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Mutiger Einsatz für Menschenrechte

Aachener Friedenspreis 2004 an türkische Anwältin und Petersburger Soldatenmütter verliehen - Friedenspreis meidet die großen Namen

Am 1. September, dem Antikriegstag, wird in Aachen der "Aachener Friedenspreis" vergeben. Einen ersten Bericht gab es auf unseren Seiten bereits im Mai, als die Presiträgerinnen 2004 bekannt gegeben wurden (siehe: "Ehrung für Frauen ...". Über die diesjährige Preisverleihung berichten wir anhand von Vorberichten in der örtlichen und überregionalen Presse.
Barbara Lochbiehler, Generalsekretärin von amnesty international (Deutschland) hielt die Laudatio auf die Preisträgerinnen. Ihre Rede können Sie hier lesen: "Dorn im Auge der russischen Armeeführung" und "geschätzte Ratgeberin".


Friedenspreis meidet die großen Namen

Von unserem Redakteur Heiner Hautermans

Aachen. Der Aachener Friedenspreis wird am Mittwoch an die «Petersburger Soldatenmütter», die sich für russische Wehrpflichtige engagieren, und die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin, die sich besonders für verfolgte Kurdinnen einsetzt, verliehen.

Die «Nachrichten» stellen die Preisträgerinnen vor. Der Verein Aachener Friedenspreis ist 1988 von 46 Einzelpersonen gegründet worden, heute hat er fast 400 Mitglieder und genießt internationale Anerkennung. Ziel war es von Anfang an, Frauen, Männer oder Gruppen zu würdigen und vorzustellen, die von unten dazu beigetragen haben, der Verständigung der Völker und Menschen untereinander zu dienen sowie Feindbilder ab- und Vertrauen aufzubauen.

Ganz bewusst meidet man große Namen und ist unabhängig von ideologischen, religiösen und parteipolitischen Kriterien. Der oft schwierige, mitunter lebensgefährliche Einsatz der Menschenrechtler soll durch die Aachener Auszeichnung gewürdigt und durch das Herstellen von Öffentlichkeit leichter gemacht werden. Traditionell wird der Preis am Antikriegstag verliehen, die Dotierung in Höhe von 1000 Euro hat eher symbolischen Charakter.

Netzwerk für die Arbeit vor Ort

Seit Ende letzten Jahres hat der Verein Aachener Friedenspreis einen neuen Vorsitzenden: den Journalisten Otmar Steinbicker, der den ehemaligen Aachener SPD-Ratsherrn Gerhard Diefenbach ablöste. Steinbicker ist der Friedensbewegung journalistisch seit den 80er-Jahren verbunden, er will den Dialog führen «über die Bewegung hinaus», so mit Militärs, die zum Teil identische Befürchtungen hegten, etwa bei Vorwarnzeiten bei Atomwaffen. Zu den Plänen gehört auch, die bisherigen Preisträger in ein internationales Netzwerk einzubinden, um sie bei ihrer Arbeit vor Ort besser unterstützen zu können.

Auch zu aktuellen Fragen äußert sich der Aachener Friedenspreis, zum Beispiel zur europäischen Verfassung, die vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht akzeptable Mängel enthalte und durch ein Referendum aller Bürger gebilligt werden müsse. Zusammen mit dem Aachener DGB, zu dem der Friedenspreis traditionell gute Beziehungen unterhält, hat man auch eine Stellungnahme zum 90. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs abgegeben.

Aachener Nachrichten online - Aachener Nachrichten (Stadt), 31. August 2004

Mütter schützen russische Soldaten



Aachen. «Wir bitten Tschetschenien um Vergebung, weil auch wir schuld daran sind, was die Armee und der Geheimdienst dem kleinen Volk antun,» sagt Ella Poljakowa, eine der beiden Vorsitzenden der Petersburger Soldatenmütter.

Die 1991 gegründete «Gesellschaftliche Rechtsschutzorganisation Soldatenmütter von Sankt Petersburg» erhält den Aachener Friedenspreis 2004 für die unermüdliche Arbeit zum Schutz von russischen Wehrpflichtigen. Sie hat aber nicht nur ihre Söhne im Blick: Die Frauen streiten für Eigenverantwortung und Zivilcourage, die Abschaffung der Zwangseinberufung und den Aufbau einer zivilen Gesellschaft.

Die Organisation hat bisher mehr als 150.000 junge Männer beraten. Jeden Monat holen sich rund 1000 Personen von den Soldatenmüttern Rat und Hilfe: Angehörige, Wehrpflichtige und auch Wehrdienstleistende, die ihre Einheiten verlassen haben, weil sie die Quälereien nicht mehr aushielten. Allein 2002 sind 6000 Soldaten desertiert.

