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Ein Lügenstück, keine Schmiere

Wie das für 2005 geplante Referendum über die EU-Verfassung in Frankreich zur Vorentscheidung über die Nachfolge von Jacques Chirac umfunktioniert wird

Als der französische Präsident Jacques Chirac im Sommer 2004 ein Referendum über die EU-Verfassung ankündigte, haben viele Menschen hier zu Lande gedacht: Frankreich hat es wieder einmal besser. Dass hinter der Gewährung des plebiszitären Elements sich auch andere Motive verbergen, deckt der folgende Beitrag auf, den wir der kritischen Wochenzeitung "Freitag" entnahmen. Er wird abgerundet durch eine Übersicht über die Prozeduren bei der Ratifizierung der EU-Verfassung durch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten.


Von Markus Bernath

Ein Schmierenstück, so lehrt der Blick ins Wörterbuch, ist eine "schlechte Wanderbühne", und "schmieren" meint also "schlechte kitschige Stücke schreiben" und dann auch noch "solche Stücke (schlecht) aufführen". So gesehen ist das derzeit machtvolle Ringen französischer Politiker um ein Ja oder Nein oder irgendetwas dazwischen bei dem für 2005 geplanten Referendum über die EU-Verfassung keinesfalls ein Schmierenstück. Ein Lügenstück sicherlich, aber keine Schmiere. Dafür haben sich die Machtmenschen auf der Rechten und der Linken den ganzen Sommer über viel zu sehr den Kopf zerbrochen. Oder wie es Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac überlegt zusammenfasste: "Das ist eine entscheidende Frage, die ich nicht umgeleitet sehen möchte."

Der Bauarbeiter, der nun emsig einen Nebenkanal gräbt, um die große Volksabstimmung über die Verfassung von dem ihr zugedachten Weg in das schöne blaue Meer der europaweiten Zustimmung abzubringen, ist Laurent Fabius, die Nummer Zwei in der Sozialistischen Partei (PS) und der ewig verhinderte Präsidentschaftskandidat. Fabius hatte zunächst ein wenig an dem Verfassungstext und seinen Halbheiten gemäkelt wie die meisten Politiker in Europa, nachdem die Staats- und Regierungschefs im Juni den Entwurf schließlich angenommen hatten. Man könnte eigentlich auch nein dazu sagen, dachte er laut nach, um seine Partei zu erschrecken. Anfang September dann, als die Abgeordneten der Nationalversammlung aus den Ferien zurückkehrten und das Politkarussell in Paris sich wieder zu drehen begann, zählte Laurent Fabius seine Truppen innerhalb des Parti Socialiste und entschied, eine Kampagne gegen die EU-Verfassung zu führen - und gegen Parteichef Francois Hollande.

Diese Rechnung könnte durchaus aufgehen. Beim letzten Parteitag, auf dem die innerparteilichen Kräfteverhältnisse wie immer durch Abstimmungen über Entschließungsanträge festgestellt wurden, kamen die Minderheitsgruppierungen Neue Sozialistische Partei von Arnaud Montebourg und Vincent Peillon, Neue Welt von Henri Emmanuelli und Jean-Luc Mélenchon sowie einige Parteiverbände aus dem Nordwesten Frankreichs um Marc Dolez auf knapp 40 Prozent. Sie alle werben für ein Nein zur EU-Verfassung, über die zunächst die Parteimitglieder im Dezember gesondert abstimmen sollen - Fabius´ Anhänger könnten Montebourg, Emmanuelli & Co. nun zu einer Mehrheit verhelfen.

Der frühere Regierungschef, der recht genau vor 20 Jahren als politischer Ziehsohn des damaligen Staatspräsidenten Francois Mitterrand zum jüngsten Premier Frankreichs ernannt worden war, sorgt sich sehr wegen der unaufhaltsamen Liberalisierung der EU. Nur wirklich abnehmen will ihm das niemand. Fabius räumte 1984 als sozialliberaler Modernisierer die erste sozialistisch-kommunistische Koalition von Premier Pierre Mauroy ab, die Mitterrand nach seinem Wahlsieg 1981 installiert hatte. An diesem Image hielt Fabius fest und auch an seiner Absicht, einmal selbst Präsident zu werden. Drückt er seinen Parteichef Hollande, der natürlich für ein Ja zur EU-Verfassung wirbt, in die Minderheit, könnte das seine Chancen auf eine Präsidentschaftskandidatur bei den nächsten Wahlen 2007 sichern.

