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Der Beitrag der Friedensbewegung zu einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (Thesen)

Von Peter Strutynski

Der folgende Beitrag wurde als Referat auf einer friedenspolitischen Tagung der Petra-Kelly-Stiftung am 7. Februar 2003 in München anlässlich der zeitgleich stattfindenden "Münchner Sicherheitskonferenz" gehalten.

Vorbemerkungen

Zunächst müssen zwei notwendige Einschränkungen angebracht werden.

Erstens: Wir müssen nüchtern feststellen, dass die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie etwa in Form der GASP entwickelt werden soll, von der Friedensbewegung zwar wahrgenommen wird, aber so gut wie nicht beeinflussbar ist. Dies hat mindestens vier Gründe:
  1. Europa ist nicht nur für die Menschen in Deutschland, sondern auch für die Friedensaktivisten "zu weit weg". Das Thema EU, Brüsseler Kommission oder Europäisches Parlament wird häufig als "langweilig" empfunden, dass allenfalls Bürokraten und Lobbyisten interessieren mag.
  2. Bürgerpartizipation an politischen Entscheidungen der EU findet nicht statt. Dies hat zu tun mit dem allgemeinen Demokratiedefizit, das in der EU herrscht.
  3. Außen- und Sicherheitspolitik ist nach wie vor eine Domäne der nationalen Regierungen. Weder der GASP-Prozess noch der vereinbarte Aufbau einer eigenen europäischen Militärkomponente können darüber hinwegtäuschen, dass kein EU-Staat bisher bereit ist, außen- und militärpolitische Souveränitätsrechte an die europäische Ebene abzutreten. Die überraschende Ergebenheitsdresse von acht europäischen Staats- und Regierungschefs für die US-Kriegspolitik vom 31. Januar 2003 hat diesen Sachverhalt deutlich genug unterstrichen.
  4. Schließlich ist die Friedensbewegung auf europäischer Ebene nur in Ansätzen und Teilbereichen international organisiert - auch dies natürlich ein Ausdruck der faktischen Bedeutungslosigkeit der europäischen Entschidungsebene in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik.
Zweitens: Die zweite Einschränkung ist grundsätzlicher Art und bezieht sich auf die Verfasstheit und politische Reichweite der Friedensbewegung, und zwar unabhängig davon, ob sie auf nationaler oder internationaler Ebene agiert. Die Friedensbewegung
  • kandidiert nicht bei Wahlen (die "Friedensliste" bei den Europawahlen 1984 war die einzige Ausnahme mit übrigens nur bescheidenem Erfolg),
  • sitzt demnach auch nicht in Parlamenten und schon gar nicht in Regierungen,
  • und ist aus verständlichen Gründen auch nicht Teil militärischer, also "sicherheitspolitischer" Strukturen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. professionalisierte friedenspolitische Verbände, die auch oder überwiegend Lobbyarbeit betreiben), versucht die Friedensbewegung ihre Anliegen auf außerparlamentarischem Weg zu vertreten, also durch die Entfaltung politischen Drucks auf die politischen Institutionen.

Ein Zwischenfazit lautet demnach: "Politikfähigkeit" der Friedensbewegung in Hinblick auf die Gestaltung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik stellt sich in erster Linie her über solche "traditionellen" Mittel und Instrumente wie
  • Information und Aufklärung der Öffentlichkeit,
  • Ideen- und Sympathiewerbung in gesellschaftlichen Großgruppen (Gewerkschaften, Kirchen) und
  • Mobilisierung der "Straße".
Dabei ist der Adressat in der Regel die jeweilige (nationale) Regierung, in seltenen Fällen die europäische Ebene oder eine fremde Regierung (häufiger indessen die USA).

Vom Fortschritt der Friedensbewegung in Niederlagen und Siegen

Misst man den Einfluss der Friedensbewegung am Erfolg oder Misserfolg ihres außerparlamentarischen Kampfes, so müssen wir ebenfalls nüchtern feststellen, dass die Niederlagen die Erfolge weit überwiegen, der Weg der Friedensbewegung geradezu mit Niederlagen gepflastert scheint.