Die Arbeit der Organisation ist deswegen so wichtig, weil in den russischen Streitkräften massiv Menschenrechte verletzt werden. Eine hohe Zahl junger Soldaten kommt Jahr für Jahr während des Wehrdienstes durch Prügel, Totschlag, Folter, Selbsttötung und Amoklauf von Kameraden ums Leben. Rund 1200 waren es nach offiziellen Angaben allein im Jahre 2002. Mehr als 100.000 Wehrpflichtige konnten mit Hilfe der Petersburger Organsation das gesetzlich verbriefte Recht, nicht zu dienen, durchsetzen, mehr als 5000 Deserteure wurden dank ihrer Unterstützung vorzeitig aus der Armee entlassen.

Die Soldatenmütter demonstrieren seit Jahren jeden Donnerstag von 17 bis 18 Uhr gegenüber der Kasaner Kathedrale, halten dort Plakate wie «Holt unsere Söhne zurück» oder «Ich bin gegen den Krieg und du?» in den Himmel. Ein Problem in Russland ist die Unkenntnis der Gesetze und das Unvermögen, die eigenen Rechte gegen den Staat, in diesem Fall die Militärbürokratie durchzusetzen. So kursiert ihr praktischer Ratgeber zum Wehrdienst, der in der elften Auflage erschienen ist, in ganz Russland.

Aachener Nachrichten online - Aachener Nachrichten (Stadt), 31. August 2004

Mutiger Einsatz für Menschenrechte

Aachener Friedenspreis 2004 an türkische Anwältin und Petersburger Soldatenmütter verliehen

Von Michael Klarmann, Aachen

Die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin und die Initiative Petersburger Soldatenmütter erhielten gestern den Aachener Friedenspreis.

»Männer, Frauen und Gruppen, die von unten her« zur Völkerverständigung beitragen – das sind für den Verein Aachener Friedenspreis Kandidaten für die jährlich vergebene und mit je 1000 Euro dotierte Ehrung. Genau das trifft auf die Preisträger zu, die gestern Abend ausgezeichnet wurden. Die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin wurde, so Vereinsvorsitzender Otmar Steinbicker, »für ihren mutigen Einsatz für die Menschenrechte« in ihrer Heimat geehrt. Durch ihr Engagement für verfolgte Frauen sei sie selbst in Gefahr geraten, zeitweise war sie inhaftiert. Die »Gesellschaftliche Rechtsschutzorganisation Soldatenmütter von Sankt Petersburg« erhielt den Preis, weil sie rund 150000 Kriegsdienstverweigerer betreut habe und überdies »Widerstand gegen den schmutzigen Krieg in Tschetschenien« leiste. In ihrer Laudatio lobte Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, das ungebrochene Engagement der Preisträger.

Eren Keskin arbeitet seit 1984 als Rechtsanwältin in Istanbul, gehörte zu den Gründern des Menschenrechtsvereins IHD und ist heute dessen stellvertretende Vorsitzende. 1997 gründete sie zudem mit anderen Anwältinnen ein Projekt, das Frauen – meist Kurdinnen – hilft, die von Sicherheitskräften vergewaltigt wurden. In ihrer Dankesrede während des Festaktes kritisierte die 45-Jährige harsch, dass Folter zwar eine in der Türkei verbotene Verhörmethode sei, die aber dennoch von Polizei und Militär weiter angewendet werde. Auch nähmen die »inoffiziellen Festnahmen« zu. Am Bosporus könne man nicht von einer demokratischen Lage sprechen. Aber während die EU der Türkei aus Menschenrechtsgründen den Beitritt verwehre, verkaufe sie ihr und dem mächtigen Militär zugleich Waffen für den Krieg in Kurdistan, so Keskin.

Die 1991 gegründeten Petersburger Soldatenmütter beraten russische Kriegsdienstverweigerer und deren Angehörige. Die Organisation kämpft zudem für das Ende der Zwangseinberufung in Russland. Ella Poljakowa, Vorsitzende der Dachorganisation von Tausenden ehrenamtlich Engagierten, sagte in ihrer Rede, leider sei »es mittlerweile traurige Praxis, im Rahmen der Einberufung junge Männer buchstäblich von der Straße weg mit Gewalt in die Kasernen zu bringen«. Auch die Soldatenmütter selbst haben unter Repressionen der Sicherheitsdienste zu leiden. Poljakowa kritisierte, in Russland gebe es seit vier Jahren einen »zunehmenden Totalitarismus«. Die Initiative wolle dennoch weiterhin »junges Leben davor bewahren, der Schande des Tschetschenienkrieges zum Opfer zu fallen«. Schon am Morgen hatte Poljakowa vor der Presse die neuen Anschläge und Geiselnahmen durch Rebellen und Terroristen zum Anlass genommen, dass »sofortige Ende des Krieges« zu fordern, ehe sich die Lage weiter zuspitze.

Verliehen wird der Friedenspreis seit 1988 traditionell am Antikriegstag, bislang immer an einen nationalen und internationalen Träger. Dass es erstmals zwei internationale Preisträger gebe, liege daran, dass beide aktuell bedroht seien. Man wolle ihnen so einen »bescheidenen Schutz« bieten.

Aus: Neues Deutschland, 2. September 2004



Vgl. auch unsere Berichte zu den Preisverleihungen 2001, 2002 und 2003.




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