Nichts kann Jacques Chirac in Wahrheit lieber sein als eine solche Um- und Ableitung der so "wichtigen Frage" eines Referendums. Seine Absicht, eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung anzusetzen, hatte er im jährlichen Hofinterview zum Nationalfeiertag am 14. Juli enthüllt und damit gleich zwei Schachzüge getan: die Sozialisten zerstreiten sich, obwohl sie zuletzt bei den Regional- und Europawahlen zwei Siege in Folge gegen die konservative Regierung erreicht hatten; Chiracs lästiger Rivale, Finanz- und Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy, der den Vorsitz der Präsidentenpartei UMP übernehmen wird und Chirac 2007 im Elysée-Palast beerben will, muss sich nun monatelang bescheiden und in der großen Pro-Europa-Kampagne des Staatschefs mitschwimmen. Schlecht geschrieben ist das Stück über das große demokratische Wagnis eines EU-Referendums also nicht. In bewundernswerter cartesianischer Klarheit haben Frankreichs Politiker Europa auf den Punkt gebracht: als bestelltes Plebiszit über persönliche Ambitionen.



EU-Verfassungsreferendum - ja oder nein?

  • Belgien - Referenden sind in der Verfassung nicht vorgesehen, das Parlament entscheidet.
  • Dänemark - die Verfassung schreibt Referenden bei der Übertragung von staatlichen Hoheitsrechten grundsätzlich vor.
  • Deutschland - Referenden sind ohne Rechtsgrundlage, allein der Bundestag entscheidet.
  • Estland - Referenden sind obligatorisch, wenn Verfassungsnormen berührt werden.
  • Finnland - Referenden sind möglich, wenn ein entsprechendes Gesetz erlassen wurde.
  • Griechenland - der Präsident kann ein bindendes Referendum verfügen, wenn es um Fragen von nationalem Interesse geht.
  • Großbritannien - es gibt keine Rechtsgrundlage für Referenden, die Regierung und das Parlament können darüber entscheiden, ob Volksentscheide anberaumt werden.
  • Irland - Referenden sind prinzipiell obligatorisch, wenn über Fragen von nationalem Interesse entschieden wird.
  • Italien - Referenden sind möglich und bindend bei Verfassungsänderungen.
  • Lettland - Referenden sind obligatorisch bei Verfassungsänderungen.
  • Litauen - Referenden sind möglich, aber bei Fragen von nationalem Interesse nicht vorgeschrieben.
  • Luxemburg - Referenden sind möglich, aber nicht vorgeschrieben, wenn es um Fragen von nationalem Interesse geht.
  • Malta - per Gesetz kann ein konsultatives Referendum angesetzt werden.
  • Österreich - ein Referendum ist bei einer Änderung der Verfassung obligatorisch, ansonsten fakultativ.
  • Polen - Referenden sind möglich bei Fragen der Hoheitsgewalt und solchen von nationalem Interesse, vom Ergebnis her aber nicht bindend.
  • Portugal - Referenden sind möglich - bei einer Beteiligung von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten vom Ergebnis her auch bindend.
  • Schweden - Referenden können durch das Parlament beschlossen werden, sind aber vom Ergebnis her nicht bindend.
  • Slowakei - Referenden können durch das Parlament beschlossen werden, sind aber vom Ergebnis her nicht bindend.
  • Slowenien - Referenden sind möglich und vom Ergebnis her bindend.
  • Spanien - die Verfassung sieht keine Referenden über internationale Fragen vor.
  • Tschechien - das Parlament kann über die Abhaltung von Volksabstimmungen entscheiden, bindend sind sie nicht.
  • Ungarn - Referenden sind durch Initiative des Präsidenten oder des Parlaments möglich, aber nicht bindend.
  • Zypern - Referenden sind ohne Rechtsgrundlage.



Aus: Freitag 40, 24. September 2004


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