ich sage absichtlich: ´investiert´, nicht bloß ´ausgegeben´), gut und sinnvoll investiertes Kapital bildet. Denn Konfliktverhütung ist preiswerter als friedenserhaltende Maßnahmen, und diese sind wiederum preiswerter als Krieg." Für das Geld, das der Kosovo-Krieg gekostet hat, so haben Fachleute berechnet, hätte man jeder Familie im Kosovo ein neues Haus mit Swimmingpool bauen können.

Am Frieden und am Krieg verdienen nicht die selben. Letztlich entscheiden aber Regierungen, wer woran verdient. Überlassen wir deren Beeinflussung nicht den Waffenlobbyisten. Lebenswerter Frieden ist der schwerste Schlag gegen den Terrorismus. Gehen wir mit dieser Überzeugung nach dem Vorbild von Barbara Lee und Bernhard Nolz an die Öffentlichkeit. Lassen wir Politiker wissen, daß wir Regierende und zu Wählende an diesem Maß messen werden.

Ich wünsche Bernhard Nolz weiterhin soviel Verständnis an seiner neuen Schule, soviel Solidarität seiner Gewerkschaft und viele Mitstreiter in der Friedensbewegung. Ich wünsche auch Barbara Lee Kraft und Zuspruch von Gleichgesinnten, die dafür sorgen mögen, daß sie im November wiedergewählt wird. Ich wünsche uns und allen Menschen, daß wir in Frieden leben können.

Fußnoten
  1. "Tal der Trauer, Aufstand der Frauen“, in: Der Standard 13.7.2002
  2. Siehe Financial Times vom 9.7.2002, S. 5
  3. Robert Fisk: One Year On In Afghanistan, in: sysop@zmag.org
  4. Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.7.2002, S. 3
  5. Siehe Neue Zürcher Zeitung vom 15.6.2002, S. 9
  6. Siehe Süddeutsche Zeitung vom 27.6.2002, S.10
  7. Siehe Interview mit Freimut Duve im Wiener Standard vom 19.11.2001
  8. Siehe DIE ZEIT Nr. 29, 11.7.2002, S. 9
  9. Michael Walz: Was heißt humanitär begründetes militärisches Eingreifen? Frankfurter Rundschau 22.1.2002

* Die Zwischenüberschriften haben wir eingefügt. AGF


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