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"Die Zeit läuft"

EU will einen neuen Verfassungsvertrag auf den Weg bringen. Aber die Interessen der Mitgliedsländer driften stark auseinander

Von Andreas Wehr *

Die Uhr tickt«, so umschrieb der britische Guardian nach der Wahl von Nicolas Sarkozy die Situation in der EU. Bereits am Mittwoch wollen Angela Merkel und der neue französische Präsident Sarkozy die unter der deutschen Ratspräsidentschaft entworfene Roadmap hin zu einem überarbeiteten Verfassungsvertrag auf den Weg bringen. Geht es nach den Vorstellungen der deutschen Bundeskanzlerin sollen die Eckpunkte eines überarbeiteten Vertrages bereits in einem Auftrag an eine neue Regierungskonferenz enthalten sein, die im Herbst mit ihrer Arbeit beginnen kann. Diesen Vertrag sollen die nationalen Parlamente 2008 ratifizieren, so daß er mit den Wahlen zum Europäischen Parlament Mitte 2009 in Kraft treten kann.

Doch mit der Wahl von Sarkozy liegen nun auch die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Staaten klarer als zuvor auf dem Tisch. Beteiligt an diesem großen Spiel sind viele: neben Frankreich und den Niederlanden, in denen der Verfassungsvertrag in Volksabstimmungen abgelehnt wurde, vor allem Großbritannien, das dem gescheiterten Vertrag keine Träne nachweint, die Tschechische Republik, in der ähnlich wie im Vereinigten Königreich gedacht wird, und Polen, das sich mit seiner Zurücksetzung bei der Stimmrechtsverteilung nicht abfinden will. Und da ist natürlich die deutsche Bundesregierung, die am liebsten gar nichts am Vertrag ändern will, ist er doch den Interessen des deutschen Kapitals wie auf den Leib geschneidert. Der Ausgang des Spiels ist daher alles andere als gewiß.

Es war wieder einmal Anthony Blair, der die Zeichen der Zeit als erster erkannte. Noch bevor Sarkozy zu seinem Antrittsbesuch nach Berlin startet, saß der umtriebige Brite bereits auf dessen Sofa in Paris. Ausgelotet wurde, ob man eine gemeinsame Position gegenüber einem neuen Vertragsanlauf einnehmen könne. Den Briten geht es vor allem darum, im Rat künftig möglichst wenige Angelegenheiten per qualifizierter Mehrheit entscheiden zu lassen. Vor allem Fragen der Innen- und Rechtspolitik sollen herausgehalten werden.

Über die Frage des Beitritts der Türkei gibt es allerdings keine neue britisch-französische Entente Cordiale. Nicht allein Nicolas Sarkozy lehnt einen türkischen EU-Beitritt ab, die gesamte französische Rechte ist in dieser Frage seiner Meinung, etwa der Zentrist Giscard d’ Estaing. Und dies aus einem ganz einfachen Grund: Zählt – wie im Verfassungsvertrag vorgesehen – bei der Entscheidungsfindung vor allem die Bevölkerungsgröße der Länder, so wäre die Türkei zweitmächtigster Mitgliedstaat der EU, direkt nach Deutschland. Frankreich rückte weiter nach hinten. Da dort jede zukünftige Erweiterung in einem Referendum gebilligt werden muß, ist mit der Wahl von Sarkozy ein türkischer Beitritt nunmehr in unerreichbare Ferne gerückt. Blair, der das gerne anders hätte, hat denn auch schon in der britischen Financial Times vom 9. Mai erklären lassen, daß man sich über die Frage des Türkei-Beitritts mit der französischen Seite »einig sei, daß man sich nicht einig sei«. Mit der deutschen Kanzlerin wird Sarkozy hingegen darüber kaum in Streit geraten. Mit stiller Sympathie kann sie beobachten, wie der französische Präsident die Beitrittsverhandlungen irgendwann zu Fall bringt, so daß am Ende genau das steht, was sie und die CDU/CSU ja eh immer wollten: eine »privilegierte Partnerschaft«.