Dies leuchtet sofort ein, wenn man - aus deutscher Sicht - den Blick historisch in die erste Hälfte des 20 Jahrhunderts lenkt, wo es einer - ohnehin erst in Ansätzen existierenden - Friedensbewegung nicht gelungen ist, zwei Weltkriege zu verhindern. Doch auch in einer vergleichsweise friedlichen Epoche, der Nachkriegszeit, musste die Friedensbewegung herbe Rückschläge einstecken:
  • Sie unterlag im Kampfe gegen die Remilitarisierung, in dessen Verlauf die sehr starke "Ohne-Mich"-Bewegung erheblicher staatlicher Repression ausgesetzt war. Die Gründung der Bundeswehr und der NATO-Beitritt 1955/56 besiegelten diese Phase.
  • Im Kampf gegen die Raketenstationierung entfaltete die deutsche Friedensbewegung in der ersten Hälfte der 80er Jahre eine legendäre demonstrative Kraft (300.000 im Oktober 1981, 400.000 im Juni 1982, 500.000 im Oktober 1993) und konnte trotzdem die Stationierung der Pershing-II und Cruise Missiles nicht verhindern.
  • Ende der 80er Jahre bis Mitte/Ende der 90er Jahre führte erheblicher Widerstand gegen die Beschaffung des Kampfflugzeugs Eurofighter (früher: "Jäger 90") nicht zum Erfolg. Das teuerste Beschaffungsprojekt der Bundeswehr wurde als Erbstück der Kohl-Ära von der rot-grünen Koalition widerspruchslos übernommen und fortgesetzt.
  • Unter Rot-Grün beteiligte sich die Bundeswehr im Rahmen der NATO 1999 erstmals an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Der Widerstand der Friedensbewegung konnte sich zwar auf die Kriegsablehnung von fast der Hälfte der Bevölkerung stützen, diese aber kaum zum offenen Protest mobilisieren und zerschellte schließlich an einer übergroßen Koalition im Bundestag (SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP)
  • Ähnlich verhielt es sich beim - noch andauernden - Afghanistan-Krieg, der am 7. Oktober 2001 mit britisch-amerikanischen Bombenangriffen begann und an dem sich die Bundesrepublik mit einer Einheit des Kommandos Spezialkräfte (KSK) beteiligt. Meinungsumfragen zufolge lehnte eine Mehrheit der Bevölkerung diesen Einsatz ab.
  • Den Umbau der Bundeswehr von einer Armee zur Landesverteidigung in eine Interventionsarmee begleiteten große Teile der Friedensbewegung mit Kritik und
  • meist papierenem - Protest. Von der Masse der Bevölkerung blieb diese Entwicklung unbeachtet.
Die Erfolge der Friedensbewegung hinken zahlenmäßig und was das Gewicht der jeweiligen Entscheidungen betrifft hinter den Niederlagen her. Auf der Positivliste stehen solche Erfolge wie
  • die Verhinderung der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr Ende der 50er Jahre,
  • die Durchsetzung der Ostverträge 1972,
  • die Liberalisierung des Kriegsdienstverweigerungsrechts einschließlich der kontinuierlich steigenden Verweigerungszahlen,
  • die Bewegung gegen den US-Krieg in Vietnam - insbesondere in den USA selbst, die in der BRD indessen auf einen linken und studentischen Protestkern reduziert blieb (was damals dennoch massenhafte Züge annahm).
Trotz dieser - gemessen an reinen Effizienzkriterien - Negativbilanz hat sich die Friedensbewegung und haben sich die Einstellungen der Bevölkerung zu Krieg und Frieden insgesamt positiv entwickelt. So konnte sich die Friedensbewegung mit den Ostermärschen (seit 1960), der Wiederbelebung des öffentlichen Gedenkens an den Beginn des 2. Weltkriegs (Antikriegstag" am 1. September) und vielen themenbezogenen Kampagnen und friedenspolitischen Projekten und Großereignissen sowie durch den Aufbau eigener Strukturen eine nachhaltige Basis in der Gesellschaft, insbesondere auf lokaler Ebene schaffen. Meine These ist, dass sich die Einstellung der Bevölkerung der Bundesrepublik zu Fragen von Krieg und Frieden heute grundlegend unterscheidet von den Einstellungen früherer Generationen, insbesondere "der Deutschen" vor 1945. Das Bild der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich, in der Zwischenkriegsperiode der Weimarer Republik und im Faschismus war stark beeinflusst gewesen von der historischen Erblast einer gescheiterten bürgerlich-demokratischen Revolution 1848, der deutschen Reichsgründung von oben und mittels eines Krieges, der Dominanz obrigkeitsstaatlichen, antidemokratischen Denkens, und der Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. In diesem Milieu der spezifisch preußischen Pickelhauben-"Demokratie" konnten all jene "Sekundärtugenden" wie Tapferkeit, unbedingter Gehorsam u.ä. gedeihen, die zur Führung industrieller Massenkriege (1. und 2. Weltkrieg) gebraucht wurden.

