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"Der gescheiterte Staat" USA

Der US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky hat eine Generalabrechnung mit seinem Land geschrieben

Von Hanno Harnisch*

Noam Chomsky ist nicht nur Professor für Linguistik am MIT, dem weltberühmten Massachusetts Institute of Technology, sondern auch »der wichtigste Intellektuelle der Gegenwart«, wie ihn einst die »New York Times« betitelte. Doch Vorsicht mit Zitaten! »Wenn man nämlich das Original nachschaut«, so Chomsky, »dann heißt es weiter: ›Wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn schreiben über die amerikanische Außenpolitik‹. Diesen Zusatz zitiert man nie, Aber um ehrlich zu sein: Gäbe es ihn nicht, würde ich glauben, ich mache etwas falsch«.

Dieser Anarchist, der in einem antisemitisch geprägten Arbeiterviertel in Philadelphia aufwuchs, hat sich schon früh auseinander gesetzt mit der ungerechten Welt: spanischer Bürgerkrieg, israelische Politik, Kuba, Vietnam, Haiti, Medienmacht und immer und immer wieder die Außenpolitik der USA. Kein Wunder, dass die politischen Äußerungen von einem, der so viel Falschheit anprangert, in den USA gerne totgeschwiegen, seine vielen Bücher nur in kleinen Verlagen ediert werden.

Die Frage, welche Probleme das Wohl der Menschen und ihre Rechte am stärksten gefährden und daher am dringlichsten der Lösung bedürfen, ist nun die Eingangsfrage von Noam Chomskys jüngstem Buch. Jeder wird auf diese wichtige Menschheitsfrage wohl auf seine Weise antworten. Drei Probleme sind für den streitfreudigen Intellektuellen Chomsky jedoch unstrittig, weil sie unmittelbar unser aller Überleben unter akzeptablen Verhältnissen betreffen: die Gefahr eines Atomkriegs, das Risiko eines globalen Umweltdesasters und die Tatsache, dass die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, mächtigstes Land der Welt, durch ihr Handeln die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Katastrophen erhöht. Chomsky sagt bewusst Regierung, weil es sich dabei nicht um die Ziele der Bevölkerung handelt. Nicht zuletzt auch diese »tiefe Kluft zwischen öffentlicher Meinung und staatlicher Politik« ist einer der Gründe für den nicht von der Hand zu weisenden Fakt, dass das »System insgesamt in einer tiefen Krise steckt, weil es eine Richtung eingeschlagen hat, durch die es seine historischen Werte (der) Gleichheit, Freiheit und einer tatsächlich gelebten Demokratie aufs Spiel setzt«.

Eine Begriffsbestimmung

Für Chomsky nimmt dieses "System" immer mehr Züge eines »failed state« an. Der englische Untertitel des Buches, »The Abuse of Power and the Assault on Democracy« ( Missbrauch der Macht und Angriff auf Demokratie) zeigt die eindeutige Richtung seiner Polemik. Die etwas unkorrekte deutsche Übersetzung des Buchtitels lautet »Der gescheiterte Staat«. Als »Schurkenstaat« werden ja von der USA-Regierung Staaten gebrandmarkt, die eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit der Vereingten Staaten darstellen (wie Irak) oder deren Eingreifen benötigen, um ihre Bevölkerung vor gravierenden Gefahren im eigenen Land zu bewahren (wie Haiti). So »enttäuschend unpräzise« dieser Begriff auch von Chomsky gesehen wird, definiert er doch gewisse Hauptkennzeichen gescheiterter Staaten. Ein Merkmal ist so deren »Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, die eigenen Bürger vor Gewalt und womöglich sogar vor dem Untergang zu schützen, ein weiteres die Neigung, sich über die nationalen Gesetze und das Völkerrecht hinwegzusetzen und daraus die Ermächtigung für Aggression und Gewalt abzuleiten. Selbst wenn solche Staaten demokratische Formen wahren, leiden sie doch an einem gravierenden ›Demokratiedefizit‹, das ihre demokratischen Institutionen aushöhlt und ihrer Substanz beraubt.«

Bei einer solchen Definition wird schnell klar, worauf Chomsky hinauswill: Die Vereinigten Staaten erinnern ihn in vielem an einen »gescheiterten Staat«. Sehr schnell sind wir dann beim »gesetzlosen Staat«. Er will mit dieser Erkenntnis alle Bürger (zumindest alle, die von seinen Büchern erreicht werden) tief beunruhigen. Mit der Faktenfülle, die er (auch aus eigenen, früheren Werken zitierend) zusammengetragen hat, ist ihm das nachhaltig gelungen.

Russel und Einstein

In den ersten Kapiteln weist er in einem exzellenten historischen und aktuellen Diskurs nach, dass von der Regierung der USA die Bedrohung ausgeht, dass sie sich mit ihrem zunehmend zerstörerischen Machteinsatz schon lange nicht mehr um das Vökerrecht schert, dass die Ereignisse von 9/11 sozusagen eine Vorgeschichte haben. Chomsky erinnert daran, dass sich vor mehr als einem halben Jahrhundert (im Juli 1955) Bertrand Russell und Albert Einstein mit einem spektakulären Appell an die Völker der Welt wanden. Sie riefen dazu auf, alle Streitigkeiten »beiseite zu legen« und sich lediglich als Mitglieder einer biologischen Spezies zu sehen, »die eine beachtliche Geschichte hinter sich hat und deren Untergang keiner von uns wünschen kann«. Die Wahl, vor der die Welt stehe, sei »drastisch, furchtbar und unausweichlich: Werden wir dem Menschengeschlecht den Untergang bereiten, oder wird die Menschheit auf Krieg verzichten?«

Förderung der Demokratie

Die Welt hat nicht auf den Krieg verzichtet. Ganz im Gegenteil, weist Chomsky kenntnisreich und polemisch nach. »Heute nimmt sich die globale Hegemonialmacht das Recht heraus, nach Gutdünken Krieg zu führen und beruft sich dabei auf das Recht zu einem unklar definierten ›Präemptivschlag‹. Im Brustton der Selbstgerechtigkeit verlangen die Vereinigten Staaten von anderen Ländern die strenge Einhaltung des Völkerrechts, von Verträgen und Regeln der Weltordnung, betrachten sie aber für sich selbst als unerheblich – eine seit Langem geübte Praxis, die unter den Regierungen Reagan und Bush II. neue Ausmaße erreichte.« Chomsky plädiert dafür, dass diese Politik für die Bürger der derzeit einzigen Weltmacht »ein Anlass zur Sorge« sein sollte, »wie immer man die entsprechenden Gefahren auch bewerten mag«. Chomsky wertet sie dramatisch. Noch immer aber sucht er nach einem Ausweg. Und so befasst er sich in der zweiten Hälfte des Buches mit den demokratischen Institutionen und der Frage, was sie tatsächlich für die »Förderung der Demokratie« im Ausland wie im Inland leisten. Noch hat Chomsky, der »meistzitierte Außenseiter der Welt«, Hoffnung. Und sei es nur »für künftige Generationen«. Wie wenig. Wie viel.

Noam Chomsky: Der gescheiterte Staat. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel u. a. Verlag Antje Kunstmann, geb., 399 S., geb., 24,90 EUR

* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2006


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