Wie realistisch ist nun das Vorhaben der Bundesregierung, so viel wie irgend möglich vom gescheiterten Verfassungsvertrag in einen neuen Vertrag hinüberzuretten? Mit den Niederländern glaubt man leicht fertig zu werden. Den Haag fordert mehr Rechte für die nationalen Parlamente sowie bessere Subsidiaritätskontrollen. Damit würde sich an den eigentlichen Entscheidungsstrukturen der EU aber nur Unwesentliches ändern. Viel wichtiger ist, daß die niederländische Regierung sich bereits darauf festgelegt hat, den neuen Vertrag nicht wieder einer Volksabstimmung auszusetzen. Die niederländischen Sozialisten sehen darin zu Recht »eine Beleidigung für jeden, der sich vor zwei Jahren am Referendum beteiligt hat«.

Was die widerspenstigen Polen angeht, so hat es der Zufall so gefügt, daß 2008 auch das Jahr der großen Revision des EU-Agrarhaushalts ist. Und auf Zahlungen aus diesem Topf ist das immer noch sehr agrarisch geprägte Land in besonderem Maße angewiesen. Man wird also in Berlin gelassen abwarten, wie ernst der polnische Widerstand in der Verfassungsfrage wirklich ist.

Ein ganz anderer Brocken ist da schon Frankreich. Das Non im Referendum zum Verfassungsvertrag ist hier weiter aktuell. Wird etwa die deutsche Bundesregierung nicht müde, die restriktive und wachstumsfeindliche Politik der Europäischen Zentralbank zu verteidigen, sieht man dies in Frankreich ganz anders. Im Wahlkampf rügte Sarkozy die EZB, »Inflation zu bekämpfen, wo gar keine ist«. Und zu ihrer Unabhängigkeit bemerkte er spitz: »Unabhängigkeit bedeutet nicht Gleichgültigkeit«. Die im Präsidentschaftswahlkampf von beiden großen Lagern aufgegriffene europaskeptische Haltung der Bevölkerung und die Herausstellung nationaler Symbolik hat denn auch eine reale Grundlage, die mit dem Wahltag nicht verschwand. Gehören das niederländische, österreichische und vor allem das deutsche Kapital zu den großen Gewinnern der EU-Osterweiterung, gilt dies für das französische nur sehr begrenzt. Verteuert der starke Euro generell die Exporte aus der Eurozone, so kommt das deutsche Kapital damit sehr viel besser als andere zurecht, da die Bundesregierung daheim einen rigiden Sozialabbau betreibt und zugleich ein ungeheurer Druck auf Lohn- und Arbeitsbedingungen ausgeübt wird. Maßnahmen, wie sie so in Frankreich nicht durchsetzbar sind. Gerieten französische Unternehmen wie Airbus und Air Liquide denn auch prompt auf dem Weltmarkt in Schwierigkeiten, konnten die deutschen Unternehmen hingegen Jahr auf Jahr Exportweltmeister werden.

Nun geht vor allem in der Bundesregierung die Angst um, daß aus den Wahlkampfparolen reale Politik wird. Der deutsche sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück widersprach denn bereits dem französischen konservativen Präsidenten in der Runde der europäischen Finanzminister: »Ich bin nicht der Meinung, daß die EZB an eine Leine genommen werden kann oder sollte.« Sein österreichischer Kollege Walter Molterer stieß ins gleiche Horn: »Kein Politiker sollte Druck auf die EZB ausüben. Die EZB ist eine unabhängige Bank.« Ähnlich ließ sich auch der niederländische Finanzminister Wouter Bos vernehmen. Die Financial Times schrieb am 8. Mai dazu: »Hinter dieser Rhetorik steckt in vielen europäischen Finanzministerien die Angst, Sarkozy könnte eine Veränderung der Satzung der EZB in Richtung von mehr Wachstumsorientierung im Austausch für eine Unterstützung der Wiederbelebung des europäischen Verfassungsvertrages verlangen.« Sollte diese Vermutung zutreffen, so hätte Angela Merkel ein Problem, und nicht nur sie. Dann wird wohl aus dem Verfassungsvertrag so schnell nichts mehr.

* Aus: junge Welt, 14. Mai 2007


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