Dieses (Selbst-)Bild der Deutschen als einem zu Krieg und Eroberung prädestinierten Herrenvolk wurde spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Bewirkt wurde diese Einstellungsänderung vor allem durch drei Momente:
  1. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem verheerendsten Krieg in der Geschichte der Menschheit, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen der Schwur der KZ-Überlebenden eingegraben, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Diese Erkenntnis resultiert aus dem unermesslichen Leid, das Deutschland im 2. Weltkrieg anderen Völkern angetan hat und in der militärischen Niederlage schließlich selbst erfahren musste.
  2. Sie ist zweitens Ergebnis der jahrzehntelangen außen- und militärpolitischen Selbstbeschränkung der - alten - Bundesrepublik (der Spielraum der DDR war bestimmt nicht größer), die sich sehr gut mit der ökonomischen und sozialen Prosperität des Landes vereinbaren ließ und von der Bevölkerung nicht als Nachteil empfunden wurde, auch wenn der rechtspopulistische Franz-Josef Strauß immer wieder darüber klagte, dass Deutschland "ökonomisch ein Riese", "politisch" aber nur ein "Zwerg" sei.
  3. Die größere Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft ist schließlich auch Ergebnis des langjährigen Wirkens der Friedensbewegung, deren Weg zwar überwiegend von politischen Niederlagen gepflastert war, deren Gedanken und Überzeugungen sich aber im Bewusstsein vieler Menschen festgesetzt haben. So konnte etwa in den 80er Jahren, als sich die Friedensbewegung im Sinne einer Ein-Punkt-Bewegung ganz auf den Kampf gegen die Raketenstationierung konzentriert hatte, "nebenbei" die Abschreckungsdoktrin in Frage gestellt und die Idee einseitiger Abrüstungsschritte propagiert werden.
Die friedenspolitische Aufgeklärtheit der Bevölkerung

Die 80er Jahre waren auch eine Schule der praktizierenden Demokratie. Selten zuvor wurden so viele alte und neue Formen widerständigen Verhaltens erprobt wie in dieser bewegten Zeit der Demonstrationen, Mahnwachen, Mahnminuten, Blockaden, "Die-ins" und Menschenketten. Viele Protestformen des "zivilen Ungehorsams" - um den hierfür verwendeten Sammelbegriff zu erwähnen - waren ursprünglich von der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre "erfunden" bzw. wiederbelebt worden und erlebten nun ihre massenhafte Anwendung unter weitgehender Billigung der Mehrheit der Bevölkerung. Historisch haben wir es mit der Entstehung einer nachhaltigen und mehrheitsfähigen zivilgesellschaftlichen und friedensorientierten Einstellung der deutschen Bevölkerung zu tun. Ein wachsender Teil der Bevölkerung lässt sich seither offenbar nicht mehr für eine kriegerische Politik mobilisieren.

Für diese Behauptung möchte ich vier Indizien anführen.
  1. Die Kritik und Reserviertheit einer qualifizierten Minderheit (in Ostdeutschland sogar einer klaren Mehrheit) gegenüber dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien muss sehr hoch eingeschätzt werden, musste sie sich doch ihre Stimme gegen ein konzentriertes propagandistisches Trommelfeuer der den Krieg emphatisch preisenden Bundesregierung (v.a. Scharping, Fischer) und der Medien (die damals alle NATO-und Scharping-Lügen distanzlos übertrugen) erheben.
  2. Dass entgegen den Beteuerungen der US-Administration der Krieg kein geeignetes Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sein kann, ist nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in das Alltagsbewusstsein der Menschen eingegangen. Insbesondere zwei Argumentationsfiguren - die eine aus dem Arsenal der Friedensbewegung, die andere aus dem der globalisierungskritischen Bewegung - beherrschten nach den Anschlägen die öffentlichen Diskussionen: Einmal die Behauptung, jede Art militärischen Vorgehens müsse als Vergeltung oder Rache aufgefasst werden und trage nur zur weiteren Eskalation der Gewalt bei ("Gewaltspirale"). Anschauungsunterricht könne man seit Jahr und Tag vom (Bürgerkriegs-)Schauplatz Naher Osten beziehen. Zum anderen setzte sich erstaunlich schnell die Formel vom "Nährboden" des Terrorismus durch, den es trocken zu legen gilt, wenn man dauerhafte Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus erzielen will. Die Wirkung dieses Arguments war so durchschlagend, dass man ihm fast schon den Rang eines geistigen Allgemeingutes einräumen darf. Immerhin wurden nicht zuletzt deshalb auch dem Entwicklungshilfeministerium bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 2002 rund 200 Millionen DM zusätzlich versprochen. (Wahrscheinlich eingedenk der Erfahrung, wonach wer den Armen mehr gibt, sich vor deren Zorn weniger fürchten muss.)
  3. Seit der Ankündigung eines Krieges gegen den Irak von Seiten der US-Administration gibt es, wenn man den Umfragen Glauben schenken darf, eine stabile Mehrheit in der deutschen Bevölkerung gegen diesen Krieg. Diesen Umstand machten sich im Bundestagswahlkampf 2002 die Koalitionsparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen zunutze, als sie - sieben Wochen vor dem Wahltag - das Irak-Thema besetzten und mit einem lauten Nein zu einer deutschen Kriegsbeteiligung beim Wahlvolk zu punkten versuchten. Alle Wahlanalysen stimmen darin überein, dass der hauchdünne Vorsprung für Rot-Grün letztendlich auf dieses Nein zum Irak-Krieg zurückzuführen war. (Nach 1972 - damals ging es um die Ostverträge und die Zukunft der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt - war dies das erste Mal, dass wieder ein außenpolitisches Thema wahlentscheidend wurde.)
  4. Inzwischen hat es sich in weiten Kreisen der Bevölkerung herumgesprochen, dass die Kriege der reichen Industrieländer, insbesondere der USA, nicht geführt werden, um Demokratie, Freiheit oder andere "Werte" der westlichen "Zivilisation" zu verteidigen, sondern um handfeste ökonomische und/oder geostrategische Interessen zu vertreten. Nicht einmal der sprichwörtliche deutsche Stammtisch lässt sich heute noch weismachen, dass der Krieg gegen Irak geführt werden soll, um die Massenvernichtungswaffen zu beseitigen, die Menschenrechte wiederherzustellen oder dem Land Demokratie zu bringen. Jeder Tankwart weiß, dass es viel eher um die Kontrolle über die Erdölvorräte des Landes geht.
Probleme der Mobilisierung

Das Wissen allein um die weltpolitischen Zusammenhänge und die innere Ablehnung des Krieges bieten noch keine hinlängliche Bedingung für die Entwicklung eines aktiven friedenspolitischen Engagements. Die Friedensbewegung hat drei Problemkreise zu berücksichtigen, die sich bisher hemmend auf die Entfaltung massenhaften aktiven Protestes auswirkten.

(1) Die Kluft zwischen der Meinung und dem Wollen der Mehrheit der Bevölkerung auf der einen und dem Regierungshandeln auf der anderen Seite scheint zur Zeit ansatzweise aufgehoben zu sein. Die Regierung sagt Nein zum Krieg, die Friedensbewegung sagt Nein zum Krieg. Ist es angesichts solchen Gleichklangs nicht schwierig, so wurden wir im Vorfeld der bundesweiten Demonstration vom 15. Februar 2003 von den Medienvertretern häufig gefragt, Massen auf die Straße zu bekommen? In der Tat sagt uns die Erfahrung, dass eine Mobilisierung für ein Ziel, das auch von der Regierung vertreten wird, ungleich schwieriger ist, als wenn der Hauptadressat des Protestes die Regierung selbst ist. In diesem Fall dürfte dieses Problem allerdings nicht besonders groß sein. Denn einmal wird der Protest gegen den drohenden Irak-Krieg ohnehin hauptsächlich aus dem Widerspruch zur US-Regierung gespeist (dies war in den 60er Jahren bei der Vietnam-Bewegung nicht viel anders), ist also zunächst unabhängig von der Haltung der eigenen Regierung. Und zum anderen bleibt angesichts der zweideutigen Haltung der Bundesregierung zum Krieg und der teils dilettantischen diplomatischen Vertretung dieser Politik genügend kritische Masse übrig, die sich stimulierend auf den Protest auswirken dürfte.

(2) Das zweite Problem ist da schon gravierender. Der west- und später der gesamtdeutschen Bevölkerung wurde in 16 Jahren Kohl- ("Aussitz"-Regime) und vier Jahren Schröder-Regierung ("Basta"-Regime) deutlich genug zu verstehen gegeben, dass sie sich in zentrale Angelegenheiten der staatlichen und internationalen Politik nicht einzumischen habe. Diese frustrierende Erfahrung des "Die da oben machen ja doch, was sie wollen!" hat zu einem dramatischen Rückgang außerparlamentarischer Initiativen und Bewegungen geführt und zuletzt auch diejenigen zur resignativen Verzweiflung getrieben, die sich mit dem Wahlsieg von Rot-Grün 1998 wenigstens einen Trippelschritt zu mehr Beweglichkeit und Partizipation erhofft hatten. Sie wurden bitter enttäuscht. Resignation und Politikabstinenz sind das Ergebnis insbesondere bei der Generation der 25- bis 40-Jährigen.

(3) Das dritte Problem ist der Gewöhnungseffekt, der sich aufgrund des langen Vorlaufs des angekündigten Krieges bei vielen Menschen eingestellt hat. Seit der Rede des US-Präsidenten zur Lage der Nation Ende Januar 2002 wird die Weltöffentlichkeit auf einen mit nichts zu begründenden, völkerrechtswidrigen und extrem gefährlichen Krieg vorbereitet, als handle es sich um die Spielart irgend eines sportlichen oder kulturellen Jahrhundertereignisses. Der Krieg gegen den Irak wird militärtechnisch hin und her gewendet, verharmlost ("Waffengang") und zum unabwendbaren Schicksal erklärt. Sich dagegen aufzulehnen sei noch wesentlich naiver oder - drastischer - idiotischer als Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen.

(4) Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern mit einer längeren demokratischen Tradition hat sich in Deutschland - trotz 68-er-Bewegung und der geschilderten Fortschritte in den 80er Jahren - keine nachhaltige Kultur eines konsequenten außerparlamentarischen Widerstands entwickeln können. Wenn die Regierung oder das Parlament oder gar das Bundesverfassungsgericht in einer umstrittenen Sache "letztinstanzlich" anders entschieden haben, als es die Mehrheit der Bevölkerung will, nimmt man das - zähneknirschend - als unumstößlich hin. Es bleibt abzuwarten, ob dieses "Staatsvertrauen" sich auch auf die Institutionen der Vereinten Nationen übertragen hat. Was ist, wenn z.B. der UN-Sicherheitsrat in einer zweiten Resolution eine Kriegsermächtigung ausspricht und die USA mit diesem Spruch im Rücken den Krieg beginnen?. Wird dann der Protest abflauen, obwohl die Umfragen davon sprechen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung auch einen UN-mandatierten Irak-Krieg ablehnt?

Ich habe auf all diese Fragen keine fertigen Antworten. Ich erhoffe mir aber etwas mehr Aufschluss durch diese Tagung sowie durch die bevorstehenden Proteste heute und morgen in München und in einer Woche in Berlin.


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